Entdeckungsvielfalt beim Beethoven-Festabend

  23.08.2022 Kultur

Wenn das Konzert vom vergangenen Samstagabend «sinfonische Raritäten» von Beethoven ankündigte, war dieser Titel tatsächlich nicht zu hoch gegriffen. Die beiden ersten Werke stehen eher selten auf einem Programm, und ihre Entdeckung war für einen Grossteil des Publikums sicher eine besondere und bereichernde Überraschung. Zu entdecken waren auch die jungen, verheissungsvollen Künstler Dmitry Smirnov und Edgar Moreau, die zusammen mit dem phänomenalen Royal Philharmonic Orchestra aus London im Tripelkonzert brillierten.

KLAUS BURKHALTER
Diese Entdeckungsfreuden schmälern in keiner Weise die Präsenz und Ausstrahlungskraft des weiteren Programms und der Ausführenden an diesem wahrhaft festlichen Konzertabend. Der Pianist Sergei Babayan und die Zürcher Singakademie steuerten unter der befeuernden Leitung von Vasily Petrenko ebenfalls ihren grossen Anteil zum unvergesslichen Erlebnis bei.

Drei Werke aus Beethovens «mittlerer Schaffensperiode»
Das Tripelkonzert op.56 für Klavier, Violine, Violoncello und Orchester, das zeitgleich mit der 5. Sinfonie und der Oper «Fidelio» entstand, ist eigentlich ein Klaviertrio mit orchestraler Begleitung. Die drei Solisten haben eindeutig den gewichtigeren, ausgeprägteren Part, sie führen die Melodien ein, geben dem Werk besonders im 2. Satz einen kammermusikalischen Charakter und lassen das Orchester an dem Ideenreichtum teilhaben.

Ein sehr spezielles Werk ist die Chorfantasie op.80, die Beethoven am 22. Dezember 1808 in Wien als krönenden Abschluss eines vierstündigen Musikabends auf das Programm setzte. Alle Mitwirkenden sollten am Ende zusammengeschlossen werden, doch war dies damals etwas des Guten zu viel und musste sogar kurz unterbrochen werden … Das Werk beginnt mit einer langen, intensiven «Fantasie auf dem Klavier», dann treten schrittweise die Streicher und die Bläser des Orchesters hinzu, bis schliesslich nach langem Warten die Solisten und der Chor zum grossen Finale einsetzen. Die Parallelen zu der 9. Sinfonie sind sowohl im etwas zähen Aufbau wie auch im Hauptthema unverkennbar. Die «Ode an die Freude» lässt grüssen!

Das Eingangsmotiv der 5. Sinfonie, das «Ta-ta-ta-taaa», ist weltbekannt. Es hat schon musikalische Bearbeitungen aller Stilrichtungen beeinflusst. Das Werk wird auch als «Schicksalssinfonie» bezeichnet, entstand ebenfalls 1808 in der Zeit europäisch-napoleonischer Wirren und zog mit ihrer rhythmischen Kraft seit jeher Menschen in ihren Bann. Sie sollte auch den Weg von der Nacht zum Licht darstellen, vom düsteren c-Moll zum strahlenden C-Dur.

Weltklasseinterpretationen
Dieser Titel ist nicht zu hoch gegriffen, denn alle Ausführenden prägten ihre Einsätze hervorragend. Im Tripelkonzert durfte man drei grossartige Solisten bewundern. Der Violinist Dmitry Smirnow, 1994 in St. Petersburg geboren, ist Preisträger bedeutender internationaler Wettbewerbe. Sein Spiel war gezeichnet durch Energie, Präzision, Ernsthaftigkeit, auch Wildheit, wenn er mit einer grossen Geste seine Melodien abschloss. Er stand in wunderbarem Einklang mit dem Cellisten Edgar Moreau, 1994 in Paris geboren, auch er ein schon mit 15 Jahren ausgezeichneter Musiker. Die beiden Streicher waren in ständigem Blickkontakt zueinander, spielten sich die Passagen in Übereistimmung zu, ob weich-träumerisch oder in rasenden Tempi. Der 2. Satz glich eher einem Cellokonzert, in dem sich Moreau mit jugendlichem Enthusiasmus richtig entfalten konnte. Sergei Babayan, in Armenien geboren, aber nun amerikanischer Staatsbürger, ist einer der grossen Pianisten unserer Zeit. Als Trio-Partner hielt er sich sehr zurück, war total anpassungsfähig mit äusserst weichem Klavierklang, aber auch mit expressivem Ausdruck, wenn es die Musik erforderte. In der Chorfantasie hatte Babayan eine zentrale Rolle. Enorm intensiv, differenziert und variantenreich führte er ins Werk ein, er prägte mit seiner Virtuosität die grossen Kontraste und riss so Chor und Orchester zu den nachfolgenden Einsätzen mit.

Die Leitung aller Werke lag unter dem Zauberstab des Dirigenten Vasily Petrenko. Dieser führte das Royal Philharmonic Orchestra London, ein absolutes Ausnahmeorchester, durch den Abend. Stand er bei den ersten Werken noch etwas hinter dem Flügel verborgen, durfte man ihn bei der 5. Sinfonie voll bewundern. Er hatte alles im Griff, übertrug seine Absichten auf seine Musiker mit seinen fliessenden Bewegungen und seinem Temperament, das sowohl feurige Szenen wie auch bewundernswert intime Stille ausströmen konnte. Als Begleiter der solistischen Nummern entpuppte er sich als einfühlsamer, mitgestaltender Partner, in der Sinfonie hingegen führte er das Szepter und entlockte seinem Orchester unglaublich differenzierte Klänge. Dies war eine weitere unerwartete Entdeckung des Abends: Die allseits bekannte Sinfonie erhielt in Petrenkos Darstellung ein neues Gesicht. Offenbar liebten alle Musiker die besondere Gestaltung dieses Werkes, sie «gehorchten» den Absichten ihres Chefs, jedes Register bot traumhaft schöne Passagen. Betörende, kaum hörbare Pianissimi führten über gefühlvolle Crescendi zu übersprudelnden Freudetänzen. Petrenko, mit dem ganzen Körper bis zu den Fingerspitzen mitgestaltend, wirkte wie ein Maler, der sein Gemäldekunstwerk in den Raum stellte: ein Ereignis für alle und eine echte Visitenkarte diese Orchesters!

Auch die Zürcher Sing-Akademie, die oft weltweit auf Tournée ist, konnte sich in ihrem relativ kurzen Einsatz in der Chorfantasie auszeichnen als klare, kraftvoll und beweglich gestaltende Singgemeinschaft mit herrlichem Chorklang. Gerne hätte man ihr noch länger zugehört!

Die Begeisterung des Publikums im grossen Festivalzelt war berechtigterweise riesig. Sie erwirkte eine betörende Zugabe mit einem deutschen Tanz von Schubert, nochmals in absoluter Zartheit gespielt, und nochmals vor einer mucksmäuschenstillen Zuhörerschaft. Danke für diese Beethoven-Sternstunden!

Erwähnenswert scheint mir in dieser leiderfüllten Zeit die Haltung der beiden russischen Musiker Petrenko und Smirnow. Beide distanzieren sich klar von der russischen Invasion. Der Geiger wohnt mit seiner Frau in der Schweiz, der Dirigent hat «sechs Tage nach Beginn des schrecklichen Ereignisses seine Arbeit in Russland ausgesetzt … bis der Frieden wiederhergestellt sein möge».

 


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