Der November ist ein stiller Monat. Sogar bei uns im Saanenland gibt es Nebeltage… Die Berge tragen den ersten Schnee. Die Tage werden kurz.
In dieser Zeit scheint alles langsamer zu gehen.
Es ist, als würde das Jahr einen letzten tiefen Atemzug nehmen, bevor es ...
Der November ist ein stiller Monat. Sogar bei uns im Saanenland gibt es Nebeltage… Die Berge tragen den ersten Schnee. Die Tage werden kurz.
In dieser Zeit scheint alles langsamer zu gehen.
Es ist, als würde das Jahr einen letzten tiefen Atemzug nehmen, bevor es loslässt.
Und auch für uns Menschen ist es eine intensive Zeit. Die kurzen Tage, das nasskalte Wetter macht etwas mit uns und unseren Gedanken. Wir halten inne. Wir denken an Menschen, die nicht mehr bei uns sind, an Wege, die zu Ende gegangen sind, an Momente, die sich nicht wiederholen.
Erinnern – das ist nicht bloss Rückschau. Erinnern ist Bewahren.
Wir tragen das, was war, in unseren Herzen – manchmal leise, manchmal überraschend lebendig. Manchmal tut es weh, manchmal schenkt es Wärme.
Und manchmal leuchtet eine Erinnerung auf wie eine Perle, die im Dunkeln schimmert.
Wahrscheinlich ist das die eigentliche Kunst des Lebens – seine innere Wahrheit: die Perlen zu erkennen, zu hüten, ohne sie festzuhalten.
Nichts auf der Welt ist für immer beständig. Alles hat seine Zeit und vergeht irgendwann.
Wir können nichts konservieren, weder Zeit noch Menschen, weder Glück noch Nähe.
Aber wir haben die Gabe, uns zu erinnern. Und das macht unser Leben reich.
In diesen Erinnerungsperlen steckt Segen. Denn alles, was wir geliebt haben, hat uns geformt. Jeder Mensch, der uns begleitet hat, hat Spuren hinterlassen.
Jeder Abschied hat uns – bei allem Schmerz – auch etwas gelehrt.
So ist das Leben ein Geflecht aus unzähligen Fäden, die sich kreuzen, verknoten, manchmal auch reissen.
Und Gott hält sie alle in seiner Hand.
Im reformierten Glauben betonen wir nicht das Verweilen beim Vergangenen, sondern das Vertrauen darauf, dass Gott das Vergangene trägt.
Wir dürfen glauben, dass unsere Verstorbenen in Gott geborgen sind – und dass ihre Geschichten weiterklingen, solange sie in unseren Herzen einen Platz haben.
Wenn wir im November Namen verlesen, Kerzen anzünden, Blumen niederlegen, dann tun wir das nicht, um festzuhalten.
Wir tun es, um zu danken. Danken für das, was war. Für die Zeit, die wir geschenkt erhalten haben. Für die Liebe, die bleibt.
Vielleicht können wir unsere Erinnerungen wie eine Kette von Perlen sehen: jede unterschiedlich, keine perfekt rund, manche matt, manche glänzend.
Aber zusammen ergeben sie etwas Kostbares – ein Schmuckstück unseres Lebens. Und wenn die Tage dunkler werden, dürfen wir diese Perlen in die Hand nehmen und spüren: Sie leuchten noch.
«Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet», sagt Gott im Buch Jesaja. Ein leiser Trost, kein lauter. Ein Trost, der nicht erklärt, sondern umfängt.
Vielleicht ist das Erinnern genau das: eine stille Form des Trostes.
Eine Weise, Gott inmitten unserer Geschichten zu finden – nicht in der Vergangenheit verloren, sondern mitten in der Gegenwart.
So lade ich Sie ein, in diesem November still zu werden und auf die Perlen Ihres Lebens zu schauen. Auf die Menschen, die Sie geprägt haben. Auf die Momente, die Sie getragen haben. Auf die Spuren der Liebe, die geblieben sind.
Denn das Schöne vergeht nicht. Es verwandelt sich.
Und manchmal, wenn das Licht durch den Nebel bricht, ahnen wir: Alles, was wir mit Liebe getan und empfangen haben, bleibt – in Gott und in uns behütet und bewahrt.
MARIANNE KELLENBERGER