Einem tragischen Unglück auf der Spur

  22.07.2022 Lauenen

Ein Ehepaar aus Zweisimmen entzifferte auf einem verwitterten Gedenkstein auf der Wanderung vom Lauenensee ins Rohr, dass im August 1952 am Louwibach ein 16-jähriges Mädchen ums Leben gekommen war. Diese Inschrift liess die beiden nicht mehr los: Sie begannen zu recherchieren und wurden fündig. Hier ist der Bericht des Paares:

Tragödie vom 11. August 1952 am Louwibach

Auf dem Wanderweg vom Rohr zum Lauenensee entlang dem Louwibach begegnet dem aufmerksamen Wanderer auf der Höhe der Rossfalleschlucht beim Heitiloch ein Gedenkstein mit der Inschrift:
«IN CHRISTUS STERBEN WIR. HIER STÜRZTE AM 11. AUGUST 1952 DIE SECHZEHNJÄHRIGE VERONIKA BÄSCHLIN IN D' SCHLUCHT.»
Was geschah damals vor 70 Jahren? Die Familie Bäschlin aus Herrliberg ZH verbrachte ihre Ferien im Sommer 1952 in Lauenen. Die Eltern hatten während der Ferien eine 40-jährige Kinderschwester angestellt, die ihnen bei der Betreuung ihrer fünf Kinder hilfreich zur Seite stand. Veronika war mit 16 Jahren das älteste Kind, dann folge die 15-jährige Regula, die 12-jährige Annemarie und die zwei Buben Christoph und Johannes, 8 und 4 Jahre.

Wie schon oft in den Tagen zuvor macht sich die Familie am Morgen vom 11. August 1952, dem letzten Ferientag, auf den Weg von Lauenen in Richtung Lauenensee. Während die Eltern mit Christoph, dem Zweitjüngsten, zum Lauenensee wandern, begibt sich die Kinderschwester, wie schon etliche Male im Laufe der fünf Ferienwochen, mit den übrigen vier Kindern auf den Weg dem Louwibach entlang in Richtung Heitiloch. Um zum Heitiplatz zu gelangen, laufen sie jeweils dem Weg entlang bis hinauf zur Legerlibrügg und überqueren dort den Bach. An besagtem Tag hat die Kinderschwester plötzlich die Idee, man könne doch eine Abkürzung nehmen und beim Heitiloch den Bach überschreiten. Sie geht schon mal hinüber und Veronika folgt ihrem Beispiel. Sie animiert die anderen Kinder, ebenfalls herüberzukommen. Doch die 15-jährige Regula, mit dem vierjährigen Johannes an der Hand, findet es zu riskant und nimmt, in Begleitung ihrer jüngeren Schwester Annemarie, etwas weiter oben den sicheren Weg über die Brücke, um sich beim Heitiplatz mit den anderen zwei wieder zu treffen. Gemeinsam werden Beeren gesammelt bis in den Nachmittag hinein, bevor man sich wieder auf den Heimweg begibt. Regula mit Johannes und Annemarie machen sich schon mal auf und nehmen denselben Weg über die Brücke,so wie sie am Morgen gekommen sind. Die Kinderschwester und Veronika bleiben noch etwas zurück und beabsichtigen, wiederum die Abkürzung über den Bach zu nehmen, um auf die andere Seite zu gelangen.

Einige Zeit später, auf dem Rückweg dem Louwibach entlang, hören Veronikas jüngere Geschwister die Kinderschwester mit lauter Stimme unentwegt «Vroni, Vroni, Vroni …» schreien und sehen sie wie versteinert am jenseitigen Bachufer stehen, völlig hilflos und unter Schock. Auf dem Heimweg mit den Kindern sagt sie wiederholt in einem furchtbar erregten Zustand: «Wo ist sie, wo ist sie!?!» Zurück in Lauenen sind die Eltern mit Christoph bereits zu Hause. Als den Eltern von Veronikas «Verschwinden» berichtet wird, alarmiert der Vater die Polizei. Die Kinderschwester schweigt eisern und bleibt stumm, wenn sie gefragt wird, was geschehen sei. Sie weint nur und macht keine Aussage zum Vorfall. Veronika ist verschwunden!

Nicht ohne Hoffnung wird die ganze Nacht nach der Vermissten gesucht – aber vergeblich. In den folgenden Tagen beteiligen sich auch Militär und Bergführer vom Schweizer Alpen-Club an der Suchaktion. Auch Freunde der Familie sind bemüht, nach Spuren der vermissten Veronika zu suchen. Alle Bemühungen bleiben ergebnislos. So kommt das Gerücht auf, das Mädchen sei womöglich entführt worden.

Ziemlich genau ein Jahr später wird im Rohr hinter Lauenen ein Oberarmknochen und ein Unterkieferknochen aufgefunden. Ebenfalls wurde durch das Wasser ein Stück eines Turnschuhes angeschwemmt. Anhand der Zahnfüllungen im Unterkiefer kann die Identität der Vermissten Veronika eindeutig festgestellt werden. Auch kann festgestellt werden, dass es sich beim angeschwemmten Stück eines Turnschuhes um die Fussbekleidung der Vermissten handelt. Was genau am Unglückstag geschah, bleibt im Verborgenen. Offenbar führte der Louwibach nachmittags mehr Wasser und war wilder als am Morgen. Anscheinend zeigte Veronika Mut oder wurde von der Kinderschwester aufgefordert, den Bach zu überqueren. Es ist vorstellbar, dass Veronika von einem Stein zum anderen stieg und mit dem Kesseli voll Heidelbeeren in der Hand das Gleichgewicht verlor. Oder sie glitt auf einem glitschigen Stein aus, stürzte ins Wasser und wurde weggeschwemmt hinunter in die Rossfalleschlucht und ertrank. Die Kinderschwester schwieg eisern über den Vorfall, wissentlich, dass sie wegen fahrlässiger Tötung hätte angeklagt werden können.

Veronika war ein junges, talentiertes und lebensfrohes Mädchen. Schauspielerin und Schriftstellerin wollte sie werden. Sie war die Enkelin von Pfarrer Theodor Bäschlin, welcher von 1900 bis 1910 in Saanen als Pfarrer geamtet hatte.

Damit die Tragödie am Louwibach vom 11. August 1952 nicht in Vergessenheit gerät, wurde auf Initiative des damaligen Pfarrers in Lauenen, Paul Kramer, der besagte Gedenkstein in der Nähe der Unglücksstelle aufgestellt.

Eine der letzten Dichtungen Veronikas «Auf Berges Höhe» (Ausschnitt aus dem Aufsatz «Richard»): «Die Grossmutter erzählt ihren Enkeln von lange vergangener Zeit. Es wird der Jüngling zum Manne, es eilet und laufet die Zeit. Und was entstanden vergeht, und neues Leben entsteht. Doch hier auf des Berges Höhe eilt umsonst die Zeit, denn tausend Jahre schon stehet des Berges Haupt, und spottet dem unruhigen Treiben der Menschen. Und der Schuldige fühlet zitternd die Nähe des Schöpfers.»
Veronika Bäschlin, 1952

ZUSAMMENGESTELLT VON EINEM WANDERERPAAR AUS ZWEISIMMEN

Epilog
Das Wandererehepaar aus Zweisimmen konnte im Internet nichts zu dem Unglück finden. Auf Umwegen allerdings haben die beiden eine Schwester der damals Verunglückten ausfindig machen können, Annemarie Bäschlin aus Ringoldingen, heute 82-jährig. Auch Arthur Annen-Burri, auf dessen Land sich der Gedenkstein befindet, konnte Informationen zur Rekonstruktion des Unglücks beisteuern.


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