Der Rattenschwanz des Fachkräftemangels
05.04.2023 GstaadDie «teure» Kinderbetreuung und die fehlenden Kita-Plätze werden oft als Ursache für den Fachkräftemangel genannt. Allerdings kämpft das Chinderhuus Ebnit selbst mit dem wirtschaftlichen Phänomen, beispielsweise, wenn Betreuende als Quereinsteigende ...
Die «teure» Kinderbetreuung und die fehlenden Kita-Plätze werden oft als Ursache für den Fachkräftemangel genannt. Allerdings kämpft das Chinderhuus Ebnit selbst mit dem wirtschaftlichen Phänomen, beispielsweise, wenn Betreuende als Quereinsteigende zur Schule wechseln. Und wenn kein Fachpersonal da ist, gibt es auch keine Kitaplätze. Ein Blick hinter die Kulissen im Rahmen der Generalversammlung.
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Zu wenig Betreuungsplätze für Kinder, zu teuer, zu lange Wartelisten: Beim Blick in das AvS-Archiv finden sich diese Aussagen mehrfach zu verschiedenen Themen. «Seit Jahren sind wir einem anhaltenden Druck durch Gewerbe, Hotellerie und Tourismus ausgesetzt. Wir müssen uns anhören, dass wir zu wenig anbieten oder zu teuer sind. Nach den Gründen wird allerdings selten gefragt», sagt Patric Bill vom Chinderhuus Ebnit gegenüber dieser Zeitung. Im Rahmen der Generalversammlung legt der Institutionsleiter die Karten auf den Tisch und spricht über das, was der Kita das Leben schwer macht.
Das fehlende ausgebildete (!) Personal
Der Fachkräftemangel ist omnipräsent, so auch in der Kinderbetreuungsbranche. Seit Anfang 2022 hat sich die Situation für sie verschärft: Ein neues kantonales Gesetz verlangt, dass nur noch branchenspezifisch ausgebildetes Personal Kinder betreuen darf – auch wenn es sich um Mitarbeitende handelt, welche das Fachpersonal unterstützen könnten. So müssen die Angestellten im Minimum eine Lehre als Fachfrau/-mann Betreuung EFZ (FaBe) absolviert haben, Studierende einer gleichwertigen höheren Fachausbildung sein oder eine Ausbildungsvereinbarung abgeschlossen haben, mit dem Ziel, das EFZ nachzuholen – doch ist dies laut Gesetzestext nur Personen mit «ausreichendem Lern- und Erfahrungsstand» vorbehalten. Eine Entwicklung, die der Verband Kinderbetreuung Schweiz kibesuisse als positiv bewertet, so schreibt er in einem Positionspapier: «Dass Kindertagesstätten von der Funktionsstufe Praktikum abhängig sind, um die Elterntarife verkraftbar zu halten, ist heute gesellschaftspolitisch nicht mehr tragbar – weder unter dem Aspekt der Nutzung günstiger Arbeitskräfte noch im Hinblick auf die Bildungsqualität, welche unseren Kindern zusteht.» Auch Patric Bill begrüsst die Entwicklung hin zu mehr Qualität in der Kinderbetreuung, steht aber zeitgleich vor einer Herausforderung. «In Zeiten des Fachkräftemangels ist es enorm schwierig, genügend ausgebildetes Personal zu finden.»
Das Einzige, was Abhilfe schaffen könne, sei stetig auszubilden. «Und das tun wir seit jeher. Wir investieren in unsere Leute und dies kommt auch der Region zugute, wenn sie beispielsweise zukünftig in einer anderen Institution arbeiten», so Bill. Zudem würden sie als Institution in einer abgelegenen Region wie dem Saanenland spannende Ausbildungsmöglichkeiten im sozialen Bereich anbieten, wie beispielsweise Sozial- und Heilpädagogen.
Die Abwanderung
Eine weitere Schwierigkeit: Das bestehende Personal zu halten. «Die Bedürfnisse und Ansprüche der Eltern haben zugenommen, damit auch die Belastung für die Kinderbetreuenden.» Durch die Revision der Ausbildung, in der beispielsweise der Begriff «Kleinkinderzieher:in» abgelöst wurde und der Beruf neu mittels Lehre und nicht als höhere Fachausbildung erlernt werden kann, wurde das Fachpersonal auch jünger. «Wir haben eine erhöhte Abwanderung vom Beruf festgestellt. Viele von ihnen absolvieren nach der Lehre die Berufsmatura, gehen vielleicht noch reisen oder studieren in eine andere Fachrichtung. Zudem sind sie beim Eintritt in die Lehre relativ jung, um sich definitiv für eine lebenslange Tätigkeit zu entscheiden. Beim vorherigen System der Kleinkinderzieher:in waren die Leute beim Ausbildungseintritt 18 Jahre alt und älter», schildert Bill.
Des Weiteren sei der Beruf, der mit viel Verantwortung verbunden sei, nicht sehr gut bezahlt. «Im Durchschnitt verdient eine frisch ausgebildete FaBe bei einer Vollzeitanstellung rund 4000 Franken brutto», gibt der Institutionsleiter an. Der Beruf als Lehrperson hingegen sei besser bezahlt und habe andere Arbeitszeitmodelle. Aktuell werde eine Angestellte als Quereinsteigende zur Schule wechseln. Das Problem Fachkräftemangel verlagere sich demnach.
Die Kitaplätze
Die Entwicklung hat direkten Einfluss auf die Gruppengrösse. Laut Kantonsgesetz darf eine qualifizierte Person bis zu fünf Kinder betreuen, zwei Fachkräfte bis zu zwölf Kinder, mit jedem weiteren Mitarbeitenden sind sieben weitere Betreuungsplätze erlaubt. «Weniger Personal bedeutet deshalb auch weniger Kitaplätze. Finden wir keine Leute, gibt es ein kleineres Angebot, dies regelt das Gesetz», resümiert Bill.
Mehr Kitaplätze bedingen allerdings auch mehr physischen Platz. Um in Zukunft eine bedarfsgerechte Infrastruktur anbieten zu können – auch für die Notfallplätze mit internem Schulbetrieb – plant der Verein einen Neubau (siehe Kasten). «Die Liegenschaft ist sanierungsbedürftig. Im Zuge eines Neubaus werden wir mehr Raum für die Kita bauen lassen», erklärt der Institutionsleiter.
Die Tarife
Unabhängig von der Anzahl an Kitaplätzen kostet die Kinderbetreuung im Saanenland etwas – oftmals zu viel, so die Kritik aus Gesellschaft und Wirtschaft. Die Tarife des Chinderhuus Ebnit würden sich im kantonalen Durchschnitt befinden, beteuert Patric Bill. Ein Blick auf die Tarife in der Stadt Bern und anderen Gemeinden im Berner Oberland zeigt: Die Tarife bewegen sich im ähnlichen Preisniveau (siehe Tabelle). Eine Familie, die während zwei Tagen ein Kind in die Kita gebe, bezahle mit den individuellen Betreuungsgutscheinen durchschnittlich 1000 Franken pro Monat an Betreuungskosten – bei zwei Kindern verdoppelt sich entsprechend die Ausgabe. «Das ist viel Geld, das will ich nicht von der Hand weisen», beurteilt der Institutionsleiter. Mit den festgesetzten Tarifen erziele das Chinderhuus Ebnit allerdings keine übermässigen Gewinne.
Die Warteliste
Das System der Wartelisten erfährt ebenfalls Kritik. Daran gehe aber kein Weg vorbei, wenn er die Kitas auch zukünftig finanziell gesund führen wolle und das Angebot langfristig bestehen soll, so der Institutionsleiter. «Heute haben wir in Gstaad eine 100-prozentige Auslastung, in Saanen 98 Prozent. Wir haben fix vergebene Plätze, erhalten dadurch eine Planungssicherheit und können budgetieren.» Ein System auf Nachfrage, bei dem die Eltern ihre Kinder spontan mit einem Anruf abgeben können, würde dazu führen, dass die Kita maximal zu 70 Prozent ausgelastet wäre, befürchtet Bill. «Wir hätten eine fehlende Auslastung, zu viele leere Plätze und fehlende Finanzmittel.»
Bei den Wartelisten werde immer um die Monate Juli und August viel Platz frei, dies aufgrund eines Generationenwechsels: Durch den Übertritt in den Kindergarten werden Plätze frei.
Das Angebot
Wer im Tourismus arbeitet, für den gibt es während der Hauptsaison wenig freie Wochenenden. Für Angestellte eines Hotels, in der Gastronomie oder im Detailhandel wäre ein Betreuungsangebot übers Wochenende hilfreich. Das Gewerbe und die Hotellerie sei mehrmals auf das Chinderhuus Ebnit zugekommen, weshalb der Verein nun einen Pilotversuch für eine saisonale Kitabetreuung starten wolle, wie Patric Bill an der Generalversammlung informierte. «Das Bedürfnis ist nachvollziehbar und wir wollen helfen», so Bill. Das Chinderhuus habe das Angebot beim Kanton abklären lassen. Es gebe nun grünes Licht, um im Herbst einen Versuch zu starten. Es gebe nur zwei Probleme: Zum einen muss der Verein den Fachkräften einen Wochenendzuschlag ausbezahlen, der nur über den Tarif abgewälzt werden könne, erklärt Patric Bill. «Die Betreuungsgutscheine nehmen darauf allerdings keine Rücksicht.» Zum anderen – und da schliesst sich der Kreis – muss er zusätzliches Personal finden, welches aufgrund des Fachkräftemangels rar gesät ist.
Die Lösung?
Im Moment sei keine in Sicht, sagt Patric Bill. «Wir können nur transparent kommunizieren und versuchen, das Verständnis für unsere Situation zu verbessern.» Sollte der Kanton Bern einst überlegen, Quereinsteigende als Betreuungshilfen zuzulassen, könnte sich die Situation etwas entschärfen, so die Einschätzung des Institutionsleiters. Beim Tarif habe es auch die Politik in der Hand, wie stark die Kinderbetreuung subventioniert werde. Ein Paradigmenwechsel wäre seiner Meinung nach die langfristige Lösung, so Bill. «Wir könnten uns ein Beispiel an Schweden oder Deutschland nehmen. Die Kinderbetreuung ist im Bildungssystem als Frühförderung integriert. Der Staat bietet einen Platz an und die Eltern können selbst entscheiden, ob sie davon Gebrauch machen oder nicht.» Wie das Schweizer Radio und Fernsehen SRF Ende 2022 mitteilte, zeigte ein veröffentlichter Bericht des Verbands Advance und des Beratungsunternehmens McKinsey: Das Bruttoinlandprodukt BIP könnte um sechs Prozent gesteigert werden, würden Frauen in der Schweiz nach der Geburt eines Kindes in ähnlichem Umfang in die Arbeitswelt zurückkehren wie in Schweden.
GENERALVERSAMMLUNG
Die Generalversammlung unter der Leitung des Präsidenten Christian Gafner hat über Folgendes abgestimmt oder informiert:
Jahresrechnung 2022
Die Jahresrechnung 2022 wurde von der Generalversammlung genehmigt. Der Verein rechnete erstmals über Swiss GAAP FER 21 ab, die neue Rechnungslegung für gemeinnützige Nonprofit-Organisationen – «eine Herausforderung», resümierte der Institutionsleiter Patric Bill.
Wahlen und Demissionen
Die Versammlung wählte Tanja Eschler-Müller als neues Mitglied in den Vorstand. Sie ersetzt Lea Romang, die bisher im Gremium sass.
Zahlen aus den Kitas Gstaad und Saanen
Die Kitas Gstaad und Saanen waren im Durchschnitt zu 100 Prozent ausgelastet, wie Patric Bill angab. Bei 50 Prozent der Kinder waren beide Elternteile aus dem Ausland, 33 Prozent aus der Schweiz und bei 17 Prozent war ein Elternteil aus der Schweiz, der andere aus dem Ausland. Erstmals waren genau gleich viele Mädchen in der Kita wie Buben. Kommenden Sommer werden rund 28 Prozent der betreuten Kinder in den Kindergarten übertreten. Zudem sind beide Kitas zertifiziert worden und haben das schweizweite Qualitätslabel für Kindertagesstätten «QualiKita» erhalten. «Mit der Kita Saanen gehören wir schweizweit zu den besten Kitas», sagte Bill stolz.
Zahlen von den Notfallplätzen und der internen Schule
Der Institutionsleiter zeigte Kreisdiagramme auf, beispielsweise von der Aufenthaltsdauer der im Chinderhuus Ebnit platzierten Kinder. Ein Auszug: 55 Prozent länger als drei Monate in Gstaad, 18 Prozent länger als sechs Monate und vier Prozent länger als ein Jahr. Die Kinder sind zwischen vier und 14 Jahre alt. «Die Kinder werden immer jünger, die Fälle immer komplizierter», resümiert Bill. Der Grossteil der Notfälle kommt aus dem Kanton Bern (88 Prozent), der Rest aus dem Kanton Aargau, Zürich und Freiburg.
Neubau Chinderhuus Ebnit
Das Chinderhuus braucht für seine verschiedenen Angebote mehr Platz und die Liegenschaft ist in einem sanierungsbedürftigen Zustand – dies das Fazit des Vorstands und der Architekten. «Das Haus ist alt. Es befindet sich in einem energetisch schlechten Zustand», sagte Patric Bill. Neu werde ein Neubau forciert, unter anderem auch wegen den Auflagen des Bundesamtes für Justiz, dem das Chinderhuus aufgrund seiner Notfallplätze untersteht. «Das Amt signalisierte uns klar, dass sie das Bauprojekt nur finanziell unterstützen, wenn wir einen Neubau planen. Das heutige Gebäude würde trotz Sanierung nicht die raumplanerischen Vorschriften erfüllen können, so das Bundesamt», erklärte der Institutionsleiter. Werde ein Neubau ins Auge gefasst, übernehme das Bundesamt rund 35 Prozent der Kosten. Der Verein werde nächstens mit einem Vorprojekt bei der Gemeinde vorsprechen. Sobald die Kosten und deren Deckung bekannt und geregelt seien, werde der Verein mit mehr Informationen an die Öffentlichkeit gehen.
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