Ein Wahlsonntag in Bolivien
26.08.2025BOLIVIENSPALTE – NEWS VON STEFAN GURTNER
Am Morgen des 17. August machten meine Frau Guisela und ich uns auf den Weg zum Wahllokal, das sich in einer benachbarten Schule befand. Es war ein sonniger und kalter Morgen, denn um diese Jahreszeit haben wir auf der ...
BOLIVIENSPALTE – NEWS VON STEFAN GURTNER
Am Morgen des 17. August machten meine Frau Guisela und ich uns auf den Weg zum Wahllokal, das sich in einer benachbarten Schule befand. Es war ein sonniger und kalter Morgen, denn um diese Jahreszeit haben wir auf der südlichen Erdhalbkugel Winter. Allerdings ist der Winter in der Höhenlage, in der sich unser Wohnort befindet, nämlich auf knapp 2600 Metern, nicht mit dem Winter in der Schweiz zu vergleichen. Zwar kann die Temperatur in der Nacht gegen Null Grad sinken, am Mittag aber steigt sie meistens auf über 20 Grad, weil die Sonne hier aufgrund der Gegebenheiten sehr viel mehr Kraft entwickelt.
Wir waren zu Fuss unterwegs, da in Bolivien an Wahltagen der öffentliche Verkehr und auch das Fahren mit privaten Autos verboten ist. Der Grund besteht darin, dass verhindert werden soll, dass die Bürger unter falschen Namen mittels gefälschter Ausweise ein Wahllokal nach dem anderen aufsuchen, um mehrfach ihre Stimme abzugeben. Vorgehensweisen dieser Art sind leider in der Geschichte Boliviens immer wieder vorgekommen. Die Wahlen von 2019 haben allerdings eindrücklich gezeigt, dass Wahlbetrug heutzutage auch auf ganz andere Weise begangen werden kann.
Über den Volksaufstand, der unmittelbar im Anschluss an die Wahlen 2019 stattfand und dazu führte, dass der amtierende Präsident Evo Morales aus dem Land flüchten musste, hatte ich damals in einer Bolivienspalte berichtet. Zwar kam seine Partei MAS (Movimiento al Socialismo) 2020 mit ihrem Kandidaten Luis Arce dennoch wieder an die Macht, wie damals zu lesen war, seine Regierung jedoch stand unter einem unguten Stern. Luis Arce stritt sich mit Evo Morales, der aus dem Exil zurückgekehrt war und im Hintergrund weiterhin die Fäden ziehen wollte, vom ersten Tag an, was sie letztendlich zu Gegnern machte.
Die Partei teilte sich daraufhin in zwei Lager, umso mehr als Morales immer wieder öffentlich betonte, so schnell wie möglich in das Amt zurückkehren zu wollen – und das, obwohl ihm dies nach der Verfassung gar nicht erlaubt ist. Seither hat er unermüdlich versucht, die Regierung seines ehemaligen Gefährten und Finanzministers zu sabotieren und sogar gewaltsam zu stürzen; bevorzugtes Mittel waren Strassenblockaden, wodurch die Städte oft wochen- und sogar monatelang von der Versorgung mit Lebensmitteln und Treibstoff abgeschnitten waren. Bei den Versuchen der Polizei, die Blockaden aufzulösen, kam es immer wieder zu schweren, bürgerkriegsähnlichen Zusammenstössen. Als Morales endgültig vom gegenwärtigen Wahlkampf ausgeschlossen wurde, kam es zu weiteren heftigen Unruhen und der Ex-Präsident musste sich im Chapare-Tal, einem der grössten Koka-Anbaugebiete der Welt, woher er ursprünglich stammt, regelrecht verschanzen, um einer Verhaftung zu entgehen.
Das Problem fehlender Devisen verschärfte den Konflikt um ein Weiteres und heizte die Stimmung im Volk auf. Der Gasverkauf in die Nachbarländer Argentinien und Brasilien, von dem das Land in den letzten 20 Jahren gelebt hatte, war zusammengebrochen und die Regierung hatte es schlicht und einfach versäumt, neue Quellen zu erschliessen. «In unserem Land stirbt niemand vor Hunger, da es immer irgendwo eine Banane oder ein Stück Brot gibt», heisst ein geflügeltes Sprichwort in Bolivien. Jetzt gibt es aber auf dem Markt oft keine einzige Banane mehr und der Preis des Brotes ist um die Hälfte gestiegen. Wir haben im Moment eine zweistellige Inflation und es kommt vor, dass unser Schwiegersohn eine Nacht Schlange stehen muss, um einen halben Tank Benzin zu ergattern. Jetzt standen wir also vor dem Problem, eine neue Regierung zu wählen und das, obwohl es lange so ausgesehen hatte, als ob die Wahlen wegen der anhaltenden gewalttätigen Ausschreitungen in den Strassen gar nicht stattfinden könnten.
Neben dem Wahllokal, besagter Schule, waren wie immer, wenn Wahlen stattfanden, mehrere Buden aufgebaut. Im Allgemeinen herrschte dort ein munteres Treiben, wo die Menschen gesellig beieinander standen und einen Api tranken. Api ist ein heisses Maisgetränk aus rotem, gemahlenem Mais, das man in Bolivien gerne zum Frühstück trinkt. Auch wir hatten uns dort immer gerne eingefunden und uns auf den Api gefreut. Beim Anblick dieser menschenleeren Buden schimpfte Guisela regelrecht vor sich hin und zog mich weiter mit den Worten: «Die Lust darauf ist mir gründlich vergangen!»
Die letzten Hochrechnungen zeigen, dass die Wahl überraschenderweise vom gemässigten, christdemokratischen Politiker Rodrigo Paz vor dem rechtsgerichteten Ex-Präsidenten Jorge Quiroga (Libertad y Democracia) gewonnen wurde und die Regierungspartei MAS, seit 20 Jahren an der Macht, eine schwere Niederlage erlitten hat. Viele Wähler dachten wohl, dass Rodrigo Paz weniger harte Massnahmen ergreifen würde als Quiroga, aber ebenso viele fragen sich jetzt, ob diese genügen werden, um die Wirtschaftskrise zu stoppen. Am 19. Oktober kommt es nun zu einem zweiten Wahlgang. Der Ausgang ist ungewiss, denn keiner von beiden hat eine Mehrheit im Parlament, was bedeutet, dass sie von Allianzen abhängig sein werden. Wer auch immer gewinnt, es wird ein hartes Stück Arbeit werden, das Land zu einen und die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Diejenigen, die am meisten darunter leiden werden, sind wieder einmal die ärmsten Bevölkerungsschichten, die sich, überspitzt gesagt, nicht einmal eine Banane oder ein Stück Brot leisten können. Ein wahrhaft grossartiges Geschenk zum 200-jährigen Bestehen der Republik, das dieses Jahr gefeiert wurde!
STEFAN GURTNER
Stefan Gurtner ist im Saanenland aufgewachsen und lebt seit 1987 in Bolivien in Südamerika, wo er mit Strassenkindern arbeitet. In loser Folge schreibt er im «Anzeiger von Saanen» über das Leben mit den Jugendlichen. Wer mehr über seine Arbeit erfahren oder diese finanziell unterstützen möchte, kann sich beim Verein Tres Soles, Walter Köhli, Seeblickstrasse 29, 9037 Speicherschwendi, E-Mail: walterkoehli@ bluewin.ch erkundigen. Spenden: Tres Soles, 1660 Château-d’Oex, IBAN: CH20 0900 0000 1701 6727 4.. www.tres-soles.de