Erinnerung an die Schwalbenkatastrophe vom Herbst 1974
22.10.2024 LeserbeiträgeGenau vor 50 Jahren ereignete sich die Schwalbenkatastrophe. Eine Kaltfront führte im Herbst 1974 dazu, dass Zugvögel nicht mehr über die Alpen fliegen konnten. In Deutschland, Österreich und auch schweizweit wurden Schwalben eingefangen und in Kartons nach Spanien und ...
Genau vor 50 Jahren ereignete sich die Schwalbenkatastrophe. Eine Kaltfront führte im Herbst 1974 dazu, dass Zugvögel nicht mehr über die Alpen fliegen konnten. In Deutschland, Österreich und auch schweizweit wurden Schwalben eingefangen und in Kartons nach Spanien und Italien verfrachtet. Unsere Leserin Theres Gaber erinnert sich an den ebenso beispiellosen Einsatz der Bevölkerung im Saanenland – aus eigenen Beobachtungen und Erzählungen ihres Vaters. Eine Rekonstruktion des schicksalhaften Oktobers 1974.
Im Jahr 1974 war ich zehnjährig und daher kann ich mich nur noch schwach an die Schwalbenkatastrophe erinnern. Alles Weitere hatte mir mein Vater, der während vierzig Jahren als Chef im Kraftwerk Sanetsch (KWS) tätig war, erzählt.
Im Herbst 1974 war es über lange Zeit regnerisch und kalt, die Schneefallgrenze sank bis unterhalb des Wasserfalls, der am Sanetsch gut sichtbar war. In den Bergen eigentlich keine Seltenheit, aber in diesem Jahr machte es gerade den Anschein, dass von nun an der Winter regieren will.
In einem Zweifamilienhaus in Gsteig hatten wir eine Dienstwohnung, die von den bernischen Kraftwerken (BKW) an ihre Angestellten vermietet wurde. Die Eltern und meine drei Geschwister wohnten im Parterre und im oberen Stock war die Familie Tauss zu Hause. Herr Tauss, der natürlich auch im Kraftwerk arbeitete, hatte zwei Mädchen, sie waren in meinem Alter.
Eines Tages beobachteten die Männer, wie eine grosse Anzahl Schwalben rund um die Turbinenhalle kreiste. Die Vögel warteten auf eine Lücke in der Wolkendecke, damit sie ihre Reise in den Süden fortsetzen konnten.
Aber das schlechte Wetter machte es unmöglich, den Sanetschpass zu überqueren, das garstige Wetter wollte einfach keine Pause machen! So jagten die Schwalben über der Turbinenhalle nach spärlich vorhandenen Fluginsekten und genossen zugleich die Wärme, die vom Generator verursacht und als Abwärme nach draussen geleitet wurde. Es waren unzählige Schwalben, die verzweifelt um ihr Leben kämpften, denn das Nahrungsangebot wurde bereits knapp und der Hungertod bedrohte die Vögel.
Mit Sondersendungen im Schweizer Radio und Fernsehen wurde über das drohende Schwalbensterben informiert. Die schweizerische Vogelwarte in Sempach gab Ratschläge und Empfehlungen, wie den geschwächten Schwalben geholfen werden könnte.
Das Thema beschäftigte die Menschen und eine Solidaritätswelle erfasste die Schweiz. Auch im «Amtsanzeiger von Saanen» wurde das Schwalbensterben erwähnt. Es wurden Zeiten und Sammelstellen bekannt gemacht, wie zum Beispiel das Schulhaus, wo die Kartonschachteln mit den geretteten Schwalben abgegeben werden konnten. Natürlich durften auch nur Kartonschachteln gebracht werden, denn ohne sie wäre die ganze Rettungsaktion gescheitert. Jede Schachtel wurde kontrolliert, schliesslich durften sie nicht ohne Atmungslöcher eingesetzt werden. Und nun wurden die gespendeten Schachteln an die Helfer weitergegeben.
Plötzlich wurde den Männern vom Kraftwerk bewusst, dass sich die Schwalben in Not befanden. Das grosse Tor der Turbinenhalle wurde geöffnet und es fand ein Luftaustausch statt. Nahe am Boden strömte eine Menge kalte Luft in die Halle und ganz oben strömte die selbe Menge warme Luft wieder nach draussen. Da gegenwärtig Strom produziert wurde, war die Halle hell beleuchtet. Die Vögel mussten also nur dem Licht und der Wärme folgen.
Doch die Turbine lief, ein ohrenbetäubender Lärm dröhnte durch die Halle und die Männer befürchteten, dass die bereits geschwächten Vögel vertrieben werden könnten. Aber die Männer beobachteten, dass sich ganze Schwärme von Schwalben, wie von einem unsichtbaren Staubsauger angesogen in die lärmende Halle drängten. Sie flatterten direkt unter das Dach, setzten sich auf den Laufkran, der nur quer über die Halle manövriert werden konnte. Jene, die auf dem Kran keinen Platz fanden, setzten sich auf dessen Laufwerk, Drähte und Kabel. Auch vorstehende Mauersimse und Fensterbretter wurden besetzt, alle fanden ihren Platz an der Wärme. Endlich hatten die Vögel Rettung gefunden, offenbar konnte sie die lärmende Turbine nicht abschrecken. Die grossen Tore wurden wieder geschlossen das Licht gelöscht und nun sassen die Vögel in der Dämmerung. Die Männer machten Feierabend, sie gingen nach Hause und draussen wurde es Nacht.
Sicher hatten einige Männer zu Hause von den gestrandeten Schwalben erzählt und wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht im Dorf. Schnell wurden Helfer und auch Neugierige organisiert, sie erschienen ausgerüstet mit Taschenlampen und viel Motivation beim Kraftwerk. Der Weg zum Kraftwerk war ca. einen Kilometer vom Dorf entfernt und auf einer Zufahrtsstrasse gut erreichbar. Unter den Helfern war auch Hans Bettler, der Mann meiner Lehrerin aus der Unterschulklasse. Jetzt war Mut gefragt, denn die Helfer mussten in die Höhe klettern, damit sie die Vögel einfangen konnten. Und Herr Bettler war einer der Mutigen. Er kletterte auf den grossen Kran, packte eine Schwalbe, setzte sie in das selbst mitgebrachte Körbchen und legte ein Tuch darüber. Sorgfältig liess er das Körbchen, das an einer Schnur befestigt war, auf den Boden gleiten. Die Vögel konnten problemlos gefangen werden, sie waren bereits zu erschöpft, um Gegenwehr zu leisten. Am Boden nahmen die Helfer das Körbchen in Empfang und setzten die Schwalbe in die vorbereitete Kartonschachtel. Alle Schwalben, egal ob Rauch- oder Mehlschwalbe, wurden – ohne lange zu überlegen – in dieselbe Kartonschachtel gesetzt. Aber besonders die Rauchschwalbe kann ihren Lebensraum aggressiv verteidigen. Nun wurde sie mit ihren Verwandten zusammen eingesperrt und war wohl zu schwach, um auch noch Revierkämpfe auszutragen.
Das Einfangen der Vögel erforderte viel Geschick, Zeit und Geduld. Jeder Vogel musste einzeln gefangen werden. Mein Vater erzählte mit sichtbarem Stolz, dass die Helfer alle Vögel gefangen hätten.
An diesem Abend brachten Herr Tauss und mein Vater gerettete Schwalben nach Hause. Sie platzierten die Kartonschachteln auf einer Stufe im Treppenhaus, aber wie viele es waren, kann ich nicht mehr sagen. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich mich neben die Schachtel setzte und unbedingt wissen wollte, wie eine Mehloder eine Rauchschwalbe aussieht. Meine Schwester und auch die Mädchen der Familie Tauss konnten keine Antwort geben. Ich vermute, sie waren auch im Treppenhaus, denn diese Sensation durften wir uns nicht entgehen lassen. Wir hatten die Idee, eine Schachtel ganz vorsichtig zu öffnen, aber mein Vater wollte unserem Bitten und Betteln nicht nachgeben. Es wurde uns streng verboten, die Vögel auch nur für kurze Zeit anzuschauen. Wir waren enttäuscht und so versuchten wir durch die Atmungslöcher zu blinzeln, um doch noch etwas zu sehen. Aber trotz intensivsten Anstrengungen: Niemand von uns konnte etwas sehen oder auch nur etwas hören. Die Stille war unheimlich und sie liess uns zweifeln. Sind in der Kartonschachtel lebende Vögel? Ich wollte die Wahrheit wissen und stiess kurz dagegen. Jetzt hörte ich das Umhertapsen von zahlreichen kleinen Füsschen. Aber sogleich und ganz gehässig rief jemand aus der elterlichen Wohnung, augenblicklich hätte ich die armen «Schwälbchen» in Ruhe zu lassen!
Am nächsten Morgen waren die Kartonschachteln aus dem Treppenhaus verschwunden. Vielleicht hatte mein Vater die Schachteln an die Sammelstelle gebracht und von dort wurden sie mit einem Lastwagen weiter transportiert oder brachte er sie sogar auf die Post, damit sie mit dem ersten Postautokurs nach Gstaad mitgenommen wurden? Und sicher kamen in Gstaad noch weitere Kartonschachteln dazu, die von Vogelfreunden aus dem Turbach und der Lauenen geschickt wurden. Vielleicht wurden die Schachteln bereits in Gstaad in einen Lastwagen geladen, oder wurden sie doch mit der Montreux-Berner Oberland-Bahn (MOB) nach Zweisimmen gebracht? Fuhren die Lastwagen bereits von Gstaad direkt nach Spiez, damit die Vögel durch das zusätzliche Umladen auf die nächste Bern-Lötschberg-Simplon-Bahn (BLS) nicht noch mehr gestresst werden? Leider weiss mein Vater nicht mehr, wie die Transportwege organisiert waren.
Aber die Transporte mussten speditiv erfolgen, sonst würde die Rettungsaktion zum Misserfolg werden. Die Schwalbentransporte waren in der ganzen Schweiz kostenlos, somit entfiel ein umständliches Frankieren. Aus der ganzen Schweiz wurden Kartonschachteln mit der Schweizerischen-Bundesbahn (SBB) nach Zürich geschickt und dort der Städtischen Seepolizei übergeben. Die am Abend bei der Seepolizei eingetroffenen Schwalben – zumeist waren es Jungvögel – mussten vor ihrer Weiterreise in den Süden noch mit Hackfleisch gefüttert werden. Die geschwächten Vögel durften auf keinen Fall länger als eine Nacht ohne Futter bleiben. So mussten die zahlreichen freiwilligen Helfer sehr viel Geduld und Durchhaltewillen mitbringen. Teilweise wurden die Schwalben auch direkt nach Kloten geschickt und dort von der Swissair auf ihren Kursflügen nach Nizza, Marseilles, Barcelona, Palma de Mallorca, Madrid und Tunis mitgenommen. Vor ihrem Abflug wurden die Vögel auch in Kloten liebevoll gepflegt und registriert. An einem Tag transportierte die Swissair mit Unterstützung von Air France und Iberia 90’000 Schwalben. Am Zielflughafen eingetroffen wurden die Kartonschachteln von Swissair-Angestellten in Empfang genommen und sogleich auf das Land gebracht. Endlich durften die Schwalben ihre Kartonschachteln verlassen, die Freiheit und die Wärme geniessen.
Über weite Teile von Europa sorgte eine lang anhaltende Tiefdrucklage für die Schwalbenkatastrophe vom Herbst 1974. Über hunderttausend Schwalben waren gestorben, aber dank der grossartigen Rettungsaktion konnten mehr als eine Million Schwalben gerettet werden. Es war wohl die grösste Artenschutzhilfsaktion in der Geschichte. Aber ohne den Einsatz von zahlreichen Vogelfreunden, wie meinem Vater, wäre die Rettungsaktion kläglich gescheitert.
Und am 9. Oktober 1974 war in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) zu lesen: Mehr als zweitausend Schwalben suchten am Vortag über dem Ofenhaus der Zementfabrik Wildegg in Aargau Schutz vor der Kälte. Die hungrigen und frierenden Vögel wurden noch am Abend von den Angestellten der Firma eingefangen und mit der SBB ins Tessin geschickt. Aber nach Auskunft der Vogelwarte Sempach war das Wetter im Tessin immer noch zu wenig schwalbenfreundlich. So blieb für die gestrandeten Tiere nur noch die Swissair-Luftbrücke, um sicher in den Süden zu gelangen.
THERES GABER
WAS WAR DIE SCHWALBENKATASTROPHE 1974?
Die sogenannte Schwalbenkatastrophe ereignete sich im Herbst 1974, als ein plötzlicher Kälteeinbruch in Europa die Zugvögel überraschte und sie auf ihrem Weg in den Süden festsetzte. Tausende Schwalben waren aufgrund von Frost und Schneefall im Voralpengebiet und in den Schweizer Alpentälern gefangen. Der plötzliche Wintereinbruch führte zu einem massiven Nahrungsmangel, da bei Temperaturen um den Gefrierpunkt kaum noch Fluginsekten als Nahrung zur Verfügung standen.
Um ein Massensterben zu verhindern, starteten Vogelschützer in Deutschland und der Schweiz eine gross angelegte Rettungsaktion. Insgesamt wurden rund 1,5 Millionen Schwalben per Flugzeug, Bahn und Auto in den Süden transportiert. Zahlreiche Freiwillige, darunter auch die Feuerwehr und die Polizei, halfen dabei, die erschöpften Vögel zu sammeln, zu füttern und in sichere Regionen zu bringen. Allein über den Flughafen Stuttgart wurden mehr als 250’000 Schwalben ausgeflogen, während weitere 130’000 Vögel von Frankfurt aus transportiert wurden.
Obwohl die Rettungsaktion ein beachtliches Ausmass hatte, waren die Verluste dennoch hoch. Viele Schwalben starben bereits vor dem Transport, da sie durch die Kälte stark geschwächt waren. Auch schlechte Transportbedingungen führten zu einer Sterblichkeitsrate von bis zu 30 Prozent. Besonders betroffen waren die Rauchschwalben, die körperlich schlechter vorbereitet waren.
Die Schwalbenkatastrophe von 1974 machte auf die Gefahren plötzlicher Wetterumschwünge für Zugvögel aufmerksam und betonte die Bedeutung intakter Brutbiotope.
EOP
Quellen:
Naturschutzbund Deutschland (NABU)
Zoologische Botanische Datenbank (ZOBODAT)
Schweizer Radio und Fernsehen (SRF)