Die Klassenzusammenkunft
17.01.2023 RegionSchreiben Sie gerne? Wir veröffentlichen Kurzgeschichten von Leserinnen und Lesern, die einen Bezug zum Saanenland haben oder deren Geschichten im Saanenland spielen.
Es ist wieder so weit, die Klassenzusammenkunft steht vor der Tür. Am Anfang war die Freude ...
Schreiben Sie gerne? Wir veröffentlichen Kurzgeschichten von Leserinnen und Lesern, die einen Bezug zum Saanenland haben oder deren Geschichten im Saanenland spielen.
Es ist wieder so weit, die Klassenzusammenkunft steht vor der Tür. Am Anfang war die Freude gross, die Kameraden nach so langer Zeit wieder zu sehen. Was ist nur aus ihnen geworden?
Doch jetzt machen sich Zweifel breit. Werden sie mich noch mögen? Ich habe keine Erfolgsgeschichten zu erzählen.
Dann am Abend, alle sind mitten im Apéro angelangt und die meisten in Gespräche vertieft. Es herrscht eine lockere Atmosphäre, alle lachen und sind fröhlich. Doch im Innern siehts anders aus.
Der Geschäftsmann hat ein schlechtes Gewissen. Er sieht auf die Hand seiner ehemaligen Schulkollegin. An ihrem Finger steckt ein schmaler, goldener Ring. Es ist nicht der Ring, der ihn beschämt, sondern viel mehr für was er steht. Er weiss, dass sie glücklich verheiratet ist. Er selbst hat die Karriere allem vorgezogen. Einige Beziehungen hatte er wohl, doch jetzt war er allein. Was gäbe er darum, mit seiner Schulkollegin zu tauschen.
Die glücklich Verheirate lacht heute viel. Zu viel. Es soll niemand merken, wie traurig sie ist. Sie sieht ihre ehemals beste Freundin, welche strahlt, wenn sie die Kinderfotos ihrer fünf Jungs zeigt. Sie selbst und ihr Mann wünschen sich Kinder über alles, doch es hatte nie geklappt. Die Chance, in ihrem Alter jetzt noch welche zu kriegen, scheint aussichtslos. Warum konnte sie nie Kinder haben? Wenigstens nur eines?
Die stolze Mutter trinkt Wein. Wieder ein Glas. Wenigstens heute möchte sie Spass haben. Sie fühlt sich zu Hause eingeengt, hat nicht einmal Zeit, ihre Lieblingssendung zu streamen. Tagein, tagaus derselbe Trott. Kaum ist man mit dem Haushalt fertig, fängt es wieder von vorne an. «Was für ein Glück, dass du Single bist», denkt sie und schaut ihren Kollegen an, welcher als Junge den Klassenclown gemimt hatte.
Der Single schaut auf den Tapferen. Dieser ist nach der Schule unheilbar krank geworden und schafft es trotzdem, eine grosse Lebensfreude zu versprühen. Man fühlt sich gut neben ihm, obschon man merkt, dass der Abend anstrengend für ihn ist. Er scheint mit dem Schicksal nicht zu hadern und ermutigt andere, welche doch viel besser dran sind als er. Der Single hasst es, alleine zu sein, und fragte sich schon manches Mal, wieso er niemanden finden konnte. Beschämt hört er das Lachen des Tapferen. Der Tapfere fühlt sich fehl am Platz. Er lebt vom Sozialwesen, da er nicht arbeiten kann. Freizeit ist für ihn ein Fremdwort, er hat selten die Kraft, auch nur alltägliche Dinge zu verrichten. Geschweige denn, einer anständigen Arbeit nachzugehen. Nicht einmal ein Auto besitzt er. Obschon er es dem Geschäftsmann von Herzen gönnt, schaut er doch neidisch auf dessen dicken Schlitten. Hätte er doch auch wenigstens die Hälfte so viel Geld wie der Wagen kostet.
Der Geschäftsmann hat ein schlechtes Gewissen. Er …
Und so dreht sich die Runde weiter und weiter. Vielleicht wäre der Abend für die Tonne gewesen, wenn nicht jemand den Mut gehabt und seine Bewunderung über ihre ehemalige Schulkollegin ausgesprochen hätte. Erstaunt ob seiner Sicht, gibt sie ernst gemeinte Komplimente an ihn zurück. Und nach und nach wird eine Runde von gegenseitigem Lob daraus. Alle kommen dazu.
Bald wird der Wein weggestellt, hier und da passieren Umarmungen und ein, zwei gestandene Männer verwischen heimlich eine Träne.
Der Abend vergeht viel zu schnell und alle können es kaum erwarten bis zum nächsten Jahr. Was wohl aus ihnen werden wird? Welche Misserfolge aber auch schöne Zeiten würden sie erleben?
BRUNO MATTI
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ZUM AUTOR
Bruno Matti ist eigentlich ein Graf, genauer ein Polygraf. In der Freizeit schreibt er Geschichten, zeichnet und musiziert gerne. Als «Sit Down Comedian» unterhält er eine kleine Schar mit seinen komischen Alltagssituationen und pointierten Darstellungen. Er wuchs im Saanenland auf und lebt jetzt mit seiner Frau in Habkern.