Behütet wohnen
19.12.2022 GesellschaftSeit Mai schon lebt der 45-jährige Erlenbacher Peter Ramseyer bei der Familie Bach in Saanen. Er gehört zu den Menschen, welche durch eine Beeinträchtigung oder eine schwierige Lebenssituation nicht alleine leben und dank einer Vermittlungsstelle einen festen Platz in einer ...
Seit Mai schon lebt der 45-jährige Erlenbacher Peter Ramseyer bei der Familie Bach in Saanen. Er gehört zu den Menschen, welche durch eine Beeinträchtigung oder eine schwierige Lebenssituation nicht alleine leben und dank einer Vermittlungsstelle einen festen Platz in einer Gastfamilie gefunden haben.
SONJA WOLF
Ruhig und besonnen, aber doch mit einem jungenhaften Funkeln in seinen Augen zeigt mir Peter Ramseyer die Steinsammlung in seinem Zimmer, das er bei Familie Bach bewohnt. Er liebt die Natur über alles und hat die Steine auf seinen häufigen Hüttenwanderungen mit PluSport, Fachstelle für Behindertensport, gesammelt. An der Wand hängen seine Medaillen vom Schwimmen und anderen Wettkämpfen und am Schrank strahlen mir auf den angepinnten Fotos die Gesichter seiner Familie und seiner Freundin entgegen. Alles in seinem Zimmer wirkt ordentlich und aufgeräumt – so wie er selbst. Der 45-Jährige aus Erlenbach im Simmental scheint sein Leben trotz seiner Lernbeeinträchtigung sehr gut im Griff zu haben. Doch das war nicht immer so, wie er mir später erzählen wird.
Perfekte Symbiose
Aber zunächst einmal geht der Weg in den Stall. Fast schon enthusiastisch stürzen sich die Kälber auf ihn und lecken ihm liebevoll die Hände. Auch Peter Ramseyer freut sich sichtlich. Hier fühlt er sich wohl. Er übernimmt bei Bachs gegen ein kleines Taschengeld einen Teil der Kuhpflege und der Stallarbeiten. Man merkt, dass er bei seiner Gastfamilie wirklich angekommen ist, dass er sich bei ihnen zu Hause fühlt. «Ich bin gut aufgenommen worden bei Bachs. Ich konnte schon viel lernen bei ihnen. Manchmal fühle ich mich unterbeschäftigt: Ich könnte mehr machen als das, was sie mir auftragen. Manchmal müssen sie mich aber auch bremsen, damit ich nicht zu viel mache», so beschreibt er selbst das Zusammenleben und seine Aufgaben bei der Familie.
Gastgeber Markus Bach bestätigt: «Peter ist sehr selbstständig, er hat Freude mitzuhelfen. Er mag die Landwirtschaft und die Tiere und kommt gerne mit, wenn wir irgendwohin gehen müssen, zum Beispiel in ein anderes Tal zum Kühe Verkaufen. Er ist aktiv dabei, interessiert sich für alles.»
Standortgespräche bei Gipfeli und Kaffee
Ein perfekter Match, so scheint es. «Doch damit es so gut klappt wie bei Peter Ramseyer und dem Ehepaar Bach, braucht es einiges an Vorbereitung und an Organisation», erklärt mir Sarina Schönberg, Beraterin bei der WoBe AG, welche sich um Wohn- und Betreuungsangebote in Familien kümmert. Wir sitzen alle gemeinsam in der gemütlichen Wohnstube der Familie Bach bei Gipfeli und Kaffee. Die Beraterin präzisiert: «Die Palette der Gastfamilien ist breit gefächert. In der Regel kommen sie aus ländlichen Regionen, wir haben aber auch Familien im urbanen Umfeld.» Und auch bei den Gästen gebe es eine grosse Varietät vom leicht bis schwer kognitiv oder körperlich Beeinträchtigten über ältere Menschen bis hin zu Personen mit psychischen Erkrankungen. «Wird eine passende Zuordnung gefunden, können sich die potenziellen Mitbewohner zunächst einmal in einer Schnupperwoche kennenlernen», so Schönberg. In dieser Woche wird auch festgelegt, wie viel Betreuungsbedarf der Gast hat. Kann er oder sie alleine duschen? Alleine essen? Wie sind die sozialen Kompetenzen? Nach diesen Kriterien wird der Tagestarif für die Entlohnung der Gastfamilie bestimmt.
Ein unterstützendes Netz
Dank der anschliessenden sechswöchigen Probezeit wussten auch die Bachs, dass sie mit Peter Ramseyer gut zusammenleben können - und umgekehrt genauso. Nun kommt die Beraterin Sarina Schönberg nur noch etwa alle drei bis vier Monate zu einem Standortgespräch vorbei – es sei denn, eine spezielle Situation erfordert ein ausserordentliches Gespräch. Bei den Standortgesprächen geht es um Fragen wie etwa: Wie sind die letzten Monate gelaufen? Wie sieht die Tagesstruktur aus? Wie die Ferienplanung? Einmal pro Jahr ist auch die Beiständin von Herrn Ramseyer dabei, um zu besprechen, ob es mit den Finanzen klappt.
Doch das ist noch nicht alles. «Wir achten darauf, dass ein entsprechendes unterstützendes Netz vorhanden ist», so Sarina Schönberg. Ganz nach den individuellen Bedürfnissen des Gastes bekommt eine Gastfamilie regelmässig Hilfe durch die Spitex, die Psychiatriespitex, durch Psychologen oder Psychiater. Auch Peter Ramseyer. Der ist zwar ein sehr selbstständiger Gast, dennoch kommt die Spitex regelmässig zur Fusspflege vorbei und auch jemand von der Psychiatriespitex bespricht mit ihm alle 14 Tage allfällige Probleme – am besten bei einem Spaziergang in der Natur, so wie er es liebt.
«Kein Bund fürs Leben»
Und wenn es trotzdem einmal gar nicht klappen sollte mit dem Zusammenleben? Auch das ist bei Markus und Bettina Bach schon vorgekommen, einige Jahre vor ihrem aktuellen Gast. Zwar ist das Ehepaar daran gewöhnt, mit anderen Menschen zusammenzuleben: Sie hatten früher regelmässig Pflegekinder im Haus, Zimmer an Lernende aus dem Unterland vermietet und nun nehmen sie bereits seit vier Jahren Personen über die WoBe AG auf: «Einmal jedoch hatten wir einen jüngeren Mann, der schwer kognitiv beeinträchtigt war. Da waren wir schlicht und einfach überfordert», berichtet Bettina Bach. Und ihr Mann ergänzt ganz pragmatisch: «Es ist ja kein Bund fürs Leben. Es muss beiderseits stimmen.» In solchen Fällen sucht die WoBe AG mit den involvierten Personen schnellstmöglich nach einer Anschlusslösung, entweder in einer neuen Gastfamilie oder in einem anderen Setting. Wenn sich auf sofort keine Anschlusslösung findet, ist manchmal auch ein vorübergehender Klinikaufenthalt nötig.
Bei Stress rotgesehen
Auch Peter Ramseyer war neben vielen Familienaufenthalten bereits zweimal vorübergehend in einer Institution untergebracht. In seiner ruhigen und analytischen Art zählt er einschliesslich der genauen Daten alle Unterbringungsstationen in seinem bisherigen Leben auf – und zieht Bilanz: «Wenn zu viele Leute um mich herum sind, fühle ich mich unter Druck. Auch war ich im Heim immer unter Zeitdruck. Zu einer bestimmten Zeit musste man etwas Bestimmtes parat haben. Wenn ich alleine bin, weiss ich dagegen genau, was ich zu tun habe und kann mir die Zeit auch besser einteilen.» Offen erzählt er auch von einigen physischen Ausrastern, die er damals in solchen Stresssituationen hatte. Doch er hat gelernt, wie er in seelischem Frieden leben kann: Es gilt, den Stress in seinem ursprünglichen Beruf als Küchenhilfe zu vermeiden, ebenso wie das Zusammenleben mit vielen anderen Personen, wie es in Heimen oder grösseren Wohngemeinschaften der Fall ist. «Ich fühle mich wohl, wenn ich draussen in der Natur bin», resümiert er. Und augenscheinlich in einem überschaubaren Wohnfeld wie beim Ehepaar Bach.
Physische Ausraster jedenfalls kann man sich bei dem sympathischen, ruhigen 45-Jährigen nicht mehr vorstellen. Er hat seine Art zu leben gefunden. Am Wochenende geht er mit Bachs in den Gottesdienst oder an Veranstaltungen – an der Gstaader Messe war er schon oder an der Topschau Lauenen. Jedes zweite Wochenende geht er zu seiner Partnerin, seinen Eltern oder in eine andere Gastfamilie, als Entlastung für die Bachs und auch für ihn selbst.
Doch nun möchte er wieder in den Stall zu seinen Kälbern: Die Arbeit ruft!
ORGANISATIONEN, DIE GASTFAMILIEN VERMITTELN
für Personen in schwierigen Lebenssituationen, die nicht alleine wohnen können oder wollen:
- WoBe AG: Wohn- und Betreuungsangebote in Familien, wobeag.ch
- SoWohnen: Psychiatrische Familienpflege der Universitären Psychiatrischen Dienste Bern, upd.ch/de/angebot/erwachsenenpsychiatrie/sowohnen-psychiatrische-familienpflege.php
- spib: Verband der professionell arbeitenden sozialpädagogischen Kleininstitutionen im Kanton Bern, spib.ch
- LuB: Stiftung Landwirtschaft und Behinderte, lub.ch
- Verein Carefarming Schweiz, carefarming.ch
- Projektalp, projektalp.ch
WOBE AG
Die WoBe AG wurde am 4. Dezember 2018 als 100%-ige Tochter der Oekonomischen Gemeinnützigen Gesellschaft Bern (OGG) gegründet. Das Konzept besteht aber schon länger: Bereits 1998 entstand das «Betreutes Wohnen in Familien» aus einem für die OGG Bern typischen Projekt. Im Fokus standen ursprünglich ältere alleinstehende Menschen, die den Familienanschluss einem Altersheim vorzogen. Die zuweisenden Stellen merkten bald, dass bestimmte Klientinnen und Klienten positiv auf dieses Umfeld reagierten – weshalb das Angebot auf Betreuungsbedürftige ab 18 Jahren erweitert wurde. 2016 kam schliesslich das Angebot der betreuten Tagesstrukturen in der Landwirtschaft hinzu.
Um für die zukünftigen Herausforderungen besser aufgestellt zu sein, wurden die Angebote «Betreutes Wohnen in Familien» und «Tagesstrukturen Landwirtschaft» aus der OGG ausgegliedert und in die gemeinnützige Aktiengesellschaft WoBe überführt.
Heute werden im Kanton Bern in rund 160 Gastfamilien etwa 80 Dauergäste und viele Ferien- und Wochenendgäste sowie Tagesgäste aus der ganzen Schweiz betreut.
QUELLE: WOBEAG.CH