Hier folgt kein normaler «Blick in die Welt», sondern ausnahmsweise ein «Blick vor die Haustür».
Mit meiner Frau wohnen wir seit dem letzten Jahrhundert in Bern. Aber in einem ganz besonderen Quartier, nämlich in der Berner Matte.
Um 1160 wurde die ...
Hier folgt kein normaler «Blick in die Welt», sondern ausnahmsweise ein «Blick vor die Haustür».
Mit meiner Frau wohnen wir seit dem letzten Jahrhundert in Bern. Aber in einem ganz besonderen Quartier, nämlich in der Berner Matte.
Um 1160 wurde die Stadt Bern gegründet. Die Matte wurde erstmals 1327 offiziell erwähnt. Das Quartier an der Aare war dann während langer Zeit ein Durchgangsviertel, mit der Untertorbrücke als einzigem Aareübergang. Die Matte war das Hafenviertel der Stadt Bern. Hier arbeiteten Fischer und Fuhrleute, Schiffer und Flösser. 1353 wurde die Siedlung in die Stadtbefestigung einbezogen und 1360 an die Stadt Bern verkauft. Zwischen der Wasserwerkgasse auf dem Inseli, wo wir wohnen, und der Aare verläuft der Tychkanal. Auf dem Inseli befand sich bis 1880 das Inselibad, seinerzeit eines von mehreren Bädern in der Matte. Einige dieser Bäder waren damals auch Bordelle und so war ihr Ruf und natürlich auch derjenige der Matte berüchtigt. Während des 19. Jahrhunderts verkam die Gegend um die Badgasse und die neu erbaute Aarstrasse denn auch zum schlimmsten Elendsviertel der Stadt Bern.
Aber heute ist die Matte ein kleines, schönes und fröhliches Quartier von Bern.
Warum? Weil es hier – am Aare-Südhang – meistens locker und fidel zu und her geht. Hier unten gibt es schon nur fünf verschiedene Wirtschaften und Restaurants, darunter das 430 Jahre alte Fischerstübli. Sodann ein Theater, drei Coiffeursalons, den Matteladen, einen Velomechaniker, zwei Kindergärten und zwei Schulhäuser samt Turnhalle und Sportplatz. Schliesslich findet man in der Matte das erste Elektrizitätswerk Berns. Es wurde 1891 gebaut und es bekam die Aufgabe, das neu erbaute Bundes-Rathaus (heute Bundeshaus West) zu erleuchten. Den Strom konnte man auch gut gebrauchen für den seit 1897 bestehenden elektrischen Liftbetrieb zwischen der Matte und der Münsterplattform. Noch heute fährt der Matte-Lift täglich und unermüdlich Passanten, Touristen, Mätteler und Berner, Parlamentarierinnen und Bundesräte, Mechaniker und Bauarbeiter, Mütter und Väter samt Kinderwagen rauf und runter. Bis noch vor ein paar Jahren wurden die Fahrgäste von einem Liftboy begleitet, der während der kurzen Fahrt die Billette kontrollierte. Erst vor ein paar Jahren wurde der von einer privaten Aktiengesellschaft betriebene Matte-Lift als Teil des öffentlichen Verkehrs anerkannt, sodass man den Aufzug auch mit dem SBB-GA benutzen kann.
Doch in der Berner Matte ging es nicht immer nur mit rechten Dingen zu und her. Im 16. Jahrhundert entstand mit den Täufern eine starke Bewegung gegen die Reformation. Im schweizerischen, elsässischen und süddeutschen Raum wollten die frommen Täufer das «wahre Christentum» retten. Deswegen wurden in der Matte am Aareufer nicht wenige dieser Täufer ertränkt, nur weil sie Gleichheit statt absoluter Herrschaft von Kirche und Staat forderten. Das reichte damals aus für die Todesstrafe.
Zu guter Letzt sei noch auf eine – vielleicht sogar weltweit – einzigartige Institution hingewiesen, die man heute wohl nur in der Berner Matte findet: nämlich die MattePostBrocki. Sven Fäh, der Chef der Matte-Post, ist ein Künstler. Seine Kunst besteht in der einzigartigen Kombination einer Sammlung ausgesuchter Antiquitäten mit einer Poststelle. Bei ihm werden somit nicht nur Päckli aufgegeben und Briefmarken gekauft. Nur als Beispiel: Meine letzten beiden Ankäufe in der MattePostBrocki waren ein ca. 70-jähriges Schulbuch für den staatsbürgerlichen Unterricht sowie eine neuwertige Schreibmaschine der Kultmarke «Hermes Baby». Und manchmal vermeide ich den ziemlich weit entfernten Postomat und hebe Geld von meinem Postfinancekonto in der Matte-Post ab. Das Geld bewahrt Sven an einem vor Überfällen gesicherten Ort auf. Ohnehin käme es keinem Verbrecher dieser Welt in den Sinn, hier ein wenig Geld zu suchen. Hier, in diesem exklusiven Kunstwerk in der Berner Matte.
OSWALD SIGG
JOURNALIST, EHEMALIGER BUNDESRATSSPRECHER oswaldsigg144@gmail.com