Eine Pionierin stellt sich dem Leben
29.12.2023 KulturWas heute glücklicherweise Normalität ist, war bis ins späte 20. Jahrhundert noch überhaupt keine Selbstverständlichkeit: Musikerinnen mit Festanstellung in klassischen Berufsorchestern.
ÇETIN KÖKSAL
1982 gewann die Schweizerin ...
Was heute glücklicherweise Normalität ist, war bis ins späte 20. Jahrhundert noch überhaupt keine Selbstverständlichkeit: Musikerinnen mit Festanstellung in klassischen Berufsorchestern.
ÇETIN KÖKSAL
1982 gewann die Schweizerin Madeleine Carruzzo als erste Frau ein Probespiel bei den Berliner Philharmonikern als Tuttigeigerin. Das Wiener Pendant in dieser Königsklasse der grossen, sinfonischen Klangkörper liess sich sogar bis 1997 Zeit. Harfenistin Anna Lelkes brach den Damm und bezog als erste und vorerst einzige Frau ihre Stelle in dem über 100-köpfigen Kollektiv. Dabei sollte man bedenken, dass es zur damaligen Zeit durchaus eine ziemlich klare Vorstellung von «männlichen» und «weiblichen» Instrumenten gab. Harfe galt als besonders feminin, Perkussion und eigentlich alle Blechblasinstrumente als besonders maskulin. Bei den anderen Instrumenten waren die Grenzen fliessender, ausser bei den Stimmführern und Solobläsern. Bis diese Führungspositionen Frauen anvertraut wurden, verging nochmals Zeit – wie in vielen anderen Berufen auch. Erstaunlicherweise wurden jedoch (Gast- ) Dirigentinnen schon viel früher eingeladen. Am 5. November 1887 dirigierte Mary Wurm die Berliner Philharmoniker bei einem Konzert in der Singakademie. Diese Schülerin von Clara Schumann war zudem sehr erfolgreich als Klaviersolistin in Europa auf Tournee und betätigte sich als begabte Komponistin.
Es war ebenso in Berlin, als 1976 die erste Soloposaunistin beim Radio-Symphonie-Orchester Berlin ihr Können unter Beweis stellen konnte. Sie hatte soeben ihr Studium an der Musikhochschule abgeschlossen und sich auf die frei gewordene Stelle bei diesem Orchester beworben. Erhalten hat die Festanstellung aber ihr – selbstverständlich männlicher – Kollege, der kurz darauf aus gesundheitlichen Gründen ausfiel. Infolgedessen offerierte das Orchester Pia Bucher einen Aushilfsvertrag als Soloposaunistin. Der Beginn einer beeindruckenden Karriere und eines noch beeindruckenderen Lebenswegs. Pia Bucher durfte dieses Jahr ihren 70. Geburtstag feiern und ich habe sie aus diesem Anlass zu einem interessanten Gespräch getroffen.
Bewegte Kindheit im Entlebuch
Pia Bucher lebt heute mit ihrem Lebenspartner in St. Stephan. Aufgewachsen ist sie mit ihren fünf Schwestern und einem Bruder im streng katholischen Entlebuch. Die Mutter führte einen Landgasthof, der Vater betrieb eine Schreinerei. Musik war in der Familie allgegenwärtig. Es wurde viel gesungen, denn Fernsehen oder gar Netflix gab es nicht, wobei der Vater Posaune und Trompete sowohl in der Militärmusik als auch in der örtlichen Kirchenmusik spielte. Blasmusik gehörte überhaupt zum ersten Genre, das Klein Pia mit ihren Geschwistern zu Ohren kam. Spannend war natürlich auch die Vinylschallplatten-Jukebox im elterlichen Restaurant mit ihren neu zu entdeckenden Ohrwürmern. Pias Geschwister entschieden sich teilweise für die Gitarre, Handorgel oder Trompete, während die zweitjüngste Pia immer schon ein Faible für die Posaune hatte. Ein grosses Vorbild war selbstverständlich ihr Vater. «Diese etwas melancholischen, dennoch majestätischen, weich samtigen Klänge, die er seinem Instrument entlocken konnte, zogen mich früh schon in ihren Bann – sehr schnell wusste ich, dass ich auch Posaune spielen möchte», erinnert sich die spätere Soloposaunistin.
Konkret wurde ihr Entschluss aber erst im Teenageralter, da die Familie früh von Schicksalsschlägen getroffen wurde. Die Mutter verstarb, als Pia zwei Jahre alt war. Mit 16 zog Pia Bucher von zu Hause aus, wollte auf eigenen Beinen stehen und professionelle Posaunistin werden. In Luzern angekommen, verdiente sie sich ihre Brötchen mit Kellnern und wurde zeitgleich beim städtischen Musikkonservatorium (heute Musikhochschule) vorstellig. Das Problem war nur, dass es damals gar keine Berufsschulklasse für Posaune in Luzern gab. Die äusserst willensstarke, junge Frau überzeugte demzufolge ihren Posaunenlehrer, sie als Berufsschülerin aufzunehmen, damit sie zur Aufnahmeprüfung in die Berufsschule des Konservatoriums antreten konnte. Es war während dieser Zeit, als sich ihr musikalischer Horizont von der gewohnten Volks-, Militär- und wienerischen Salonmusik um Mozart, Beethoven und viele weitere «Klassiker» erweiterte. «Die ‹Jupitersinfonie› oder die ‹Mondscheinsonate› gefielen mir besonders, aber auch die Geigen und Klaviere generell, die ich während des Studiums nun täglich am Konsi hörte», erzählt Pia Bucher. Als sie ihr Grundstudium als Erste in Luzern auf dem Instrument Posaune mit dem Lehrdiplom abschloss, verabschiedete sich ihr Lehrer mit sinngemäss folgenden Worten von ihr: «Sei dir immer bewusst, dass du eine Pionierin in deinem Beruf bist. Du kannst es weit bringen, wirst es aber nicht einfach haben. Der Musikbetrieb muss sich erst an eine Posaunistin auf diesem Niveau gewöhnen.» Wie recht er doch hatte.
Karriere
Berlin war die nächste «Station», wo die junge, vielversprechende Posaunistin ein Jahr lang bei Prof. Johann Doms studierte und anschliessend – wie erwähnt – für einige Monate im Radio-Symphonie-Orchester Berlin als erste Posaunistin aushalf. «Wat will denn det Weib hier?», so die «aufmunterndherzliche» Begrüssung der Orchesterkollegen. In Pia Bucher weckte dieses Misstrauen – nur aufgrund ihres Geschlechts – wieder einmal den ausgeprägten Kampfgeist: «Natürlich wusste ich, dass ich klar besser als meine männlichen Kollegen spielen musste, um akzeptiert zu werden.» Keine zu unterschätzende Situation, musste die doch noch unerfahrene Jungmusikerin sowohl dem Solistendruck als auch demjenigen, sich als Frau in diesem Beruf beweisen zu müssen, standhalten. Pia Bucher stand ihre Frau und gewann bald schon das Vertrauen und den Respekt ihrer Kollegen.
Nach dieser ersten Erfahrung in einem Berufsorchester dieses Niveaus trat sie beim Probespiel des Philharmonischen Orchesters Freiburg im Breisgau an und wurde prompt zur neuen Soloposaunistin gewählt – als erste Frau in dieser Position im ganzen deutschsprachigen Raum. Gleichzeitig studierte sie in Bern an der Hochschule der Künste bei Prof. Branimir Slokar weiter. «Jeden Mittwoch fuhr ich mit dem Zug von Freiburg in die Schweiz und nach dem Unterricht wieder zurück nach Deutschland – eine anstrengende, aber sehr schöne Zeit», so Pia Bucher im Rückblick. Dazu kam dann noch die Aufnahme in das «Slokar Trombone Quartet» ihres Professors. Von 1977 bis 1992 war sie Mitglied dieses Ensembles, welches international Konzerte gab und diverse CDs aufnahm.
1978 wechselte Pia zudem von Freiburg im Breisgau nach Bern, wo sie während 14 Jahren die Stelle als erste Soloposaunistin im Berner Sinfonieorchester innehatte. Ergänzende Auftritte als Solistin und Kammermusikerin wie auch Rundfunk-, TV- und CD-Aufnahmen bescherten ihr einen überaus vollen Terminkalender. In diese Zeit fiel ebenso die Teilnahme als Soloposaunistin im Schweizerischen Festspielorchester Luzern (heute Lucerne Festival Orchestra). In besonderer Erinnerung bleibt ihr dabei ein Auftritt mit den Berliner Philharmonikern – ein Gastkonzert der 5. Sinfonie von Bruckner unter der Leitung von Herbert von Karajan. Ab 1978 war Pia Bucher zudem als Lehrerin an verschiedenen Musikhochschulen in der Schweiz und Österreich gefragt.
Ein Leben hört auf …
Ein Weilchen schon genierte die vielbeschäftigte Musikerin ein wackeliger Schneidezahn, was für eine Bläserin im Besonderen ein Problem darstellt, kann der wackelnde Zahn doch zu unerwünschten Tonveränderungen führen. Die damals 38-Jährige kam infolgedessen nicht um eine parodontale Operation herum. Alles verlief so weit planmässig, sodass der betroffene Schneidezahn nicht mehr wackelte. Pia Bucher konnte wieder wie gewohnt ihren mannigfachen Verpflichtungen als Posaunistin nachkommen. Wenn da nur nicht allmählich ein anderes Problem aufgetaucht wäre. Mit Schrecken stellte die Solistin in bestem Alter fest, dass sich ein Problem in der Erzeugung der Mittellage manifestierte. Irgendetwas funktionierte nicht mehr, wie es sollte, und mithilfe von vielen Ärzten versuchte sie herauszufinden, was. Auftritte mussten abgesagt werden, was zuweilen zu Kopfschütteln und Unverständnis führte. Böse Zungen schreckten nicht davor zurück, die erfolgreiche Posaunistin als Simulantin zu beschuldigen. Pia Bucher übte weiterhin auf ihrem Instrument und rechnete fest mit einer baldigen Heilung. Die rege Konzerttätigkeit sollte möglichst bald fortgesetzt werden können, doch eine HNO-Untersuchung ergab keine richtige Diagnose und der Verlust der Mittellage wurde zum Dauerzustand.
Auf Empfehlung von französischen Musikerfreunden liess sie sich dann noch von einem spezialisierten Musikermediziner in Lyon untersuchen, der ihr endlich eine Diagnose unterbreiten konnte: Fokale Dystonie im Kehlkopf – ohne Aussicht auf Heilung. Pia Bucher umschreibt ihre damalige Gefühlslage folgendermassen: «Einerseits war ich erleichtert, dass mein Leiden endlich erkannt wurde, man mich ernst nahm und ich die bösartigen Gerüchte hiebund stichfest widerlegen konnte, und andererseits fiel ich natürlich in ein tiefes Loch. Mit knapp 40 verlor ich meinen innig geliebten Beruf, für den ich so gekämpft hatte.»
«Was nun?», lautete die grosse Frage, die ja auch von existenzieller Bedeutung war. Wenn man als Musikerin ihren Lebensunterhalt nicht mehr verdienen konnte, womit dann? In einem Büro oder etwa wieder als Kellnerin wie zur Studienzeit? Eine Starposaunistin, die sich wegen Berufsinvalidität umschulen lassen muss. Was für jedermann in einer solchen Situation schwierig ist, fällt Künstlern auf diesem Niveau besonders schwer, denn sie identifizieren sich enorm mit ihrem Beruf, der zugleich Hingabe und Passion ist. Um höchste Niveaus zu erreichen, müssen Musiker sehr jung bereits sehr fokussiert auf ihre Tätigkeit sein. Fast ihr ganzes Leben hat sich nach ihrer Tätigkeit zu richten, wobei sie die Liebe zur Musik trägt und ihnen die Energie für diese anstrengende Lebensaufgabe verleiht. Fällt ein solches, mit viel Mühe, Schweiss und Fleiss aufgebautes Kartenhaus in sich zusammen, steht man vor einer grossen Leere. Pia Bucher brauchte ungefähr drei Jahre, um akzeptieren zu können, dass ihr Leben als Posaunistin vorbei war.
… ein Neues beginnt
Eher durch Zufall kam sie in Berührung mit Kinesiologie und machte selbst damit gute Erfahrungen. «Plötzlich wusste ich: Das will ich, das wird mein neuer Beruf», erklärt die Musikerin ihr Aha-Erlebnis. Ihr Kampfgeist meldete sich wieder, erblühte zu neuer Stärke und half ihr, sich aufzurappeln und wieder zu hoffen.
Zwei Jahre nach der niederschmetternden Diagnose begann Pia Bucher eine Ausbildung zur Musikkinesiologin am Institut für Kinesiologie in Freiburg im Breisgau und zur Kinesiologin-KineSuisse in der Schweiz. Nach erfolgreichem Abschluss und verschiedenen Weiterbildungen in Spezialgebieten der Kinesiologie und Körperarbeit, arbeitete sie bis zur Pensionierung 2021 in ihrer eigenen Kinesiologiepraxis in Langenthal. Ihre musikermedizinischen Schwerpunkte waren Retraining für Blechbläser bei Ansatzdystonien, Stressbewältigung, Auftrittscoaching und Bühnenpräsenz – das alte Leben fand also doch noch eine gewisse Fortsetzung. Ein weiteres Beispiel dafür war die Gründung der Schweizerischen Gesellschaft für Musikmedizin, welche Pia Bucher als Mitinitiantin ins Leben gerufen hatte.
So allmählich versöhnte sie sich mit ihrem Schicksal und heute, mit 70 Jahren, blickt sie dankbar zurück auf ein äusserst reich erfülltes Berufsleben. Dennoch blitzt bei aller Positivität manchmal ein ganz kleines bisschen Verlustschmerz auf – wer würde dies nicht verstehen.