Eine in der Hölle leidende Seele oder doch ein mutiger Kerl?
08.08.2025 RegionRANDNOTIZ
KEREM S. MAURER.
Die geneigte Leserschaft hat es mitbekommen: Ich war vor Kurzem auf einer Alp, wo ich tibetischstämmige Nepalesen kennenlernen durfte. Als Halter eines Tibetspaniels – er heisst Bahdro von Löwenherz – verfolgte ich bei ...
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KEREM S. MAURER.
Die geneigte Leserschaft hat es mitbekommen: Ich war vor Kurzem auf einer Alp, wo ich tibetischstämmige Nepalesen kennenlernen durfte. Als Halter eines Tibetspaniels – er heisst Bahdro von Löwenherz – verfolgte ich bei diesem Alpbesuch nebenbei auch einen ganz eigennützigen Zweck.
Einer Legende zufolge liess sich Buddha höchstselbst, als er noch auf Erden wandelte, von Tibetspaniels begleiten. Wenn dem Erleuchteten dabei Gefahr drohte, verwandelten sich seine kleinen Begleithunde in tapfere Löwen und verteidigten den Buddha. Männliche Tibetspaniels tragen bis heute stolz eine Fellpracht, die ohne viel Fantasie als Löwenmähne bezeichnen werden kann. Dies ist im übrigen auch der Ursprung für Bahdros Namenszusatz «von Löwenherz». Eine weitere Legende besagt, dass tibetische Mönche, die sich in ihrem Leben fehlbar verhalten haben, dereinst als Tibetspaniel wiedergeboren werden.
Einer Aussage des Züchters zufolge ist Bahdro ein tibetischer Name, der soviel wie «der glücklich Beseelte» bedeutet. Was für ein hübscher Name! Genau, Sie ahnen es: Wenn ich schon einmal tibetischstämmige Nepalesen treffe, wollte ich von ihnen die Bedeutung von Bahdros Name bestätigt bekommen. Stolz zeigte ich einem von ihnen ein Foto – was für ein herziges Hündli! –, erzählte ihm von Bahdro und was dieser Name meiner Meinung nach bedeute. Der Nepalese schaute mich lange an, dann schüttelte er den Kopf. «Nein. Bahdro bedeutet: dessen Seele in der Hölle leidet.»
Autsch.
Nach dieser besorgniserregenden Antwort verzichtete ich wohlweislich darauf, zu eruieren, ob die anderen Legenden stimmten. Was, wenn anstelle eines Löwen etwas ganz anderes in meinem Hund steckt? Nein, ich will es nicht wissen! Wieder zu Hause angekommen, begrüsste mich Bahdro wie immer mit einem fröhlichen Freudentänzchen. Ich knuddelte ihn liebevoll und sagte wie immer: «Hoi Bahdro.» Sofort lieferte eine innere Stimme die Alternative: «Hoi, du in der Hölle Schmorender». So kann man doch kein Lebewesen nennen, erst recht nicht eines, das man von ganzem Herzen lieb hat. Ich konfrontierte meine liebe Anna mit meiner inneren Zerrissenheit.
Pragmatisch, wie meine Lebenspartnerin ist, griff sie zu ihrem Smartphone, wischte und tippte in schwindelerregender Geschwindigkeit auf dem Display herum, lächelte und sagte: «Blödsinn.» Dann hielt sie mir ihr Telefon hin. «Bahdro bedeutet mutig.» Die Quelle war ein Tibetisch-Deutsches-online-Wörterbuch. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Vermutlich hatte ich Bahdros Name nur falsch betont oder nicht korrekt ausgesprochen. Jedenfalls kann ich ihm wieder in seine braunen Augen schauen und ihn als «mutiges Löwenherz» und «glücklich Beseelten» bezeichnen.
Ob dies nun wirklich die korrekte Übersetzung ist oder nicht, ist mir seit meinem Besuch auf der Alp so ziemlich egal.
kerem.maurer@anzeigervonsaanen.ch