BLICK IN DIE WELT

  26.08.2022

Eine Reise nach Ost-Berlin (Teil 2)

Im 1. Teil der «Reise nach Ost-Berlin» in der Ausgabe vom 29. Juli berichtete Oswald Sigg, wie er als damaliger Redaktionsleiter der Schweizerischen Depeschenagentur im Jahr 1989 nach Berlin fuhr. Er wollte dort unter anderem dem Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienst der ehemaligen DDR einen Besuch abstatten.

Wir – Generaldirektor Pötschke und ich – sitzen nun an einem kleinen Tisch in einer Ecke des unterirdischen Büros im ADN-Gebäude an der Mollstrasse 1 in Ost-Berlin am 18. November 1989 … wenige Tage nach dem Fall der Mauer. «Hätte die SED auf Mahner und Einsichtige gehört, wäre das alles nicht passiert», erzählt der schmächtige Pötschke, und wischt sich mit dem Handrücken die Schweissperlen vom Gesicht. Er ist ein paar Jahre älter als ich und sitzt in seiner Eigenschaft als Chef des staatlichen ADN (Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst) zugleich auch im Zentralkomitee der SED – mithin im führenden Organ der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands.

Er hat mich schon davor gewarnt – das Telefon auf seinem Pult klingelt andauernd. Er hebt den Hörer ab und kehrt mir den Rücken zu. Vom kurzen Gespräch, das er in missmutigem Tonfall führt, bekomme ich ohnehin nichts mit. «Es war Modrow», sagt Pötschke danach mit einem rätselhaften Lächeln. Vor ein paar Tagen war Hans Modrow zum Vorsitzenden des Ministerrats der DDR gewählt worden. Pötschke erzählt, dieser Modrow sei seit Kurzem sein Chef. Denn der ADN werde nun direkt dem Ministerratspräsidenten unterstellt. Dieser bestimme jetzt, was über den Fernschreiber gesendet werde. Das sei umso nötiger, als da oben – grimmig zeigt er mit der rechten Hand zur Bunkerdecke – die reine Anarchie herrsche. Aber die Revolution käme von unten, von der Strasse, und wie das ausgehe, wisse niemand. Seit diesem Sommer habe sich die Flucht aus der DDR verstärkt.

Und doch: Bisher habe man Schwein gehabt, denn Egon Krenz – der Nachfolger Erich Honeckers – habe am 8. Oktober 1989 bei der ersten Grossdemonstration mit dem Einsatz der Volkspolizei und der Volksarmee Schlimmeres verhindert. In der heiklen Situation habe auch der ADN von einem Tag auf den andern seine Berichterstattung objektiviert. Sein Haus, so Pötschke, berichte jetzt nach den Regeln westlicher Agenturen.

In meinen Aufzeichnungen folgen nun merkwürdige Passagen. Etwa: «Der Mann scheint sich die Seele vom Leib zu sprechen … er offenbart sich, sagt, er sei keiner jener ‹Wendehälse›. Er wartet die Entscheidung des Ministerrats ab, ob er im Amt bleiben darf oder nicht.»

Oder: «Er bekennt sich, auch gegenüber seiner Redaktion, für schuldig, dass er nie den Mut aufgebracht habe, Nein zu sagen und obrigkeitliche Texte nicht mehr zu verbreiten. Dies hätte die berufliche Eliminierung bedeutet. Aber er hat offenbar auch intern erhebliche Kritik gegenüber den Zumutungen der SED geübt, sodass er von seiner Redaktion einen ‹Vertrauensbeweis› erhalten habe, der ihn zur Fortsetzung seiner Aufgabe motiviere.»
Nach einer guten Stunde wünschen wir uns gegenseitig viel Glück.

Auf dem Rückweg und noch in Ost-Berlin prangt an einem Zeitungskiosk ein Aushang des «Neuen Forums» die Schlagzeile: «Wer die Wiedervereinigung will, ist verrückt.» Die Konkurrenz «Stimme der DDR» ist etwas blumiger: «Kein Ausverkauf der DDR an Coca-Cola, McDonalds, Thyssen.» Hunderttausende von Menschen aus dem Osten wälzen sich durch West-Berlin. Sie frönen dem Konsum im Westen. Es sind nicht glückliche Gesichter, auf die man dabei trifft. Eher scheint es müde Hilflosigkeit zu sein, die mit der urplötzlichen Entdeckung des Kapitalismus verbunden ist.

30 Jahre später ruft mich der SRG-Journalist Peter Voegeli an. Er möchte eine Sendung über den Fall der Mauer machen und ich erzähle ihm auch von meiner Begegnung mit dem ADN-Chefredaktor – dessen Name mir inzwischen entfallen ist. Wir vereinbaren einen Interviewtermin für den nächsten Tag.

Im Internet findet man dann nicht allein seinen Namen. Vielmehr soll Günter Pötschke ein «Mitauslöser» des Mauerfalls gewesen sein. Ein Korrespondent der italienischen Nachrichtenagentur ANSA gab zu Protokoll, vermutlich sei es Pötschke gewesen, der ihm den Tipp gegeben habe, an der Pressekonferenz von SED-Funktionär Günter Schabowski vom 9. November 1989 diesen zu fragen, wann das neue Reisegesetz in Kraft trete. Die Antwort lautete: «Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.»
Und alsbald begann das Ende des Kalten Krieges.

OSWALD SIGG JOURNALIST, EHEMALIGER BUNDESRATSSPRECHER

oswaldsigg144@gmail.com


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