Das Publikum wollte Sokolov nicht gehen lassen
12.08.2022 KulturSechs Zugaben gewährte der russische Pianist Grigory Sokolov nach langem, endlos anhaltendem Applaus seinem begeisterten Publikum in der Kirche Saanen. Das Klavierrezital vom Dienstag dürfte als historisches Ereignis in die Geschichte des Menuhin Festivals eingehen.
LOTTE BRENNER
Sensationell, wie der 72-jährige Meister nach dem an sich schon anspruchsvollen Programm noch eine Stunde lang sechs russische Kompositionen spielte und so unermüdlich, fast wie selbstverständlich, das Konzert um eine ganze Stunde erweiterte. Selbst nach einem unmissverständlich endgültigen Abschied dröhnte der Beifall noch minutenlang nach.
Wiederum war die Kirche Saanen bis auf den allerletzten Platz ausverkauft – umso erstaunlicher, als andere kulturelle Events nach der pandemiebedingten Pause ihr Publikum nur mühsam, teils ungenügend zurückerobern können. Doch das hochkarätige Programm des Menuhin Festivals, im Zeichen von Wien und Beethoven, zieht Musikliebhaber von überall her an.
Er und das Klavier
Wie schon im Programmheft vermerkt, arbeitet Sokolov mit dem Klaviertechniker zusammen und legt grossen Wert auf die Intonierung seines Instruments. Das heisst, er tüftelt und forscht minutiös nach dem bestmöglichen Klang. Jeder Ton muss nicht nur rein, sondern auch schön sein. Und genau diese Liebe zur Klangperfektion und die persönliche Beziehung zum Instrument kommt in seinem Spiel zum Ausdruck.
Mit stoischer Ruhe sitzt Sokolov am wundervollen Steinway-Flügel und spielt, tief in die Musik versunken, vom zartesten Adagio bis zu wilden Gemütsausbrüchen kontrastreich und mit illustrativen Akzenten. Sein Spiel ist kraftvoll, seine Betonungen prägnant, doch frei von jeglicher Effekthascherei. Er und sein Instrument sind einfach nur Musik.
Themenreiches Programm
Mit den drei wohlbekannten Klavierstücken, «Eroica-Variationen» von Ludwig van Beethoven, den drei Intermezzi von Johannes Brahms und der «Kreisleriana» von Robert Schumann, versprach das Programm einen themen- und charakterreichen Klavierabend. Gleich zu Beginn zieht Beethoven die Zuhörer in den Bann seiner «Eroica-Variationen». Nach einem lang gezogenen Fortissimo-Akkord folgt ein Pianissimo, das durch heftige Akzente durchbrochen wird. Die 15 Variationen sind dann sehr unterschiedlich – frisch, heiter, doch auch leidenschaftlich in Moll, so etwa in der sechsten Variation. Der Fugensatz in Es-Dur rundet schliesslich das Ganze ab. Nochmals kommt die Bassstimme aus der Einleitung zum Zug, nochmals erscheint das Hauptthema. Trillernd und sehr bewegt endet die grossartige Klavierkomposition. Mit den drei Intermezzi op.117 von Brahms kehrt eine wohltuende Ruhe ein – leise und sanft. Das dritte, rhythmisch sehr interessante Intermezzo in cis-Moll beginnt sogar fast wie ein Trauermarsch. Sokolov interpretierte diese drei Brahms-Stücke einfach erschütternd schön.
Die «Kreisleriana», acht Fantasien, op. 16 von Robert Schumann wühlen unterschiedlichste Gefühle auf. Auf dem Titelblatt seines Werkes legte Schumann seiner Komposition das unvollendete Werk «Lebensansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biografie des Kapellmeisters Johannes Kreisler» des Dichters E.T.A. Hoffmann zugrunde. Hoffmann sollte nach des Dichters Plan im Wahnsinn enden: eine Parallele zu Schumanns Biografie. Nur dass der Komponist beim Schreiben der «Kreisleriana» davon noch nichts ahnte. In überschwenglicher Romantik wechseln sich Stimmungen ab, mal heiter unbeschwert, mal niedergeschlagen, schmerzlich, traurig durchzogen.
Russische Klaviermusik
Eigentlich hätte sich Grigory Sokolov nach diesem anspruchsvollen Rezital fehlerfrei mit einer kurzen Dankeschönzugabe verabschieden dürfen. Aber unerbittlich heischte das Publikum nach mehr. Und der Maestro fügte tatsächlich ein zweites Konzert an. Sechs Zugaben von russischen Komponisten: Präludien op. 23 Nr. 2,4,9 und 10 von Sergej Rachmaninoff (1879–1943), das Präludium op.11 Nr. 4 von Alexander Nikolajewitsch Skrjabin (1872– 1893) und das Präludium in h-Moll von Bach/Siloti (Alexander Iljitsch Siloti 1863–1945). Alle drei Komponisten waren Klaviervirtuosen und stark von Chopin beeinflusst. Die Kunst des Klavierspiels prägt die russische Kultur.