«Die Volksinitiative ist heute kein Volksrecht mehr, sondern sie ist ein Produkt»
30.05.2024 InterviewUnser Kolumnist Oswald Sigg hat sich mit 80 Jahren einem neuen Projekt verschrieben: Er schreibt ein Buch über die Volksinitiativen, die in den vergangenen Jahrzehnten der Kommerzialisierung zum Opfer gefallen sind. Wir haben mit dem Journalisten, Politiker, ehemaligen Vizekanzler ...
Unser Kolumnist Oswald Sigg hat sich mit 80 Jahren einem neuen Projekt verschrieben: Er schreibt ein Buch über die Volksinitiativen, die in den vergangenen Jahrzehnten der Kommerzialisierung zum Opfer gefallen sind. Wir haben mit dem Journalisten, Politiker, ehemaligen Vizekanzler und Bundesratssprecher über seine grosse Faszination gesprochen: die direkte Demokratie. Und über Gott und die Welt.
JOCELYNE PAGE
Herr Sigg, als wir einen Interviewtermin vereinbart haben, fragten Sie mich, worüber wir sprechen werden. Aufgrund Ihres eindrücklichen Lebenslaufs sagte ich Ihnen: «Über alles, über Gott und die Welt.» Ihre Antwort: «Das passt ausgezeichnet, Freude herrscht!»
Genau, denn ich dachte mir: Das ist doch mal ein gutes Thema für ein Interview. Nicht ein «Blick in die Welt», sondern Gott und die Welt.
Wieso hat Ihnen diese Ansage Freude bereitet?
Weil ich diesen Ausdruck schon lange nicht mehr gehört habe. Früher hat man dieses Sprichwort viel gehört. So bedeutet es: Wir reden über alles. Ich finde es spannend, dass da noch der Herrgott hinzukommt, denn mit «über die Welt reden» wäre doch schon alles dabei.
Spielt bei Ihnen im Leben Gott eine Rolle?
Nein, ich habe mich mein Leben lang über die katholische Kirche geärgert. Als mich eine bestimmte Aussage des Papstes besonders verärgerte – leider weiss ich nicht mehr, worum es sich handelte –, beschloss ich, aus der Kirche auszutreten. Ich rief den Sekretär der Schweizer Bischofskonferenz an und erkundigte mich bei ihm nach den notwendigen Schritten. Er fragte, ob ich getauft sei. Auf mein Ja erwiderte er: «Als getaufter Katholik kann man nicht austreten.» Er wünschte mir ein erfülltes katholisches Leben.
Und dann?
War ich mit meinem Latein am Ende und so bin ich halt geblieben (lacht).
Ihr Lebenslauf ist eindrücklich: Doktor in Politikwissenschaften, Journalist, Kommunikationsexperte, Politiker, Vizekanzler, Bundesratssprecher und bei uns Kolumnist. Auch nach Ihrer Pensionierung sind Sie journalistisch und politisch immer noch aktiv. Woher nehmen Sie diese Energie?
Oh, das hat mich noch nie jemand gefragt! (überlegt) In den letzten Jahren und auch davor habe ich immer versucht, mich viel zu bewegen – sei es zu Fuss oder mit dem Velo. Wann immer möglich, mache ich mit meiner Frau Regina Spaziergänge oder Radtouren. Mindestens einmal pro Woche geht es mit meinem Sohn Olivier zum Schwimmen. Er ist ein Kampfschwimmer, krault wie verrückt und er taucht auch. Bewegung ist für mich etwas Besonderes: Sie hilft mir, klar zu denken. Die besten und auch die schlechtesten Ideen sind mir beim Sport in den Sinn gekommen. Wenn ich in Ruhe über Gott und die Welt nachdenken kann, kommen die Ideen.
Somit ist Sport Ihre Motivation, immer dranzubleiben?
Ja. Energie bedeutet auch Motivation und die erhalte ich mit Bewegung. Und der «Anzeiger von Saanen» sorgt auch dafür, dass ich dranbleibe, indem jeden Monat eine Kolumne zu schreiben ist. Ich kann mich nicht einfach hinhocken und schreiben, es ist mit viel Arbeit verbunden.
Nun schreiben Sie an Ihrem aktuellen Buch. Sie befassen sich mit Volksabstimmungen, die in den vergangenen Jahrzehnten der Kommerzialisierung zum Opfer gefallen sind. Bereits in Ihrer Doktorarbeit beschäftigten Sie sich mit der Wirkungsweise von Volksinitiativen. Das Thema muss eine Herzensangelegenheit sein?
ja, mein Leben lang galt mein Interesse den Volksinitiativen und seit jeher faszinieren sie mich auch. Mein damaliger Professor Erich Gruner schlug mir vor, in meiner Seminararbeit der Frage nachzugehen, welche Innovationen Volksinitiativen gebracht haben. Und er war es auch, der mir empfohlen hatte, diese Forschung in meiner Dissertation weiterzuverfolgen.
Was fasziniert Sie persönlich an Volksinitiativen?
Die Volksinitiative ist der wichtigste Bestandteil der direkten Demokratie. Und wenn wir schon über Gott und die Welt reden: Im Himmel gibt es sie wahrscheinlich nicht, aber auf der Welt existiert sie praktisch auch nicht. In fast allen EU-Ländern gibt es Volksabstimmungen. Aber im Grunde genommen sind Volksinitiativen ein Schweizer Unikat.
In der Schweiz leben wir somit die direkte Demokratie?
Genau, es gibt sie eins zu eins, auch wenn sie in den letzten Jahrzehnten stark gelitten hat. 1848 trat die Bundesverfassung in Kraft, die Volksinitiative wurde aber erst 1892 darin aufgenommen. Denn sie war nicht unumstritten. Einige Politiker fürchteten sich davor, dem Volk politische Mitwirkung zu gewähren. In Zeitungsartikeln konnte man lesen, wie sie abschätzig über Bauern am Stammtisch sprachen, die zusammen trinken und anschliessend ihre Ideen per Volksinitiative auf die politische Agenda setzen würden. Das historisch Spannende an der Volksinitiative ist zudem, dass es politische Parteien erst seit der Einführung der Instrumente Referendum und Initiative gibt. Professor Gruner pflegte stets zu sagen: Politische Parteien sind die Kinder der Volksrechte.
Wie sind sie denn entstanden?
Aus dem Recht, sich als Bürger politisch einbringen zu dürfen, formierten sich Gruppierungen. Ich spreche explizit von Bürgern, denn wir Männer konnten erst später ermessen, dass selbst Frauen die Fähigkeiten haben, Politik zu machen (schmunzelt). Sie wehrten sich entweder gegen Gesetze mittels Referenden oder lancierten gemeinsam Volksinitiativen. Dabei trafen immer wieder die gleichen Leute aufeinander, die schliesslich beschlossen, sich zu einer politischen Partei zu formieren. So entstand beispielsweise die Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB), die wir heute als Schweizerische Volkspartei (SVP) kennen, oder auch die FDP, die SP und weitere Parteien. Wie wir wissen, sind sie alle noch politisch aktiv und nutzen die Volksinitiative heute oftmals, um das Volk zu motivieren, ihren Parteimitgliedern bei den nächsten Wahlen eine Stimme zu geben. Aber damit die Parteien erfolgreich sein können, braucht es noch einen anderen Faktor als den Wählenden, und das ist das Geld.
In Bezug auf was?
In Bezug auf die Volksinitiativen. Im Verlauf der Geschichte ist der ganze Prozess – vom Verfassen des Initiativtextes bis zur Abstimmung – immer teurer geworden. Heute kostet eine Volksinitiative eine Partei zwischen fünf und sechs Millionen Franken.
Das ist ein Wahnsinnsbetrag! Und früher?
Mein damaliger Schulkollege Felix Mathys und ich haben 1969 die Volksinitiative «Schulkoordination» mit genügend beglaubigten Unterschriften eingereicht. Ziel unserer Initiative war es, die obligatorischen Schulen schweizweit zu koordinieren, damit jeder Kanton den gleichen Lehrplan und die gleichen Lehrmittel hat, um eine Chancengleichheit herzustellen. Doch wir brauchten ein Startkapital und dies erhielten wir durch die Kontakte von Felix’ Vater, der Mitglied der damaligen BGB war. Als BGB-Jugendfraktion wurden wir vom Zentralsekretariat administrativ unterstützt, weshalb wir die Initiative lancieren konnten, die 1972 auch bei der Bundeskanzlei eingereicht wurde. Sie kostete die Partei am Ende 30’000 Franken.
Somit sind die Kosten für eine Volksinitiative in 40 Jahren um das 20fache gestiegen.
Genau. Die Volksinitiative ist heute kein Volksrecht mehr, sondern sie ist ein Produkt geworden. Heute finden Sie rund um das Bundeshaus in Bern über 30 Kommunikationsagenturen, die Ihnen bei Volksinitiativen helfen. Die machen alles: Initiativtext schreiben, Kampagnen planen, Unterschriften sammeln, diese beglaubigen lassen und einreichen, sowie den Abstimmungskampf führen. Am Ende kommt noch ein Apéro riche am Abstimmungssonntagabend, den organisieren sie auch noch. Und das alles für ein paar Millionen Franken.
Welche Gefahren sehen Sie für unsere direkte Demokratie?
Das ist ganz einfach. Wir sind eine direkte Demokratie, was bedeutet, dass jeder Bürger und jede Bürgerin aktiv mitwirken kann. Doch heute funktioniert das nur noch mit ausreichenden finanziellen Mitteln.
Somit kann man ohne ein gewisses Startkapital gar nicht mehr aktiv an der direkten Demokratie teilnehmen?
Nein. Es braucht immer mehr Geld, um eine Volksinitiative bis zur Abstimmung zu bringen. Je mehr investiert wird, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, in der direkten Demokratie etwas zu bewirken. Ohne finanzielle Mittel kann man nichts ausrichten. Es gibt einen alten Grundsatz aus der Französischen Revolution, der heute in allen zivilisierten Verfassungen enthalten ist, auch in unserer Bundesverfassung: Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Bei uns ist das jedoch anders.
Alle Menschen, die Geld haben, sind vor dem Gesetz gleich?
Nein. Menschen mit mehr Geld sind bei uns nicht gleichgestellt, denn sie gehören zur wohlhabenden Schicht. Einfach gesagt: Die Reichen, die ihr Geld in die direkte Demokratie statt in Aktien investieren, haben in der politischen Schweiz bessere Chancen, politisch etwas zu erreichen.
Welche Lösungsansätze gäbe es denn?
Wir müssen das Geld aus der direkten Demokratie verbannen, denn es kann nicht sein, dass wir heute praktisch nur noch mit Geld eine Initiative bis ins Parlament oder gar vors Volk bringen können. Die EU verschärft gerade die Vorschriften für politische Werbung. Bei uns ist dagegen alles erlaubt. Es haben sich Geschäftsmodelle ergeben, die es früher nicht gab, so bei der Unterschriftensammlung. Es gibt Firmen, die Unterschriftensammelnde angestellt haben. Jedes Initiativkomitee kann diese engagieren, es kostet einfach Geld. Als wir die zwei Volksinitiativen Grundeinkommen und Mikrosteuer lanciert hatten, machten wir auch von einem solchen Unternehmen Gebrauch. Die Agentur befindet sich in Lausanne und ist sehr pflichtbewusst. Bei der letzten Initiative vor einigen Jahren bezahlten wir pro beglaubigte Unterschrift noch zwischen 1,50 und zwei Franken. Heute kann eine Unterschrift nahezu sieben Franken kosten. Bei 120’000 Unterschriften kommt eine enorme Summe zusammen, das ist einfach irrsinnig. Deshalb bin ich der Meinung, wir müssten das Bundesgesetz über die politischen Rechte aus den 1970er-Jahren totalrevidieren und das Geld in der Demokratie verbieten.
Was sagt Ihnen Ihr Gefühl: Ist es realistisch, dass ein solches Verbot umgesetzt würde?
Ich kann schwer einschätzen, wie realistisch das ist. Bei den Wahlen fliesst auch immer viel Geld, im Herbst 2023 wurden Millionenbeträge für den Wahlkampf eingesetzt. Ich sage immer, in unserem Parlament sitzt niemand, der von der Sozialhilfe lebt. Es sind zwar Menschen, aber sie haben keine Stimme. Ich glaube, es gibt nur zwei oder drei IV-Bezüger in unserem Parlament. Wer für ein höheres Amt kandidiert, muss je nach Partei 15’000 bis 30’000 Franken investieren, manchmal sogar mehr. Wer kann sich das leisten?
War diese Problematik schon Thema, als Sie Bundesratssprecher waren?
Nein. Als ich in der Bundeskanzlei angestellt wurde in den 1970er-Jahren, wirkte ich an der Ausarbeitung des Bundesgesetzes über die politischen Rechte mit. Die grosse Neuerung war, dass der Bundesrat zusammen mit dem Parlament das Büchlein mit Abstimmungsempfehlungen einführte, wie wir es heute kennen. Das war damals eine Neuheit und sehr umstritten, besonders bei den Medien. Denn diese hatten die staatspolitische Aufgabe, über Referenden, Initiativen und Abstimmungen zu berichten und Empfehlungen auszusprechen. Heute übernehmen diese Rolle der Bundesrat und das Parlament selbst. Und das ist auch gut so.
Wann haben Sie bemerkt, dass Sie politisch interessiert sind?
Ich denke, es waren zum einen die damaligen Schulkollegen, mit denen ich die Schulkoordinationsinitiative lancierte, und zum anderen wurde ich in der Rekrutenschule politisch sensibilisiert. Ich traf damals auf Alfons, der bereits das erste Semester an der ETH (Eidgenössische Technische Hochschule) absolvierte. Er war politisch sehr bewandert, sprach über «die Linken und die Rechten». Einst sagte er mir: «Wenn ich das Theater hier sehe, wie die Offiziere und Korporale uns hier anschreien und uns umherkommandieren, muss ich sagen: Die Schweiz hat keine Armee, sie ist eine Armee.» Ich stellte fest, dass das Militär in der Schweiz ein fester Kulturbestandteil war. Ich unterstützte deshalb die Initiative zur Abschaffung der Armee. Es war wichtig damals, in unserem Land über Sinn und Zweck der Armee zu diskutieren, denn es gab da auch komische Dinge.
Beispielsweise?
Wir hatten in der Bundesverwaltung militärische Übungen. Sie nannten sie Gesamtverteidigungsübungen. Das glaubt kein Mensch, was wir dort üben mussten. 1989 veranstaltete das Eidgenössische Militärdepartement (EMD) mit Oberst im Generalstab Friedrich Nyffenegger die «Diamant-Feier»: Es feierte den 50. Jahrestag der Mobilmachung der Armee im Zweiten Weltkrieg. Das müssen Sie sich mal vorstellen! Andere Länder feiern das Ende des Krieges und wir den Beginn.
Was ist Ihr Anspruch an die Politik?
Dass es dem Bürger und der Bürgerin gut geht und dass sie in dieser direkten Demokratie zu ihrem Recht kommen, und zwar ohne Geld.
In Ihrer politischen Laufbahn haben Sie sich mehrmals für ein bedingungsloses Grundeinkommen eingesetzt, für die Schulkoordination oder für die Mikrosteuer. Sie haben also einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn?
Wir müssen eine politische Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz wahren, denn dies ist eine der grossen Errungenschaften der Französischen Revolution. Im Grunde waren diese immer von unten nach oben organisiert, um die Adelsschicht oder die Wohlhabenden in die Pflicht zu nehmen. Denn sie hatten zu viel Macht, beziehungsweise haben es heute noch. Und das finde ich nicht richtig.
Sie waren journalistisch tätig und sind es immer noch. Deshalb die Huhn-Ei-Frage: War zuerst der Journalismus oder die Politik da?
Das lief parallel. Der erste Artikel, den ich geschrieben habe, erschien im «Tages-Anzeiger» und behandelte ebenfalls eine Volksinitiative (lacht). Hans Tschäni, der Journalist des «Tagi», fragte mich, ob ich als Bürger etwas zu einer Initiative schreiben könnte.
Wie sehen Sie die Rolle der Medien, beispielsweise bei den Volksinitiativen?
Ich finde, dass Schweizer Medien gute Partner für die Institution der direkten Demokratie sind und die Qualität ist im Durchschnitt auch gut. Sie sind darauf angewiesen, über Politik zu berichten, weil das ihre Leserinnen und Leser erwarten. Ich sass im Stiftungsrat der Kurt-Imhof-Stiftung für Medienqualität, die jährlich das Jahrbuch «Qualität der Medien Schweiz Suisse Svizzera», herausgibt. Ich habe immer dafür plädiert, nicht nur die grossen Medien zu beachten, sondern auch und gerade die Regionalmedien. Das wurde bisher leider zu wenig gemacht. Es ist wichtig, die politischen Beiträge in den Regionalmedien angemessen zu bewerten und zu würdigen. Es gibt einige bemerkenswerte Medien, besonders im Kanton Bern, wie euer Medium der «Anzeiger von Saanen», der «Frutigländer» und die «Jungfrau Zeitung». Das sind politische Perlen, die von der Wissenschaft und der Politik viel zu wenig beachtet werden.
Ihren Bezug zum Saanenland haben Sie durch Ihre Frau Regina, deren Grosseltern und Eltern hier aufgewachsen sind.
Das ist richtig. Regina bewirtschaftet immer noch das Haus der Grosseltern. Wenn wir Zeit haben, verbringen wir auch Ferien hier oben. Als begeisterter Schwimmer liebe ich das Sportzentrum Gstaad. Ich habe sogar eine Aktie (lacht). Ich schätze die Dörfer und die Landschaft, ich bin gerne hier oben. Und durch meine Frau sind wir langjährige Abonnenten des «Anzeigers von Saanen».
Als Verfechter von Volksinitiativen haben Sie vielleicht auch in unserer Zeitung gesehen, dass in unserer Region eine Gemeindeinitiative für das Projekt SolSarine2.0 lanciert und auch erfolgreich eingereicht wurde (wir haben berichtet). Es ist ein zweiter Anlauf, denn das erste Projekt wurde im Dezember 2023 deutlich von der Gemeindeversammlung abgelehnt. Kritik wurde nun laut: So sagten Stimmbürger:innen, die Initianten würden die Demokratie und den Volkswillen missachten. Wie schätzen Sie die Situation ein?
Es ist sogar im Sinne der Demokratie, dass man eine Entscheidung, über die abgestimmt wurde und bei der es eine Ablehnung gab, erneut überdenken kann. Man glaubt oft, dass ein Abstimmungsergebnis sakrosankt ist. Aber das ist nicht so. Der Kern der direkten Demokratie besteht darin, dass man eine Entscheidung revidieren und sogar direkt das Gegenteil beschliessen kann. Das wäre gelebte Demokratie.
ZUR PERSON
Oswald Sigg ist 1944 in Zürich geboren und aufgewachsen. Nach der kantonalen Handelsschule in Freiburg absolvierte er ein Studium der Soziologie, Volks- und Betriebswirtschaft an den Universitäten St. Gallen, Paris und Bern. 1978 promovierte er am Forschungszentrum für schweizerische Politik an der Universität Bern mit einer Doktorarbeit über die Wirkungsweise der Volksinitiative. Bei der Bundesverwaltung arbeitete er von 1975 bis 1988 in verschiedenen Departementen abwechselnd als Informationschef. Von 1988 bis 1990 war er Chefredaktor und Geschäftsleitungsmitglied der Schweizerischen Depeschenagentur, von 1991 bis 1997 Unternehmenssprecher der Generaldirektion SRG. 1998 kehrte er in den Bundesdienst zurück und wurde Informationschef des Departements für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS), Stabschef des Departements Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation, bevor er von 2005 bis 2009 Vizekanzler und Bundesratssprecher wurde. Innerhalb der Bundeskanzlei war er verantwortlich für den Bereich Information und Kommunikation. Politisch startete er seine Karriere als Mitglied der BGB-Jugendfraktion, wechselte aber 1973 zur Sozialdemokratischen Partei SP und wurde Mitglied der Gewerkschaft Syndicom. Er arbeitete und lancierte verschiedene Volksinitiativen, wie jene über das bedingungslose Grundeinkommen oder jene über die Mikrosteuer auf dem Zahlungsverkehr. Ab 2015 arbeitete er an einer bis anhin unveröffentlichten Reportage über die soziale Situation in der Banlieue von Paris, mit besonderer Berücksichtigung von Ausgrenzung und Verfolgung der Roma. Seit 2022 schreibt er monatlich für den «Anzeiger von Saanen» die Kolumne «Blick in die Welt».
PD/JOP