«Es wird zu wenig unternommen, um das ungeborene Leben zu schützen!»

  29.07.2022 Interview

Gegenwärtig werden für zwei Initiativen, die das Abtreibungsgesetz thematisieren, Unterschriften gesammelt. Nationalrat Erich von Siebenthal unterstützt diese Initiativen. Im Interview erklärt er, warum er das tut und weshalb es eine erneute Diskussion um die Fristenlösung braucht.

KEREM S. MAURER

Erich von Siebenthal, sind Sie ein Abtreibungsgegner?
Ja, ich bin gegen Abtreibungen, weil man damit Leben beendet. Wer mich kennt, weiss, dass ich schon immer ein Befürworter dieser Diskussion war. Ich finde, man darf bei dieser Thematik nicht wegschauen.

Mit der Fristenlösung hat die Schweiz verglichen mit dem europäischen Ausland bereits eine eher strenge Lösung. Muss diese zusätzlich verschärft werden?
Wer die Initiativtexte liest, erkennt, dass es nicht um eine Verschärfung geht. Mit der Initiative «Für einen Tag Bedenkzeit vor jeder Abtreibung» wollen wir erreichen, dass die abtreibungswillige Frau ihren Entscheid noch einmal überdenkt. Sie soll noch einmal darüber schlafen, bevor sie das Kind wegmacht, damit ihr Entscheid nicht unter Zeitdruck gefällt wird.

Mit der Initiative «Für den Schutz von ausserhalb des Mutterleibs lebensfähigen Babys» sollen nach der zwölften Schwangerschaftswoche alle Bestimmungen ausser Kraft gesetzt werden, die den Schwangerschaftsabbruch zu einem Zeitpunkt zulassen, in dem das Kind ausserhalb des Mutterleibes atmen kann.
Das ist richtig. Es geht darum, welche Chancen man dem werdenden Kind gibt. Beide Initiativen sind darauf ausgerichtet, dass man die betroffenen Frauen unterstützt und ihnen mehr Zeit gibt, sich zu entscheiden. Uns ist klar, dass Abtreibungswillige sich in einer schwierigen Situation befinden. Oft scheint es der einfachste Weg zu sein, den Weg der Abtreibung zu wählen. Doch Studien zeigen, dass bei den Frauen nach einer Abtreibung etwas hängen bleibt. So ein Eingriff geht nicht spurlos an ihnen vorüber. Mit einer Abtreibung ist das Problem kaum zu lösen.

Müssen denn in Ihren Augen auch Frauen, die nach einer Vergewaltigung schwanger werden, diese Kinder zur Welt bringen?
Eine Vergewaltigung ist ein grosses Elend. So etwas ist abscheulich, absolut verwerflich. Aber daraus kann halt eine Schwangerschaft entstehen. Und auch hier stellt sich die Frage, ob der Frau nicht mehr geholfen wäre, wenn sie das Kind zur Welt bringt. Auch das kann doch eine Chance sein.

Wenn ein Vergewaltigungskind geboren wird, erinnert es seine Mutter doch tagtäglich an dieses Geschehnis.
Vielleicht, aber das muss nicht sein. Es gibt auch Wunder und Ereignisse, die man nicht erklären kann. Und plötzlich schafft es die Frau und sie kann dieses Kind lieben. Das ist nicht auszuschliessen.

Angenommen, eine Frau kann ihr Vergewaltigungskind nicht lieben, erfährt es keine Mutterliebe, bekommt psychische Defizite und muss ärztlich oder stationär betreut werden. Das generiert Kosten. Wer soll dafür aufkommen?
Vergewaltigungskinder, die ihr Leben lang darunter leiden, müssen das irgendwie durchstehen. Es kann aber auch möglich sein, dass sie anderweitig Liebe erfahren. Wichtig ist, dass es Menschen gibt, die zusammen mit der Mutter den Entscheidungsweg gehen. Doppelt schlimm wird es doch, wenn zum Elend der Vergewaltigung für die betroffene Frau noch das Leid einer Abtreibung hinzukommt.

Soll werdenden Müttern das Recht abgesprochen werde, selber zu entscheiden, was mit dem in ihr heranwachsenden Kind geschiehe? Oder anders gefragt: Wollen Sie diese Frauen bevormunden?
Nein, ich will diese Frauen nicht bevormunden, das steht mir nicht zu, auch wenn die Rechte der Ungeborenen meines Erachtens mehr geachtet werden müssen. Aber das ganze Umfeld, Gesellschaft und Politik, sollte diese Frauen besser unterstützen und ihnen aufzeigen, dass es auch einen Weg ohne Abtreibung geben kann.

Woher nehmen Sie die Idee, dass jede befruchtete Eizelle letztlich als Kind geboren werden muss?
Das ist keine Idee von mir. Grundsätzlich ist unsere Schöpfung so gemacht, dass der Fortbestand der Bevölkerung auf diese Weise geschieht. Und wenn eine Zeugung passiert und das Kind sich entwickelt, dann ist das ein Mensch wie Sie und ich, halt einfach in einem frühen Stadium. Da stellt sich doch die Frage: Haben wir das Recht, ein solches Leben zu beenden? In meinen Augen haben wir diese Kompetenz nicht.

Sind Sie ein gläubiger Mensch?
Ja, die Bibel ist mir wichtig, sie ist mein Boden. Auf ihr baue ich meine Familie, meinen Alltag und folglich auch meine Politik auf. Wenn es um das ungeborene Leben geht, nimmt sich der Mensch relativ viel heraus.

Apropos Fortbestand der Bevölkerung: Die Weltbevölkerung ist ja nicht gefährdet, im Gegenteil. Es gibt Gruppierungen, die viele unserer Weltprobleme auf die Überbevölkerung zurückfahren. Wäre es demnach nicht sinnvoller, man würde abtreibungswillige Frauen einfach gewähren lassen?
Den Gedanken, Abtreibung als Werkzeug für die Bevölkerungsregulierung einzusetzen, weise ich klar von mir! Es gibt doch eine Moral! Auch ein ungeborenes Menschenleben hat Würde verdient. Wenn ein Mensch einmal geboren ist, macht man doch auch alles, damit er am Leben bleibt. Warum denn nicht schon vorher?

Wäre es nicht sinnvoller, anstatt am Abtreibungsgesetz zu schrauben, bei der künstlichen Befruchtung anzusetzen? Schliesslich werden in der Schweiz jährlich im Schnitt 2190 Kinder durch In-vitro-Fertilisation gezeugt? Das ist ja auch ein Eingriff in die Schöpfung.
Kinder zu bekommen ist ein Geschenk und nicht selbstverständlich. Es gibt Beziehungen, in denen das nicht möglich ist. Da stellt sich die Frage: Haben wir das Recht, zusammen mit Politik und Medizin immer mehr möglich zu machen? Und so ständig noch mehr in die Schöpfung einzugreifen? Das ist ein sehr heikles Thema! Muss man heute wirklich alles versuchen, um mit allen Mitteln allen Bedürfnissen gerecht zu werden?

Sie sprechen davon, dass man abtreibungswillige Frauen besser unterstützen muss. Wie denn?
Menschen mit Beeinträchtigungen werden von der Gesellschaft mittels Institutionen wie die Alpenruhe, die alles geben für das Wohl dieser Menschen, begleitet und betreut. So müsste man auch ein Umfeld aufbauen, das den betroffenen Frauen hilft. Mit Ärzten, die den Frauen Personen vermitteln, die ein Stück Weg mit den Frauen gehen, ihnen in ihrer Not beistehen und den Blickwinkel öffnen und aufzeigen, dass die Geburt eines Kindes auch eine Chance sein kann. So, dass sie sich auch für das Kind entscheiden könen.

Auch, um die ungewollten Kinder in einem lebensfreundlichen, liebevollen Umfeld heranwachsen zu lassen und die Frauen auch nach der Geburt noch weiterzubegleiten?
Genau. In einer ersten Phase muss ein Arzt Dreh- und Angelpunkt sein. Und es wäre extrem wichtig, dass diese Begleitung professionell ist mit klaren Strukturen und einer entsprechenden Glaubwürdigkeit. Das alles müsste zusammen funktionieren.

Das würde aber Geld kosten ...
Ja, aber Geld haben wir! Ich bin auch dafür, dass man mit Geld haushälterisch umgeht. Aber wenn ich sehe, wofür man zum Teil Geld ausgibt, egal ob auf Gemeinde-, Kantons- oder Bundesebene, wäre es mir mehr als Wert, hierfür einige Millionen zu investieren.

Wenn man auf die letzten Abstimmungen zurückschaut, in denen Abtreibung eine Rolle spielte, nämlich 2002 und 2014, waren beide Vorlagen deutlich mit über 70 Prozent bachab geschickt worden. Warum sollen jetzt die neuen Initiativen bessere Chancen haben?
Ich hoffe sehr, dass die Stimmbevölkerung wirklich den Inhalt unserer Initiativen anschaut und sich ins Bild setzt darüber, was unser Ziel ist. Ich bitte das Stimmvolk an dieser Stelle, hinzuschauen. Es geht um sehr kleine Schritte, die der betroffenen Frau mehr Unterstützung bieten, wenn sie das Kind nicht abtreibt, sondern ihm eine Chance gibt. Wir sind keine Gruppierung, welche die Fristenlösung kippen will!

Wir wollen, dass man wieder über das Abtreibungsgesetz diskutiert. Heute ist man nicht mehr fähig und bereit, offen über diese Thematik zu sprechen. Darum machen wir so kleine Schritte, in der Hoffnung, dass wir wieder auf Augenhöhe und konstruktiv darüber reden können.

Da geistert noch die Idee einer sogenannten Herzschlag-Initiative durch die Medien. Diese will, dass eine Abtreibung vom Moment an verboten werden soll, ab dem der Herzschlag des Ungeborenen zu hören ist, was etwa ab der sechsten Woche der Fall ist. Viele Frauen wissen aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal, dass sie überhaupt schwanger sind. Es heisst, diese Initiative sei von Ihnen geprägt worden?
Ja, wir haben so etwas in unserer Gruppe schon diskutiert, aber dass dies meine Idee gewesen sein soll, stimmt nicht. Um dazu einen Initiativtext zu erarbeiten, bin ich zu wenig tief im Thema verankert. Und so, wie die Stimmung in unserem Land zurzeit ist, wäre man mit solch einer extremen Initiative definitiv chancenlos.

Aber das Ziel wäre es schon, dass man mit kleinen Schrittchen, wie die beiden erstgenannten Initiativen dies wollen, eines Tages dorthin kommen würde?
Unser Ziel ist es, den Ungeborenen mehr Schutz zu gewähren. Doch wo das schlussendlich hinführt, ist kaum vorauszusagen. Man kann sich viele Ziele setzen, doch irgendwann geht die Zeit vorbei und die Ziele sind nicht mehr relevant. In der Politik müssen wir uns den Realitäten stellen, auch wenn man andere Ideale hat. Unser Ziel ist es, dass wir mit kleinen Schritten wie eben dieser Begleitung, die ich angesprochen habe, eine Klärung der Situation erreichen. Oft sind betroffene Frauen einsam und ziehen sich zurück, weil ihre Not sehr gross ist. Und wenn sie dann Unterstützung bekommen und merken, dass sie über ihre Probleme reden können, kann geteiltes Leid nur noch halbes Leid sein. Dann fühlen sie sich in ihrem Umfeld geborgen und sehen sich vielleicht eher in der Lage, dem Ungeborenen eine Chance zu geben.

Sie sammeln aktiv Unterschriften für die beiden eidgenössischen Volksinitiativen. Diese wurden im Dezember 2021 lanciert und benötigen bis am 21. Juni 2023 je 100’000 Unterschriften. Wie viele Unterschriften sind bis jetzt zusammengekommen?
Ja, ich unterstütze diese beiden initiativen. Natürlich stehen wir noch am Anfang. Bislang haben wir rund 20’000 Unterschriften gesammelt. Also da muss noch etwas gehen.


«FÜR EINEN TAG BEDENKZEIT VOR JEDER ABTREIBUNG (EINMAL-DARÜBER- SCHLAFEN-INITIATIVE»

Die Bundesverfassung wird wie folgt geändert (einen Absatz 4 gibt es bislang nicht):

Artikel 10 Abs. 4:
Das Gesetz sieht Massnahmen zum Schutz des menschlichen Lebens vor, insbesondere auch vor der Geburt.

Art. 197, Ziffer 13:
13. Übergangsbestimmung zu Art 10 Abs. 4 (Massnahmen zum Schutz des menschlichen Lebens, insbesondere auch vor der Geburt)
1 Nach Ablauf von neun Monaten nach der Annahme von Artikel 10 Abs. 4 durch Volk und Stände müssen Ärztinnen und Ärzte vor einem Schwangerschaftsabbruch der schwangeren Frau mindestens einen Tag Bedenkzeit geben. Ausgenommen sind Schwangerschaften, welche die schwangere Frau in akute, nicht abwendbare Lebensgefahr bringen
2 Die Ärztinnen und Ärzte geben ihr einen Leitfaden ab, der sämtliche kantonal und sämtliche national tätigen Beratungs- und Hilfestellen enthält, welche psychologische, finanzielle oder materielle Hilfe anbieten.

Quelle: Initiativkommitee


«FÜR DEN SCHUTZ VON AUSSERHALB DES MUTTERLEIBES LEBENSFÄHIGE BABYS (LEBENSFÄHIGE-BABYS-RETTEN-INITIATIVE)»

Die Bundesverfassung wird wie folgt geändert (einen Absatz 4 gibt es bislang nicht):

Artikel 10 Abs. 4:
Das Gesetz sieht Massnahmen zum Schutz des menschlichen Lebens vor, insbesondere auch vor der Geburt.

Art. 197, Ziffer 13 2:
13. Übergangsbestimmung zu Art 10 Abs. 4 (Massnahmen zum Schutz des menschlichen Lebens, insbesondere auch vor der Geburt)

1 Nach Ablauf von drei Monaten nach der Annahme von Artikel 10 Absatz 4 durch Volk und Stände treten alle Bestimmungen ausser Kraft, die den Schwangerschaftsabbruch zu einem Zeitpunkt zulassen, in dem das Kind ausserhalb des Mutterleibes, allenfalls unter Einsatz intensivmedizinischer Massnahmen, atmen kann.
2 Ausgenommen sind Schwangerschaften, welche die schwangere Frau in eine akute, nicht abwendbare Lebensgefahr bringen.

Quelle: Initiativkommitee


SCHWANGERSCHAFTSABBRÜCHE IN ZAHLEN

Trotz leichten Variationen sind die Schwangerschaftsabbrüche in der Schweiz im Jahr 2021 vergleichbar mit denen vom Vorjahr. 2021 wurden insgesamt 11’869 Schwangerschaftsabbrüche gemeldet. Damit lag die Rate bei 6,7 bei 1000 Frauen, im Jahr 2020 bei 6,8.
Im internationalen Vergleich ist die Rate der Schwangerschaftsabbrüche in der Schweiz niedrig, auch wenn die Abbrüche seit 2017 wieder zunehmen. Ähnliche Abbruchraten wie in den Jahren 2020 und 2021 wurden zuletzt in den 2010 bis 2012 beobachtet.

QUELLE: BUNDESAMT FÜR STATISTIK (BFS)

 


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