«Die Künstler sollten im Rampenlicht stehen»
22.08.2025 InterviewChristoph Müller, wie war es, 2001 – mit gerade einmal 30 Jahren – nach Gstaad zu kommen? War es schwierig, als Basler im Berner Oberland Fuss zu fassen?
Als junger Kulturmanager hatte ich nichts zu verlieren, als ich diese Stelle beim Festival annahm. ...
Christoph Müller, wie war es, 2001 – mit gerade einmal 30 Jahren – nach Gstaad zu kommen? War es schwierig, als Basler im Berner Oberland Fuss zu fassen?
Als junger Kulturmanager hatte ich nichts zu verlieren, als ich diese Stelle beim Festival annahm. Das Festival brauchte einen Neustart, und ich war voller Ideen und Energie. Ich wollte dem Festival neues Leben einhauchen, eine starke künstlerische Identität schaffen und das Vertrauen des Publikums zurückgewinnen. Ein Unterfangen, das nicht von heute auf morgen realisiert werden konnte. Ich bekam die nötige Zeit, das Festival ohne Druck aufzubauen – ein Luxus, den man heute kaum noch kennt. Die Herausforderung bestand darin, den Sprung von der lokalen zur internationalen Bühne zu schaffen und so den Ruf des Menuhin Festivals wiederherzustellen.
Und wie gelang dies?
Indem ich mich bemühte, spannende Künstlerfiguren einzuladen – wie zum Beispiel die Pianisten Alfred Brendel und András Schiff – oder Orchester wie das London Symphony Orchestra. Dabei wollten wir jedoch stets dem Geist von Yehudi Menuhin treu bleiben, der für Offenheit gegenüber nichtklassischen Stilen stand. Yehudi Menuhin war ein Pionier, spielte bereits in den 1950er-Jahren mit dem Sitar-Spieler Ravi Shankar und in den 1970er-Jahren mit dem Jazzgeiger Stéphane Grappelli. In diesem «Spirit» gestaltete ich von Beginn an die Reihe «Todays Music», die wir bis heute fortgesetzt haben.
War es derselbe Gedanke, der zur Gründung des Gstaad Festival Amateur Orchestras (GFAO) geführt hat, das Amateurmusiker:innen jedes Jahr die Möglichkeit bietet, grosse symphonische Werke aufzuführen?
Ja, wir wollten uns auch gegenüber Amateuren und passionierten Musikerinnen und Musikern öffnen. Deshalb haben wir zwei Amateurorchester gegründet, eines für Jugendliche und eines für Erwachsene. Es hat Zeit gebraucht, aber nach drei Jahren hat sich das Konzept durchgesetzt. Heute spielen in jedem Orchester 80 bis 100 Musikerinnen und Musiker, die nach einer intensiven Woche ein Konzert geben. Vielfalt und Zugänglichkeit spiegeln sich so auch in unserer «Orchesterpolitik» wider – neben dem Gstaad Festival Orchestra, das aus den besten Schweizer Musikern besteht, einer Art «Nationalmannschaft» mit Mitgliedern, z.B. aus dem Tonhalle Orchester Zürich, dem Orchester des Opernhauses Zürich, dem Kammerorchester Basel, dem Sinfonieorchester Basel oder dem Berner Symphonieorchester.
Durch diese Vielzahl an Orchestern braucht es auch Dirigenten. War das die Geburtsstunde der Gstaad Conducting Academy?
Mit ein Grund jedenfalls! Die Gstaad Conducting Academy ist zweifellos ein Alleinstellungsmerkmal des Menuhin Festivals Gstaad geworden. Es ist eindrücklich, diese jungen Dirigentinnen und Dirigenten in einem gemeinsamen Konzert zu erleben. Bis sich dieses Format etablierte, brauchte es aber einige Jahre – doch allmählich setzte sich das Konzept durch und stiess auf das Interesse der internationalen Szene. Künstleragenturen aus aller Welt reisten nach Gstaad oder schauten sich unsere Livestreams an, um hier Talente zu entdecken. Zudem laden die sieben Jury-Mitglieder, allesamt Vertreter von Schweizer Orchestern, jedes Jahr die zwei bis drei Preisträgerinnen und Preisträger zu Gastdirigaten ein. Diese Einladungen sind hervorragende Möglichkeiten für junge Dirigent:innen, ihre Karriere zu starten.
Ich muss zugeben, dass ich mich in den ersten beiden Jahren mit diesem Projekt etwas allein gelassen fühlte, aber wir haben es geschafft, Partner für die Finanzierung zu gewinnen. Und letztendlich entwickelte sich die Gstaad Conducting Academy zu einem starken Aushängeschild des Festivals.
Was ist Ihr Erfolgsrezept?
Mir war stets wichtig, das Publikum durch eine «Familie von Künstlern» an das Festival zu binden – gross genug und zugleich vielfältig. Namen wie Sol Gabetta, Fazil Say, Khatia Buniatishvili, Andreas Ottensamer oder Patricia Kopatchinskaïa waren kaum bekannt, als sie in den Nullerjahren zum ersten Mal am Menuhin Festival Gstaad auftraten. Doch ich war von ihren aussergewöhnlichen Persönlichkeiten und ihrem Potenzial, das Publikum zu berühren, überzeugt.
Wir laden aber auch gerne Musiker ein, die noch nie hier aufgetreten sind, heuer etwa Víkingur Ólafsson, Elīna Garanča, Marina Viotti, William Christie und Jakub Orlin´ski. Darüber hinaus fördern wir unter der Leitung der Menuhin Heritage Artists Nachwuchsstars und bieten jungen Musiker:innen die Möglichkeit, sich während fünf Festivalausgaben mit einem breit gefächerten Repertoire zu präsentieren.
Über 60 Konzerte pro Ausgabe! Wie haben Sie es geschafft, ein Festival von internationalem Rang in eine Region zu bringen, wo Jodeln wohl populärer ist als die «Ode an die Freude»?
Ich habe nie vergessen, dass wir ein Festival in den Bergen sind – an einem Ort mit einer starken touristischen Ausrichtung. Die Kunst bestand darin, ein Programm zusammenzustellen, das nicht langweilig ist und die Menschen dazu bewegt, im Sommer nach Gstaad zu reisen. Mein Ziel war stets, die einzigartige Verbindung von spektakulärer Landschaft und klassischer Musik hervorzuheben.
Was machen Sie in Ihrer Freizeit?
Wenn ich in Gstaad bin, habe ich nicht viel Freizeit (lacht). Aber immerhin jogge ich jeden zweiten Tag der Saane entlang vom Hotel Spitzhorn, wo ich während des Festivals wohne, nach Rougemont und zurück. Das sind etwa zehn Kilometer, so bleibe ich mit der Natur verbunden.
Sie gelten als zurückhaltend und halten Ihr Privatleben konsequent privat. Warum?
Das liegt einfach in meiner Natur. Ich bin nicht der Typ Mensch, der auf der Bühne steht, sich in den Mittelpunkt rückt, eine Show abzieht oder gerne Reden hält. Ich bleibe lieber im Hintergrund. Die Künstler:innen sollten im Rampenlicht stehen.
Welche neuen Herausforderungen warten auf Sie nach dem Gstaad Menuhin Festival & Academy?
Ich habe viele laufende Projekte (Anm. d. Red.: Basler Kammerorchester, die Konzertreihe Lucerne Chamber Circle im KKL Luzern, das Solsberg-Festival und vieles mehr). Neu werde ich ein traditionsreiches Festival in Ascona mitgestalten, das seit über 80 Jahren besteht. Es liegt ebenfalls in einer touristischen Region, umgeben von Seen und Bergen, und hat grosses Potenzial. Zudem bin ich neu Vizepräsident im Stiftungsrat der Stradivarius-Habisreutinger-Stiftung, die über neun Stradivari- und andere wertvolle Cremoneser-Instrumente verfügt. Und schliesslich bin ich im Herzen Musiker. Ich habe wieder begonnen, Cello zu spielen – zum ersten Mal seit 2012. Denn um neue Projekte zu entwickeln, muss man Künstler bleiben, Inspiration und Energie schöpfen und sich den Sinn unseres Berufs bewahren.
Was geschieht nach dem 6. September, dem letzten Abend des Festivals? Werden Sie nie wieder nach Gstaad zurückkehren?
Auf keinen Fall! Ich praktiziere keine Politik der verbrannten Erde. Ich gehe mit dem beglückenden Gefühl, etwas erreicht zu haben. Das Festival verfügt über ein starkes Team, das weitermacht. Und die Besucherzahlen sind von 14’000 auf über 27’000 gestiegen. Mein Entscheid, das Engagement hier in Gstaad zu beenden, ist nicht von heute auf morgen gefallen, der Schritt war lange geplant. Ich gehe in bestem Einvernehmen mit allen, mit denen ich zusammenarbeiten durfte – und ich glaube, dieses Gefühl beruht auf Gegenseitigkeit (lacht).
Was wird sich für Sie nach dem Festival am meisten ändern?
So sehr ich die Zeit in Gstaad geliebt habe, freue ich mich, nach 25 Jahren den Sommer wieder einmal anders zu erleben – frei über die Zeit verfügen zu können und mit mehr Privatleben. Und nächstes Jahr plane ich sicher die einen oder anderen Wandertouren in Schottland oder im nahe gelegenen Schwarzwald.
GSTAAD LIFE/SASKIA VON ALTISHOFEN/
ÜBERSETZUNG: REDAKTION AVS
HINTER DEN KULISSEN DES GSTAAD MENUHIN FESTIVAL & ACADEMY
Die denkwürdigsten Anekdoten
Nachfolgend ein paar der lustigsten Anekdoten, die Christoph Müller im Laufe von fast 25 Jahren erlebt hat.
«Als ich noch am Anfang meiner Karriere stand, wollte mich der Agent eines berühmten Künstlers davon überzeugen, sein mittelmässiges Orchester nach Gstaad einzuladen. Nachdem ich höflich abgelehnt hatte, kam er mit einem anderen Angebot zurück. Er schlug mir vor, mich als Solocellisten für Pendereckis Konzert für drei Celli an der Seite von Rostropowitsch und Micha Maisky zu engagieren! Ich musste laut lachen, so sehr ich auch über diesen offensichtlichen Bestechungsversuch entsetzt war.»
«In 24 Ausgaben mussten wir nur ein einziges Konzert absagen, und das wegen eines Sturms. Inmitten des Chaos organisierten wir spontan ein Konzert mit dem Wiener Johann Strauss Orchester im Baccarat-Saal des Palace-Hotels für den Sponsor des Abends, der so seine Gäste begeistern konnte!»
«Zwei Tage vor seinem Recital brach sich ein sehr berühmter Tenor beim Fussballspielen mit seinem Sohn den grossen Zeh. Es kostete einige Mühe, ihn zu überzeugen, aber schliesslich willigte er ein, trotzdem zu singen. Allerdings musste er mit einem Gipsverband und Krücken auf die Bühne. Er wollte jedoch nicht, dass das Publikum von seinem gebrochenen Zeh erfuhr. Deshalb gaben wir keine Erklärung dafür ab, dass er sich, wenn er nicht sang, hinsetzte und die Füsse hochlegte – was für das Publikum, gelinde gesagt, ungewöhnlich war. Einige dachten, es sei eine inszenierte Darbietung, andere schauten entsetzt zu, wie er lässig mit den Beinen in der Luft sass... eine echte Tragikomödie!»
«Wir organisierten mehrere Konzerte auf dem Glacier 3000 – auf über 3000 Meter über Meer – meist gefolgt von einem Fondue. Während eines Konzerts sang eine berühmte Sängerin Gershwin-Lieder, als sie sich mitten in ihrem Auftritt unwohl fühlte und mich bat, eine Pause einzulegen. Kurz darauf verlor sie hinter der Bühne sogar kurzzeitig das Bewusstsein! Aufgrund der Höhenlage litt sie unter Sauerstoffmangel. Glücklicherweise hatte das Personal ein Be atmungsgerät und konnte ihr Luft in die Lungen pumpen, sodass sie ihr Konzert mit Bravour beenden konnte!»
«Die Verhandlungen mit Stars über ihre Hotelzimmerwünsche, die Anzahl der Begleitpersonen und die gewünschte Anzahl der Hotelsterne waren oft mühsam. Im Gegensatz dazu denke ich mit Belustigung an den renommierten Wagner-Sänger Klaus Florian Vogt zurück, der in einem Wohnmobil ankam und nichts weiter verlangte als einen Platz auf dem Campingplatz in Saanen...»
PD
KURZE FRAGEN – KURZE ANTWORTEN
Ihr Lieblingsinstrument?
Cello!
Für welche:n Künstler:in würden Sie sich sofort eine Eintrittskarte kaufen?
Für die Jazzpianistin Hiromi Uehara.
Ihr Lieblingsfilm?
«Amadeus».
Die Oper, die Sie nicht verstehen?
«Lulu» von Alban Berg.
Musik, die Ihnen Energie gibt?
Georg Friedrich Händel.
Musik, die Sie zum Weinen bringt?
Sakrale Musik von Bach.
Ihre Lieblingskomponisten?
Schubert, Bach, Händel und Haydn. Ich habe die Joseph-Haydn-Stiftung Basel für das Projekt Haydn 2032 gegründet, um den 300. Geburtstag von Joseph Haydn im Jahr 2032 zu feiern. Wir wollen alle 107 Sinfonien des Komponisten mit «Il Giardino Armonico» und dem Basler Kammerorchester unter der künstlerischen Leitung von Giovanni Antonini aufführen und aufnehmen. Ich bin ein echter Haydn-Missionar, der für die Anerkennung der Musik dieses Komponisten kämpft.
Die schlimmste Frage, die man Ihnen stellen kann?
Über den Unterschied zwischen des Menuhin Festivals und dem Verbier- Festival – diese Frage kann ich nicht mehr hören (lacht).
Ihr Lieblingsessen?
Tagliatelle mare e monti.
Ihr wertvollster Besitz?
Mein Cello, das für mich angefertigt wurde, und ein Lancia Fulvia von 1971.
Ein Ort, an dem Sie gerne neue Energie tanken?
Mein Chalet in Zeneggen im Oberwallis.
Ihr Lieblingszitat?
«Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne» von Hermann Hesse.