«Es erinnert mich an meine Zeit in Tansania»
22.05.2023 GesundheitswesenAuf einer Fläche von rund 44’000 Quadratmetern bilden fünf Modulbauten aus etwa 450 Containern die temporäre Unterkunft Viererfeld (TUV) in Bern. Sie ist landesweit die grösste ihrer Art, der Betrieb ist bis 2025 befristet. Konzipiert wurde die ...
Auf einer Fläche von rund 44’000 Quadratmetern bilden fünf Modulbauten aus etwa 450 Containern die temporäre Unterkunft Viererfeld (TUV) in Bern. Sie ist landesweit die grösste ihrer Art, der Betrieb ist bis 2025 befristet. Konzipiert wurde die Unterkunft für maximal 960 Personen. Ende April bewohnten 230 Schutzsuchende mit Status S die Siedlung. 95 davon sind weiblich, 63 unter 20 Jahre alt, aber es gibt keine unbegleiteten Minderjährige. Die meisten der Bewohnenden sind Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine. Dr. med. Thomas Zimmerli aus Zweisimmen ist einer der Unterkunftsärzte und spricht im Interview über die Arbeit unter speziellen Bedingungen und die Betroffenheit, welche das Leid der Untergebrachten bei ihm auslöst.
KEREM S. MAURER
Dr. Thomas Zimmerli, Sie therapieren und betreuen im Viererfeld hauptsächlich ukrainische Kriegsflüchtlinge. In welchem Gesundheitszustand treffen Sie die Geflüchteten an?
Die medizinische Versorgung in der Ukraine ist teilweise mit westlichen Standards vergleichbar und auch das Krankheitsspektrum deckt sich weitgehend mit unserem. Daher haben die meisten Geflüchteten aus der Ukraine einen guten Allgemein- und Ernährungszustand.
In der temporären Unterkunft Viererfeld bleiben die Schutzsuchenden im Durchschnitt drei Wochen bis vier Monate, danach ziehen sie weiter oder in eigene Wohnungen. Werden alle, die ins TUV kommen, medizinisch untersucht?
Beim Erstkontakt im Viererfeld geben die Geflüchteten mittels eines Fragebogens Auskunft über frühere Krankheiten, Operationen, Unfälle sowie Medikamente, die sie einnehmen. Falls die Geflüchteten von einem Bundesasylzentrum kommen, wurden diese Befragungen bereits dort gemacht.
Welches sind die häufigsten Leiden der Bewohnenden im Viererfeld?
Hauptsächlich psychische Traumafolgen wie Depressionen, Schlafstörungen, Angstzustände sowie die Sorge um zurückgelassene Angehörige. Daneben funktionelle Beschwerden wie Bauch- oder Kopfschmerzen und chronische Leiden.
Als behandelnder Arzt in verschiedenen Flüchtlingsunterkünften, nicht nur im Viererfeld, bekommen Sie dramatische Geschichten zu hören. Gehen Ihnen solche Erzählungen nahe?
Oh ja, diese Schicksale berühren mich sehr. Zum Beispiel jenes eines alten Manns aus Mariupol, der sich mit anderen Personen, darunter Frauen und Kinder, im Untergrund des Asow-Stahlwerks versteckt hatte. Ohne Lebensmittel, und frisches Wasser war derart knapp, dass nur Kinder davon bekamen. Die anderen tranken Kühlwasser aus den Maschinen. Oder einmal kam eine junge Mutter mit ihrem Säugling wegen Schlafstörungen zu mir. An ihrer linken Schläfe hatte sie eine grosse Narbe von einem Bombensplitter, der sie in der Geburtsklinik in Mariupol getroffen hatte, worauf sie das Bewusstsein verlor. Beide haben überlebt.
Sie hören sicher vieles. Was machen solche Geschichten mit Ihnen?
Nicht nur die Geschichten von ukrainischen Geflüchteten, sondern auch jene von Menschen aus afrikanischen Ländern oder von Kurden aus der Türkei, von Iranerinnen und Syrern führen mir meine Ohnmacht vor Augen. Stellen Sie sich vor: Sie müssten unerwünscht, mittellos und ausgegrenzt inmitten einer Wohlstandsgesellschaft in einer fremden Kultur leben. Ohne Verständigungsmöglichkeit, soziale Kontakte oder sinnvolle Beschäftigung. Ohne Zukunftsaussichten oder mit der Angst, wieder in jenes Kriegs- oder Krisengebiet ausgeschafft zu werden, aus dem Sie geflohen sind. Das sind Probleme, die wir uns gar nicht vorstellen können. Das ist doch fürchterlich!
Kein schöner Gedanke...
Nein! Wenn mir ein Afghane erzählt, er sei zu Fuss über die Balkanroute via Iran, Türkei und Griechenland in die Schweiz gekommen oder eine iranische Geschäftsfrau schildert, wie die Taliban ihre Firma geschlossen haben und sie allein in die Schweiz flüchten musste ohne ihre drei Töchter, die seitdem in stetiger Bedrohung leben, fällt es mir schwer, die Argumente jener Parteien zu verstehen, die solche «Wirtschaftsschmarotzer» und «Wohlstandsprofiteure» am liebsten schon an der Grenze loswerden möchten. Vor allem die Trennung von Angehörigen und die Angst um deren Schicksal sind für viele der Patienten sehr belastend. Da sind die Abgabe von Antidepressiva oder psychotherapeutische Gespräche nur eine kleine Hilfe.
Dazu muss man wissen, dass in der TUV nur wenige Wochen rund um den Jahreswechsel 2022/23 neben ukrainischen auch andere Asylsuchende gewohnt haben. Wie ist denn die medizinische Versorgung im Viererfeld organisiert?
Die Firma Xana Care – Mobile Dienstleistungen betreut die Schutzsuchenden im Viererfeld. Entweder mittels Walk-in-Sprechstunden durch diplomiertes Pflegefachpersonal oder als hausärztliche Sprechstunden an ein bis zwei Wochentagen. Letzteres wird von zwei pensionierten Ärzten – einer von denen bin ich – durchgeführt. Unterstützt werden wir durch junge Ärztinnen mit Teilzeitpensen. Für Sprechstunden mit ukrainisch Sprechenden stehen uns Dolmetscher vor Ort oder via Videotelefonie zur Verfügung. Seit Kurzem arbeitet auch eine diplomierte Ärztin aus der Ukraine mit. Allerdings ohne Berufsausübungsbewilligung und nur unter Supervision einer Ärztin oder eines Arztes aus der Schweiz mit der entsprechenden Bewilligung. Doch das läuft nur noch bis Ende Mai so. Danach muss aus finanziellen Gründen die medizinische Versorgung anders organisiert werden.
Wie darf man sich in der TUV die Praxisräumlichkeiten vorstellen?
Einfach, aber zweckmässig. Es gibt einen grossen Empfangsraum mit Arbeitsplätzen für eine Medizinische Praxisassistentin MPA oder Pflegefachfrau sowie eine Dolmetscherin, dazu stehen ein kleines, spartanisch eingerichtetes Untersuchungszimmer und ein kleiner Nebenraum für Blutentnahmen und Elektrokardiogramm EKG zur Verfügung. Die Untersuchungsmöglichkeiten sind sehr eingeschränkt und nicht mit denjenigen einer gewöhnlichen Arztpraxis zu vergleichen.
Aber Sie kommen zurecht?
(Lacht.) Ja, es erinnert mich an meine Zeit in Tansania, wo man oft nur mit Stethoskop, Ohren- und Augenspiegel, Stimmgabel, Waage und Blutdruckgerät auskommen musste.
Wie sieht denn ein «normaler» Arbeitstag für Sie in den Flüchtlingsunterkünften aus?
Normalerweise arbeite ich dort einen Tag pro Woche. Dann warten jeweils etwa acht Patienten aus zahlreichen Ländern – im Viererfeld nur aus der Ukraine – mit unterschiedlichen Anliegen auf mich. Nach den Untersuchungen stehen Überweisungen an Röntgeninstitute oder Spezialisten an sowie Anmeldungen bei Psychotherapeuten. Letzteres ist schwierig zu bewerkstelligen, weil diese alle auf längere Zeit ausgebucht sind.
Das klingt nach viel Arbeit. Wie lange dauert in etwa eine durchschnittliche Konsultation?
Sprachliche Schwierigkeiten, psychische Probleme und kulturelle Differenzen verlängern eine Konsultation. Dazu kommt, dass sich die Ukrainerinnen kostenlose Gesundheitsdienstleistungen gewohnt sind und zu Hause prophylaktisch oft unzählige Nahrungsergänzungsmittel verschrieben bekommen, die bei uns weder sinnvoll noch nötig sind, dafür aber hohe Kosten verursachen, die von den Krankenkassen nicht übernommen werden. Wir müssen ihnen erklären, warum sie diese Mittel hier nicht bekommen. Dies führt zu Konsultationszeiten von 30 bis 45 Minuten, was für die Firma Xana ein erhebliches wirtschaftliches Risiko birgt, da im aktuellen Ärztetarif Tarmed die Leistungen kaum kostendeckend von den Krankenkassen entschädigt werden.
Das Staatssekretariat für Migration rechnet mit einem Anstieg von Flüchtlingen ab diesem Frühling. Man geht von 27’000 aus, die in die Schweiz kommen würden. Das Viererfeld bietet Platz für maximal 960 Schutzsuchende. Gibt es genügend medizinisches Personal für so viele Leute?
Für die derzeitige Auslastung von 230 Menschen reicht die Arztpräsenz von zwei Tagen pro Woche aus. Je mehr im Viererfeld wohnen, desto grösser wird der Zeitaufwand für eine Konsultation werden. Bei einer starken Zunahme der Belegung wären zusätzliche Ärzte und Pflegepersonen nötig, welche wohl aus pensionierten Hausärzten rekrutiert werden müssten. Doch wie das ab Juni organisiert wird, weiss ich nicht.