Eine Lesung in Santa Cruz – «Das Grüne Weizenkorn»
30.09.2025Am 12. September dieses Jahres wurde ich von einer Privatschule, dem Colegio Internacional de la Sierra in Santa Cruz, zu einer Lesung vor einer Gruppe von Schülern über «Das grüne Weizenkorn» eingeladen. In Zusammenarbeit mit dem Verlag La Hoguera lädt die Schule ...
Am 12. September dieses Jahres wurde ich von einer Privatschule, dem Colegio Internacional de la Sierra in Santa Cruz, zu einer Lesung vor einer Gruppe von Schülern über «Das grüne Weizenkorn» eingeladen. In Zusammenarbeit mit dem Verlag La Hoguera lädt die Schule schon seit mehreren Jahren Schriftsteller aus dem ganzen Land ein, um so die nationale Literatur zu fördern und neue Leser zu gewinnen.
In meinem Vortrag habe ich zunächst darüber berichtet, wie und warum ich überhaupt nach Bolivien gekommen bin. Anschliessend habe ich, begleitet von einer kleinen Inszenierung, die ich für diese Lesung vorbereitet hatte, eine kleine Szene aus dem Buch vorgelesen – und zwar, als die Landmaus Achaku zum ersten Mal in den gut gefüllten Keller der Stadtmäuse eindringt. In der dann noch verbleibenden Zeit wurden die Fragen der Schüler beantwortet.
Nachfolgend eine kurze, inhaltliche Zusammenfassung der Lesung: 1987 kam ich als Freiwilliger nach Bolivien, um in der Armenküche San Calixto zu arbeiten, einem Jesuitenprojekt in La Paz, wo sozial benachteiligte Menschen aller Art anzutreffen waren, vor allem Migranten, die vom Land in die Stadt kamen, um für wenige Centavos eine heisse Suppe zu bekommen. Es war ein wichtiges und notwendiges Projekt, da das Land gerade die schlimmste Wirtschaftskrise seiner Geschichte hinter sich hatte, die Tausende von Menschen in die Armut getrieben hatte.
In derselben Suppenküche lernte ich Guisela, meine zukünftige Ehefrau, kennen und eine Gruppe von Strassenkindern, die dort Zuflucht suchten. Es gab also zwei gute Gründe zu bleiben, obwohl dadurch meine gesamten Zukunftspläne über den Haufen geworfen wurden. In den folgenden Jahren gründeten meine Frau und ich die Kinderund Jugendgemeinschaft Tres Soles und die Theatergruppe Ojo Morado mit dem Ziel, mehr als nur reine Wohlfahrt anzubieten, sondern sich darüber hinaus auf Bildung durch Kunst zu konzentrieren, um den Kindern eine Chance auf einen veränderten Lebensweg zu geben.
Wir befanden uns mitten in diesen Anfängen, als zu Beginn der 1990er-Jahre zwei subversive Gruppen, die «Comisión Néstor Paz Zamora» (CNPZ) und die «Ejército Guerrillero Tupac Katari» (EGTK), welche die kapitalistischen Strukturen durch den bewaffneten Kampf zu zerstören suchten, auf der Bildfläche erschienen. Néstor Paz Zamora war ein früherer Guerrillakämpfer und Tupac Katari ein Rebellenanführer, der einen Aufstand gegen die Kolonialmacht angeführt hatte. Die CNPZ machte sich mit der Geiselnahme von Jorge Lonsdale, Manager von Coca-Cola und Präsident eines Fussballklubs, einen Namen. Bei dem Versuch, den Geschäftsmann am 5. Dezember 1990 zu befreien, starben er und drei seiner Entführer.
Kurz darauf entstand die EGTK, die «mehr als ein halbes Dutzend Terroranschläge verübte, die mehrere Tote, Verletzte und schwere Sachschäden forderten. Sie wurde jedoch zerschlagen, diesmal ohne Gewalt», wie Carlos D. Mesa Gisbert in seinem Buch «Historia de Bolivia» festhält. Die Anführer der Bewegung wurden inhaftiert und in diesem Zusammenhang wurde auch ich festgenommen.
In Wirklichkeit war es eine Falle, die mir während eines Arbeitsgerichtsverfahrens gestellt wurde, um uns zu erpressen, nach dem Motto «der Gringo hat schliesslich Geld». Meine Frau und ich erfuhren jedoch später, dass die Behörden uns schon lange im Verdacht gehabt hatten, subversiv tätig zu sein, weil wir mit den schwächsten Schichten der Gesellschaft arbeiteten, und dass dies der wahre Grund für die Verhaftung gewesen sei. Glücklicherweise griff die Schweizer Botschaft ein, sonst hätte ich wohl eine Zelle mit Álvaro García Linera, einem der Anführer der Gruppe und späterer Vizepräsident des Plurinationalen Staates Bolivien unter Evo Morales, geteilt.
Monatelang wurde in den Zeitungen und Fernsehnachrichten über nichts anderes berichtet, sodass die Kinder im Projekt begannen, uns Fragen zu stellen: «Wer sind die? Warum machen die das? Was wollen sie damit erreichen?» Kindern eine Guerrillabewegung zu erklären, ist natürlich sehr schwer. Folglich schrieb ich für die Kinder zum besseren Verständnis eine Kurzgeschichte über die Hintergründe und Ursachen dieser Ereignisse, die damals das ganze Land in Aufruhr versetzten. Sie basierte auf der alten Fabel von der Landmaus und der Stadtmaus. Natürlich können die Ursachen eines Guerillakriegs nicht auf die problematischen Beziehungen zwischen Land und Stadt beschränkt werden, aber in diesem Fall war dies sicherlich richtig.
Die kleine Maus Achaku kommt mit ihrer Familie auf der Suche nach neuen Möglichkeiten in die Grossstadt, merkt aber schnell, dass die Stadtmäuse die neuen Bewohner nicht willkommen heissen. Achaku und sein Freund Puraka werden Zeugen des blutigen Kampfes um die Lagerräume und Speisekammern der Menschenhäuser, der zwischen dem Anführer der Stadtmäuse, dem Grossen Nager, und dem Grünen Weizenkorn, wie die von den Landmäusen initiierte Bewegung genannt wird und die von Q’asa, Achakus älterer Schwester, angeführt wird, entbrannt ist.
«Die Landmäuse hat man aus der Stadt verstossen», erklärt Apu, ein alter, weiser Mäuserich, der kleinen Maus Achaku, indem er frei den Dichter Joseph von Eichendorff zitiert. «Niemand kümmert sich um sie. Sie müssen sich ihr Futter selbst nehmen – was ist Futter gegen Recht?»
Diese Kurzgeschichte, die ich für die Kinder des Projekts Tres Soles schrieb, arbeitete ich, als sie grösser wurden, nach und nach zum Jugendroman «Das grüne Weizenkorn» um, wie wir es heute kennen. Natürlich flocht ich auch die Lebensgeschichten der Jungen und Mädchen ein, die meistens ländliche Wurzeln hatten. Das Buch erschien erstmals 2004 im Verlag Los Amigos del Libro, in Deutschland im darauf folgenden Jahr bei Edition AV, wo es von der Kritik ebenfalls wohlgefällig aufgenommen wurde.
STEFAN GURTNER
Stefan Gurtner ist im Saanenland aufgewachsen und lebt seit 1987 in Bolivien in Südamerika, wo er mit Strassenkindern arbeitet. In loser Folge schreibt er im «Anzeiger von Saanen» über das Leben mit den Jugendlichen. Wer mehr über seine Arbeit erfahren oder diese finanziell unterstützen möchte, kann sich beim Verein Tres Soles, Walter Köhli, Seeblickstrasse 29, 9037 Speicherschwendi, E-Mail: walterkoehli@ bluewin.ch erkundigen. Spenden: Tres Soles, 1660 Château-d’Oex, IBAN: CH20 0900 0000 1701 6727 4. www.tres-soles.de