«Du musst dich nicht aufregen, es ändert nichts»
19.05.2022Unterwegs im Rollstuhl ist für Nadia Burri aus Schönried die Welt erreichbar. Was aber nur wenige wissen: Nadia kann laufen, Nadia liebt Zahlen und Nadia schätzt es, mit jemandem zu reden. Sie erfuhr schon mehr Ablehnung, als manch anderer ertragen könnte, und sie hat die Gelassenheit, nach der viele suchen.
JENNY STERCHI
Nadia Burri steuert ihren Rollstuhl routiniert über das Trottoir. Sie muss die Absätze und Bordsteine auf dem Weg von der Bushaltestelle zur Physiotherapie genau kennen. Anders sind für mich als Aussenstehende ihr Tempo und ihre Sicherheit nicht zu erklären. Jedenfalls kann ich nicht trödeln, wenn ich mich mit ihr unterwegs noch unterhalten möchte. Nadia ist im elektrisch betriebenen Rollstuhl unterwegs, mit einem Hebel kann sie die Geschwindigkeit ändern, rückwärts und um Kurven fahren, präzise parkieren. Ich grüsse sie und spüre, dass unser beider Hände sehr kalt sind. Ich darf Nadia an diesem Morgen in die Praxis von Corina Wampfler begleiten. Corina ist Nadias Physiotherapeutin. Schon seit vielen Jahren.
Nadia erkrankte als Baby an einer Hirnhautentzündung. Die Folgen daraus waren nicht absehbar. Die Ärzte waren sich damals sicher, dass Nadia nicht selbstständig leben könne. «Sie sagten, dass ich nicht würde laufen können», weiss Nadia und der Triumph in ihrem Blick ist nicht zu übersehen. Sie hat es nicht hingenommen. In der Therapiestunde steigt sie, unterstützt von Corina, die Stufen im Treppenhaus hinauf. Ich sehe zu, staune, habe ein bisschen Angst um sie. Aber Nadia lacht mich an und nimmt dann konzentriert jeden einzelnen Tritt in Angriff. Hinauf und wieder hinunter. Nadia liebt es, aktiv zu sein. «Ich fahre gern und viel Ski», sagt sie und strahlt.
«Ich bin nicht aus Zuckerwatte.» So stellte sich Nadia bei Corina vor, als sie zum ersten Mal in die Therapie kam.«Und das meinte sie genauso, wie sie es sagte», versichert mir Corina Wampfler: «Sie möchte weder mit Samthandschuhen angefasst noch sonderbehandelt werden.» Gemeinsam schaffen wir es, dass Nadia auf einem Physioball sitzt und wippt. Ich habe grossen Respekt, aber die beiden Frauen wissen, was möglich ist. «Nadia geht nicht kopflos an Dinge heran», ist Corina überzeugt. «Sie probiert eigentlich alles, sagt mir aber ganz klar, wenn eine Bewegung für sie nicht machbar oder eine Situation zu unübersichtlich ist. Das ist sehr wertvoll, wenn man seinen Körper so gut kennt wie Nadia.»
Nadia ist 23. Wenn sie Fragen hat, schaut sie ihr Gegenüber genau an. Wenn sie Antworten gibt auch. Einige Laute auszusprechen, ist schwierig für Nadia. Aber jeder, der sich die Zeit nimmt, kann sie verstehen. Sie erzählt mir, wie gern sie mit Zahlen hantiert, dass sie damals im Schultheater die Rolle der Clara im Stück «Heidi» gespielt hat, dass ihr Freunde fehlen und dass sie sich vorstellen kann, irgendwann in der Zukunft in Bern zu arbeiten. «Aber leben möchte ich hier, im Saanenland.» Dort, in Bern, in der Stiftung Rossfeld, hat sie das neunte und zehnte Schuljahr absolviert. «Ich hatte dort ganz schlimmes Heimweh», erinnert sie sich. Die Lernfortschritte wurden kleiner. «Fortschritte sind wichtig, damit man sich wohl fühlt. Und wem nicht wohl ist, der macht keine Fortschritte.» Diese philosophische Erklärung gibt mir Nadia ungefragt und sie bleibt in meinem Kopf hängen. «Im letzten November war meine Verfassung wirklich schlecht.» Sie machte sich viele Gedanken darüber, was sie in Zukunft machen möchte. Das beanspruchte Nadias Psyche sehr und brachte sogar ihren Körper durcheinander. Mit alternativmedizinischen Therapien konnte sie sich stabilisieren und heute glaubt sie: «In Bern zu arbeiten, würde meinen Geist fördern und ich könnte mehr Kontakte finden.»
Die Beweglichkeit wäre grösser, die Möglichkeiten zahlreicher. «Hier kann ich mich nicht kurzfristig entscheiden, mit dem Zug irgendwohin zu fahren.» Warum nicht, hake ich nach und Nadia erklärt: «Ich muss mich im Saanenland für jede Zugfahrt anmelden und nach 19 Uhr kann ich nicht mehr transportiert werden – zu wenig Personal.» Ich bin fassungslos und kann es kaum glauben. Nadia aber lächelt mich an und sagt: «Du musst dich nicht aufregen, es ändert nichts.» Und mir kommt augenblicklich das von Therapeutin Corina Gesagte in den Sinn, mit dem sie mir Nadias Potenzial beschrieb: «Sie hat die Gelassenheit, die mir manchmal fehlt.»
Nadia wirkt sehr zufrieden während der Therapie. Auch als sie in Schönried aus dem Bus aussteigt und sich mit mir auf den Weg nach Hause macht. Wieder umfährt sie souverän die hervorstehenden Gullydeckel, Absätze und Löcher. Daheim angekommen bringt sie der Treppenlift vor die Wohnungstür, die sie per Knopfdruck öffnet. Alles ist so eingerichtet, dass Nadia sich bewegen kann, ohne dass ständig jemand an ihrer Seite sein müsste. «Meine Familie ist mein starker Hintergrund.» Mutter Patricia, Vater Hansueli und Bruder Björn machen bis heute fast alles möglich, chauffieren Nadia, wenn das mit dem ÖV eben nicht klappt, nehmen sie mit auf die Ski, begleiten sie zum Schwimmen, ermutigen sie in Schule und Beruf.
Nadia geht arbeiten. Ein kleines Pensum auf der Gemeinde und ein anderes in der Alpenruhe. «Mir liegen die Zahlen eher als Buchstaben». Der Computer ist ihr vertraut, Einstellungen an der Hardware ermöglichen es ihr, trotz eingeschränkter Feinmotorik die verschiedenen Programme zu bedienen. «Also eine Formel ins Excel einzugeben, das schafft ja jeder.» Sie erkennt meinen Zweifel und amüsiert sich. Während sie mir detailliert und unterhaltsam beide Stellenbeschriebe schildert, wächst meine Überzeugung, dass Nadia stark im Anleiten und Erklären ist.
Nadia ärgert sich auch manchmal. Wenn Menschen streiten, über kleine, unbedeutende Sachen diskutieren. Oder wenn sie ihr gegenüber Hemmungen haben. «Dabei tun sich die jungen Menschen, also meine Generation, häufig schwerer, als die Menschen im Alter meiner Eltern zum Beispiel.» Nadias Freundeskreis definiert sich im Moment eher über die Kolleginnen und Kollegen der Eltern. Viele würden beim Rauchen Kontakte knüpfen. «Aber dafür mit dem Rauchen anzufangen, das will ich nicht.» Ganz klar für Nadia, keine Diskussion. «Ich kann gut verstecken, wenn ich genervt bin», beschreibt sie sich selbst. Das erwies sich jedoch als sehr ungünstig. Nadia leidet seit dem Kindesalter an Epilepsie. Als Kind traten epileptische Episoden vermehrt auf, mit der Pubertät rückte die Erkrankung in den Hintergrund. Und jetzt, wenn es mit Nadia auf Überbelastung und einen möglichen Krampfanfall hinausläuft, weint sie. «Weinen geht gut. Wenn ich weine, baue ich Stress ab», erzählt sie mir. Und ich denke in dem Augenblick: «Wer seinen Körper so gut kennt wie Nadia, dem könnte auch ihre Gelassenheit gelingen.»
Wir stellen Ihnen Menschen vor, die jenseits der Schlagzeilen die Geschichte des Saanenlandes mitschreiben. Leute, die im Hintergrund Fäden spannen, ihr Umfeld mit ihrer Art bereichern oder ganz einfach anders sind. Die Serie rollt wie ein Schneeball durch die Region, denn die Porträtierten wählen jeweils selbst einen/eine Nachfolger/in. Auf Wunsch von Nadia Burri besuchen wir als Nächstes Karin Ast, Lehrerin in Schönried.
ZUR PERSON
Nadia Burri ist mit ihren Eltern Patricia und Hansueli und ihrem Bruder Björn in Schönried daheim. Sie ist in Schönried, Gstaad und im Rossfeld, Bern, zur Schule gegangen. Sie liebt es, sich zu bewegen und sich mit anderen Menschen über alles Mögliche zu unterhalten. Und obschon die beruflichen Optionen für sie im Saanenland sehr überschaubar sind, liebt sie das Leben hier.
JENNY STERCHI