Christentum in Israel/Palästina: palästinensische Theologie im aktuellen Kontext
30.06.2023 KircheReise nach Israel/Palästina vom 24. April bis 5. Mai 2023
Im Rahmen unserer Kirchgemeindereise hatten wir durch unseren israelischen Guide Karl die Möglichkeit, Einblick in die israelische Sichtweise auf den Konflikt zu erhalten. Schon bald kam der Wunsch auf, auch ...
Reise nach Israel/Palästina vom 24. April bis 5. Mai 2023
Im Rahmen unserer Kirchgemeindereise hatten wir durch unseren israelischen Guide Karl die Möglichkeit, Einblick in die israelische Sichtweise auf den Konflikt zu erhalten. Schon bald kam der Wunsch auf, auch die palästinensische Seite zu hören. Am Samstag, 29. April wurden wir während eines ganzen Tages von den beiden christlichen Palästinensern Kamal und Kadra geführt. Sie erzählten uns viel über ihr Leben als Christen in einem A-Gebiet des Westjordanlandes und wir wurden sogar eingeladen, bei ihnen zu Hause zu Mittag zu essen.
Dieser Tag war sehr aufwühlend und es tauchten danach viele Fragen an mich als Tourleiterin auf. Alle konnte und kann ich nicht beantworten – allerdings hielt und verschriftlichte ich während meines Theologiestudiums im ökumenischen Institut Bossey ein Referat mit dem Titel «Autochtones Christentum in Israel/Palästina». Daraus verwende ich Auszüge für diesen Artikel (den ausführlichen Reisebericht zur Kirchgemeindereise finden Sie auf Seite 10).
Geschichte des Christentums im Nahen Osten
Der Nahe Osten ist die Geburtsstätte der drei grossen monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam. Diese Religionen haben die Region geprägt und ihre Geschichte gestaltet.
Das Christentum im Nahen Osten war schon in frühester Zeit eine Minderheit, die im siebten Jahrhundert unter islamische Herrschaft geriet. 1516 wurde das Gebiet des heutigen Israel-Palästina zu einem Teil des Osmanischen Reiches. Das Reich verstand sich selbst als klar islamisch und der Sultan sah sich als rechtmässigen Nachfolger des Kalifen. Die Christen waren zwar geduldet, fanden ihren Platz aber mehr und mehr nur noch in den sogenannten Millets. Ein Millet war so etwas wie ein geschützter Raum, in dem die Christen ihrer Religion nachgehen und in ihrer eigenen Sprache sprechen konnten. Daneben hatten sie keine Möglichkeit, auf die Politik Einfluss zu nehmen und lebten in gettoähnlichen Milletgemeinschaften.
Die zunehmende Schwächung «des kranken Mannes am Bosporus», des Osmanischen Reichs, veränderte die Situation im Nahen Osten. Das Reich wurde als rückständig empfunden und gerade die Christen forderten eine Säkularisierung des Staates mit gleichen Rechten für alle Bürger – egal, welcher Religion. Mit dieser Einstellung waren sie aber in der islamischen Welt auf verlorenem Posten. Eine Trennung von Islam und Staat war für die Bewohner im Nahen Osten nicht akzeptabel.
Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde alles anders: Das Gebiet des früheren Osmanischen Reiches wurde 1917 unter westliche Kontrolle gestellt (England und Frankreich). Mit der Balfour-Deklaration vom 2. Noveber 1917 bekräftigte Grossbritannien die Absicht, eine jüdische Heimstätte im Nahen Osten zu errichten.
Von der Peel-Kommission wurde im Jahr 1937 ein erster Teilungsplan vorgelegt. Galiläa und ein Küstenstreifen sollten jüdisch sein, der restliche, viel grössere Teil arabisch. Der Teilungsplan wurde von der arabischen Welt abgelehnt. Einen weiteren Teilungsplan verabschiedeten die Vereinten Nationen am 29. November 1947: Jerusalem unter internationaler Verwaltung. Die jüdische Seite stimmte auch diesem Teilungsplan zu, die arabische nicht.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die meisten arabischen Kleinstaaten unabhängig. An eine Einführung von Demokratie war aber nicht zu denken. In fast allen Staaten gab es eine einzige Partei und jegliche Opposition war verboten.
Am 14. Mai 1948 rief David Ben-Gurion den Staat Israel aus. Die arabische Liga erklärte Israel umgehend den Krieg. Das im Teilungsplan vorgesehene palästinensische Staatsgebiet schrumpfte. Das Westjordanland und Ostjerusalem wurden von Jordanien besetzt – der Gazastreifen von Ägypten. Mit dem Sechs-Tage-Krieg wurde das Westjordanland und der Gaza-Streifen durch Israel besetzt und das israelische Selbstvertrauen verstärkte sich. Auf der arabischen Seite stieg die Wut und Aggression gegen Israel in gleichem Masse.
Die Auseinandersetzungen gehen bis zum heutigen Tag weiter. Und seit dem 16. Juni 2002 wird wieder eine Mauer errichtet zwischen Menschen …
Bibelauslegung im israelischpalästinensischen Kontext
Was machen die palästinensischen Christen mitten in diesem Konflikt? Eine eigene fundamentalistische Bewegung gründen? Weiterhin einen säkularen Staat fordern? Eine ganz neue kontextuelle Theologie musste sich im Heiligen Land entwickeln.
Die Bibel wurde im Nahen Osten traditionell allegorisch ausgelegt. Das Alte Testament war für die palästinensischen Christen voll von Hinweisen auf Jesus Christus. Dass das Alte Testament die Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel erzählt, störte die Palästinenser nicht.
Mit der Theologie nach Auschwitz, die im Westen stark vorangetrieben wurde, entfernten sich die westlichen Christen immer mehr von den Christen im Nahen Osten. Die arabischen Christen wurden nicht in die Gespräche einbezogen und beanstandeten eine projüdische und israel-unkritische Haltung der westlichen Theologen dieser Zeit.
Mit der Gründung des Staates Israel gewann das Alte Testament auch für die palästinensischen Christen an politischem Gewicht. Das Alte Testament wurde als Legitimation für die Landnahme im Nahen Osten und die Kriege mit den Nachbarn gebraucht. Plötzlich war Israel nicht mehr das Israel aus der Bibel, sondern die Besatzungsarmee im eigenen Land.
Aus diesem Grund beziehen sich die palästinensischen Christen sehr direkt als Angehörige eines semitischen Volkes auf den Urvater Israels, Abraham. Sie sehen ihre gemeinsamen Wurzeln mit dem Judentum.
Ihre kontextuelle palästinensische Theologie will es sich zur Aufgabe machen, die drei abrahamitischen Religionen zu vergleichen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten und Lösungsansätze für ein friedliches Miteinander zu finden. In der heutigen Zeit spricht die Bibel sie gerade dadurch direkt an, weil sie ein Buch der Verfolgten, der Unterdrückten und der Armen ist. Sie sehen sich als genau so erwählt, wie das jüdische Volk, da wir als Christen alle zum Volk Gottes gehören, gemäss dem Ölbaumgleichnis aus Römer 11. Erwählung muss aber immer ein Zuspruch Gottes bleiben und darf nicht zum Anspruch eines Volkes werden.
Gerade die palästinensischen Christen sind mit dem Gebot der Feindesliebe dazu aufgefordert, positiven Einfluss im Konflikt zu nehmen. Alle Menschen sind gemäss unserem Glauben nach dem Ebenbild Gottes geschaffen. Das heisst, dass mit den Mitmenschen – auch mit Feinden – respektvoll umgegangen werden muss.
1987 wurde im Al-Liqa’-Zentrum ein ökumenisches Grundsatzdokument verfasst, das in seiner Wichtigkeit für die kontextuelle palästinensische Theologie gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Die bis anhin verfeindeten palästinensischen Kirchen verfassten zusammen ein Dokument, das in eine friedliche Zukunft führen möchte. Die Unterschiede der Kirchen sollen auch weiterhin bestehen bleiben, aber sie wollen zusammenstehen und gemeinsam als Christen und Christinnen Zeugnis ablegen in ihrem Kontext. Gemeinsam rufen sie auf zu einem Frieden, der Gerechtigkeit für das palästinensische Volk bringt.
Zitat Mitri Raheb: «Kritik am Staat Israel muss auch immer selbstkritisch sein. Dies ist nur möglich, wenn das Gewissen durch Glauben geschärft und die Vernunft von Liebe geleitet werden.»1
Schlusswort
Als wir zusammen mit Kamal auf dem Herodion standen und er uns von der Situation der christlichen Palästinenserinnen und Palästinenser erzählte, betonte er immer wieder, wie wichtig ein gemeinsames Hinarbeiten auf den Frieden für die Region sei. Ich stimme mit ihm vollkommen überein und bewundere die Kraft und Energie, die er und seine ganze Familie in die Friedensarbeit investieren. Es gibt keine andere Lösung als eine gemeinsame!
Zum Schluss sagte Kamal dort, mit dem Blick vom Toten Meer bis zum Ölberg: «Ich möchte nicht, dass Israel von hier verschwindet – bis zum Jüngsten Tag nicht. Aber ich möchte auch nicht, dass Palästina verschwindet – bis zum Jüngsten Tag nicht.»
Dem gibt es nichts mehr hinzuzufügen.
Wer den ganzen Essay lesen möchte, kann ihn bei Marianne Kellenberger, Tel. 033 744 14 28 bestellen.
1 Raheb Mitri, S. 110.
Literaturverzeichnis:
– Bechmann Ulrike, Die Verkündigung Gottes in der Erfahrung der Menschen, eine kurze Einführung in die kontextuelle palästinensische Theologie. In: Bechmann Ulrike und Raheb Mitri (Hrsg.). «Verwurzelt im Heiligen Land». Frankfurt am Main 1995.
– Fuchs Ottmar, Kontextuelle Theologie: verwurzelt im Lebens- und Leidenszusammenhang der Kulturen. In: Bechmann Ulrike und Raheb Mitri (Hrsg.). «Verwurzelt im Heiligen Land». Frankfurt am Main 1995.
– Gräbe Uwe, «Clash of Civilizations oder Koexistenz?» In: Enns Fernando, Hailer Martin, Link-Wieczorek Ulrike (Hrsg.). «Profilierte Ökumene. Bleibend Wichtiges und jetzt Dringliches». Festschrift für Dietrich Ritschl. Frankfurt a.M. 2009.
– Raheb Mitri, «Ich bin Christ und Palästinenser. Israel, seine Nachbarn und die Bibel». Gütersloh 1994.