Die heilende Kraft der Pferde
19.01.2024 LeserbeiträgeHippotherapie kann bei Menschen mit besonderen Bedürfnissen die Entwicklung von emotionaler Intelligenz, Mut und zwischenmenschlichen Fähigkeiten fördern. Ein Besuch bei Carine Morier-Genoud und ihren Pferden in Gérignoz.
Es ist ein kalter ...
Hippotherapie kann bei Menschen mit besonderen Bedürfnissen die Entwicklung von emotionaler Intelligenz, Mut und zwischenmenschlichen Fähigkeiten fördern. Ein Besuch bei Carine Morier-Genoud und ihren Pferden in Gérignoz.
Es ist ein kalter Januarmorgen, und Dampf entweicht aus den Nüstern der Pferde, die sich ruhig um den Futtertrog versammeln. Pferdetherapeutin Carine Morier-Genoud kommt dazu, fröhlich und lächelnd. Wir lernen die Herde kennen. Lili, eine junge Freiberger Stute, begrüsst uns wie ein Labrador, legt ihren Kopf auf unsere Schulter und bettelt darum, gestreichelt zu werden. Etwas entfernt bleibt Abi, ein irisches Rassepferd, für sich allein. Sie hatte kein einfaches Leben, bevor sie zu dieser kleinen Familie von vier Pferden kam. Jedes von ihnen hat eine ganz eigene Persönlichkeit. Vielleicht liegt das daran, dass sie nach ihren eigenen Bedürfnissen leben. Sie können sich frei zwischen dem Stall und der Weide bewegen, in Gruppen, und bekommen nach Belieben Heu. Diese paradiesischen Zustände sind das Herzstück der Philosophie der Therapeutin: «Damit die Therapie mit Pferden einen Sinn hat, müssen sie Lebensbedingungen haben, die ihrer tiefsten Natur so nahe wie möglich kommen. Dann haben wir es mit einem Wesen zu tun, das sich auf seinen Hufen wohlfühlt. Nur dann können wir eine authentische Beziehung zu diesem majestätischen Tier erleben.»
Heilung von Menschen durch das Wohlbefinden von Pferden
Ihre Methode ist von der Arbeit des humanistischen Psychologen Carl Rogers inspiriert, die den Patienten dazu bringen soll, sich seiner Bedürfnisse, seines emotionalen Zustands und seiner Beziehungen zu anderen bewusst zu werden. Carine arbeitete in ihrer Praxis, bevor sie in den Pferden ideale Verbündete fand. «Das Pferd wird immer zu seinem eigenen Wohl handeln, wenn es sich in einer Umgebung befindet, die ihm dies ermöglicht. Wenn es dagegen mit Unbehagen konfrontiert wird, wird es lieber gehen», erklärt sie. «Als natürliches Beutetier ist es immer aufmerksam auf äussere Reize, bleibt aber gleichzeitig extrem verankert und bei sich selbst. Wenn also jemand zu ihm kommt, kann das Pferd dessen emotionalen Zustand sofort spüren. Wenn die Person gestresst oder aufdringlich ist, wird der Kontakt schwierig sein. Wenn jemand hingegen Schwierigkeiten hat, seine Bedürfnisse auszudrücken, und in seinen Gedanken verhaftet ist, wird das Pferd dies ausnutzen und so handeln, wie es ihm gefällt.» Infolgedessen konfrontiert die Beziehung zu diesem Tier den Menschen mit mehreren Problemen, die ihn daran hindern, wie gewohnt weiterzumachen. Dank dieser Kenntnisse kann der Therapeut dann in der Praxis und mit den Pferden an der Situation arbeiten.
Eine Therapie mit erstaunlichem Nutzen
Die Hippotherapie soll bei Beziehungsproblemen, mangelndem Selbstvertrauen, posttraumatischem Schock und Depressionen sowie bei der Verbesserung des Wohlbefindens von Menschen mit motorischen oder geistigen Behinderungen helfen. Bei Kindern und Menschen mit besonderen Bedürfnissen hilft das Pferd, das Nervensystem zu beruhigen und die Konzentration wiederherzustellen. «Ihr Herzschlag mit dem besonderen Rhythmus hat eine entspannende Wirkung. Ausserdem erfordert dieser Moment des Austausches die volle Aufmerksamkeit für das Tier. Manchmal erleben junge Menschen mit Aufmerksamkeitsdefiziten zum ersten Mal einen Zustand der totalen Präsenz. Das ist sehr positiv, denn dieser Zustand lässt sich auch in anderen Situationen reproduzieren», sagt Carine. Wenn es um die Arbeit mit gefährdeten Menschen geht, zeigen Pferde eine erstaunliche Anpassungsfähigkeit: «Sie wissen genau, mit wem sie es zu tun haben. Wenn sie mit einem motorisch behinderten Kind konfrontiert werden, das seine Bewegungen nicht kontrollieren kann, sind sie sehr geduldig und zeigen keinerlei Anzeichen von Unmut. Wenn man sie dagegen mit einem Menschen mit einem übersteigerten Ego konfrontiert, der laut redet und gestikuliert, ist das eine andere Sache», lacht sie.
Eine pferdefreundliche Haltung
Wenn Carine sich um ihre vierbeinigen Gefährten kümmert, dann deshalb, weil diese Tiere sie schon immer fasziniert haben. Sie ist im Jura aufgewachsen, wo Pferde in Herden praktisch in Freiheit leben. Als Kind schlüpfte sie unter den Zäunen hindurch, um sie zu streicheln. «Meine Grosseltern beschlossen, mir Unterricht in einer Reitschule zu geben. Damals konnte ich nicht in Worte fassen, was ich fühlte, aber ich fand diese Welt hart und die Pferde traurig, weil sie in Boxen eingesperrt waren. Für mich war es absurd und sogar gewalttätig, auf einem Tier zu sitzen, das um nichts bittet, und es oft zu zwingen, das zu tun, was wir wollen.» Sie hörte auf zu reiten, behielt aber ihre Träume von grossen Ausritten in ihrem Herzen. Die Wiederbegegnung mit der grössten Eroberung des Menschen blieb eine Inspiration für sie. Als das Pferd, das ihre Tochter Natacha in einem Pferdetherapiezentrum begleitete, in die Jahre kam, wagte sie den Sprung und kaufte es. «Damals hielt ich mich noch nicht für eine Pferdespezialistin. Ich habe eine Menge Trainings gemacht. Ich habe versucht, eine selbstbewusste Führung zu entwickeln. Ich möchte eine respektvolle Führerin sein, ruhig, klar, mutig und geerdet, um Vertrauen zu schaffen.»
Die Arbeit mit Pferden in dieser Form ist sehr anspruchsvoll. Sie erfordert eine ständige emotionale Ausrichtung. «Die Pferde haben mich zu einer viel mutigeren Frau gemacht, die klarer in ihren Forderungen ist. Das hat mir in meiner Beziehung zu einer meiner Töchter mit besonderen Bedürfnissen sehr geholfen», sagt sie.
Was an diesem idyllischen Ort besonders auffällt, ist die Freude. Es ist die Freude der Pferde, die bei der kleinsten Schneeflocke mit einer sanften Verrücktheit aufblühen. Es ist die Freude von Carine, die sich ihren Kindheitstraum erfüllt.
Um ein wenig Leichtigkeit zu finden oder um tiefe Wunden zu heilen, muss man nur den Zaun von Carines kleiner Pferdewelt überqueren.
VICTORIA MARTIN/ÜBERSETZUNG AVS