«Fascht e Familie»

  08.07.2022 Gstaad

Die Wirtschaftsschule Thun (WST), Standort Gstaad, feierte ihre Diplomfeier. Zehn Kauf- und sieben Detailhandelsfachleute aus der Region Saanenland-Obersimmental konnten ihre Eidgenössischen Fähigkeitszeugnisse (EFZ) in Empfang nehmen. Nach der pandemiegeprägten Lehrzeit standen die einzelnen schulischen Leistungen in diesem Jahr etwas weniger im Vordergrund, sondern vielmehr die Sozialkompetenz und der zwischenmenschlichen Umgang.

FRANZISKA RAAFLAUB
Die Lehrabgängerinnen und Lehrabgänger im kaufmännischen Bereich und Detailhandel sind – wie so viele Auszubildende der letzten zwei Jahre – nicht wirklich zu beneiden. Vergangenen Donnerstag konnten jene zwei Klassen des Gstaader WST-Standorts ihre Ausbildung abschliessen, die am stärksten von den Covid-Massnahmen betroffen worden waren: zum einen in der Berufsschule – die zu grossen Teilen im Fernunterricht stattgefunden hatte –, zum anderen im Berufsalltag. Während vor zwei Jahren die Abschlussprüfungen noch geschenkt und vergangenes Jahr nur in reduziertem Umfang abgenommen worden waren, wurde 2022 wieder das gesamte Prüfungsprogramm absolviert. Das Ganze allerdings ohne Abwechslung durch Sporttage oder Reisen – kurzum: ohne «Fun».

«Mir wei nid grüble, es isch scho rächt»
Marc Matti, Konrektor der WST und Schulleiter des Standorts Gstaad, machte die wichtigste Mitteilung gleich zu Beginn seiner Laudatio: Sämtliche Prüflinge hatten bestanden und durften an diesem Abend ihre EFZ in Empfang nehmen. «Dies ist jeweils unser höchstes Ziel – ich bin sehr glücklich, dass wir es auch in diesem Jahr erreicht haben.» Allerdings stellte er fest, dass die Leistungen im Vergleich zu den Vor-Pandemie-Jahren tendenziell etwas tiefer ausgefallen sind und weniger Auszeichnungen für schulische Leistungen vergeben werden konnten. Ein gewisser Qualitätsverlust durch die wechselhaften Bedingungen zwischen Präsenz- und Fernunterricht liess sich offenbar nicht vermeiden. Darüber hegte der Schulleiter, der von seinen Abschlussklassen später an diesem Abend liebevoll als «geduldigster Lehrer» mit einem kleinen Oscar bedacht wurde, aber keinen Groll: «Mir wei nid grüble, es isch scho rächt.» Trotz aller widriger Umstände gab es vereinzelt auch herausragende Resultate zu verzeichnen und Marc Matti liess keinen Zweifel daran aufkommen, dass ausschliesslich kompetente und – fast noch wichtiger – äusserst leidenschaftliche Berufsleute in die Arbeitswelt geführt wurden.

Ausbildungsreformen, Leitplanken und soziale Lehrbetriebe
Marc Matti nutzte auch die Gelegenheit, seinem Lehrerkollegium zu danken. Er zitierte hierfür Fussballcoach Hanspeter Latour, der unter anderem den FC Thun trainiert hat: «Ich habe den Anspruch, für meine Spieler Leitplanken zu setzen.» Leitplanken setzten auch seine Lehrpersonen und schüfen damit ein Spielfeld für die Auszubildenden, wo mitunter auch Raum für Ausnahmen bleibe. Dies sei schwieriger, als eine strikte Linie zu verfolgen und gegebenenfalls Leute aussen vor zu lassen: «Das Lehrerkollegium ist bereit, alles zu leisten für unsere Auszubildenden.» Dieses Wohlwollen haben auch die Diplomandinnen und Diplomanden gespürt und honoriert: Beide Abschlussklassen richteten jeweils persönliche und herzliche Grussbotschaften an ihre Lehrerinnen und Lehrer und bedachten ihr Engagement mit sorgfältig ausgesuchten Präsenten.

Einen grossen Dank sprach der Konrektor auch den Ausbildnerinnen und Ausbildnern aus. Lehrlinge auszubilden sei «Ehrensache» und keine einfache Aufgabe. Bereits die Rekrutierung gestalte sich mitunter schwierig. Besonders hervorheben wolle er daher jene Betriebe, die sich auch Schwächeren annähmen und keinen Mehraufwand scheuten, um ihre Lehrlinge erfolgreich an ihre Lehrabschlussprüfungen heranzuführen.

Solide betriebliche Leistungen im Detailhandel
Die Klasse der Detailhandelsfachleute war mit sieben Personen relativ klein. Bekanntermassen ist es aber nicht die Quantität, sondern die Qualität, die von Bedeutung ist. Besonders gute Resultate erzielten die Lernenden aus den vertretenen Bereichen Lifestyle und Lebensmittel in den praktischen Prüfungen, wo im Durchschnitt eine glatte 5,0 erreicht wurde. Mit der Note 6,0 wurde die Leistung von Ricardo Miguel Fonseca de Paiva Ferreira honoriert, der seine Lehre in Zweisimmen bei der Matti Sport AG absolviert hat. Mit seinem aussergewöhnlichen Talent durfte er seinen Lehrbetrieb und die WST im vergangenen Jahr an den regionalen Berufsmeisterschaften (Swiss Skills) vertreten. Die schulischen Leistungen fielen im Gegensatz zu den praktischen Prüfungen etwas durchzogener aus, weshalb am Standort Gstaad in der Sparte Detailhandel keine Rangkandidatinnen und -kandidaten mit einem Notendurchschnitt von 5,3 oder mehr ausgezeichnet wurden.

Pandemie und ein Todesfall
Bevor der Gstaader Konrektor zur Diplomfeier der KV-Lernenden überleitete, nutzte er die Gelegenheit, um die Klasse ausführlicher vorzustellen: «Manchmal muss man auch als Schulleiter einsehen, dass Schule nicht alles ist und sie mitunter gänzlich in den Hintergrund rückt. Die Klasse der KV-Absolventinnen und Absolventen hat sehr viel erlebt, was mich auch nach 25 Jahren der Lehrtätigkeit sehr berührt hat. Neben den Auswirkungen der Pandemie musste die Klasse den schweren Verlust eines Klassenkameraden bewältigen. Obwohl gänzlich verschiedene Charaktere aufeinanderprallten, war der gegenseitige Umgang stets von Solidarität und Loyalität geprägt. Neben den hervorragenden schulischen Fähigkeiten sind es vor allem die Persönlichkeiten, die in Erinnerung bleiben werden.»

Eine dieser Persönlichkeiten kam mit Nils Gobeli zu Wort. Er hat seine Lehre auf der Gemeindeverwaltung von St. Stephan absolviert und verfügt, wie Marc Matti attestierte, über «die besondere Fähigkeit, die richtigen Worte zu finden». Letztere kam unter besonders traurigen Umständen, beim Gedenkgottesdienst für seinen verstorbenen Klassenkameraden Luca Ramseier zur Geltung. Der Lehrling aus Boltigen, der seine ersten beruflichen Schritte bei der Raiffeisenbank Obersimmental-Saanenland unternommen hatte, wurde im November 2020 von seinen Mitlernenden für immer verabschiedet. In seiner Rede zum Lehrabschluss kam Nils Gobeli auch auf diesen prägenden Moment zu sprechen: «Weder die Lehre noch die Pandemie waren in diesem Moment von Bedeutung und ein normaler Schulalltag schien undenkbar. Die Klasse ist dabei aber stärker zusammengerückt und die Gemeinschaft wurde wichtiger denn je. Nur so war es möglich, den Fokus wieder auf die Prüfungen zu lenken». Ferner erwähnte er das ambivalente schulische und berufliche Umfeld, welches den Lernenden weit mehr Selbstdisziplin abverlangte, als dies in einem «normalen» Umfeld der Fall gewesen wäre. Nils Gobeli schloss mit dem schönen Kompliment an seine Kameradinnen und Kameraden, dass die Klasse für ihn «fascht e Familie» geworden sei.

Zwei Rangkandidatinnen im kaufmännischen Bereich
Vor der Verkündung der Resultate der KV-Lernenden schloss sich der Gstaader Schulleiter Nils Gobelis Lob auch im Namen des Lehrerkollegiums an: «Ihr wart eine grossartige Klasse und wir werden euch nicht vergessen». Auch im kaufmännischen Bereich wurden solide praktische Prüfungen abgelegt und ein Durchschnitt von 4,7 erzielt. Eine besonders gute betriebliche Prüfung erzielte Anja Rieder mit einer 6,0. Dies trotz erschwerten Bedingungen: Anja Rieder musste während ihrer Lehrzeit den Lehrbetrieb wechseln und war zuletzt im Hotel Ermitage in Kandersteg tätig. Insgesamt zählte die KV-Klasse zehn Schüler und Schülerinnen aus den vier Branchen Hotel, öffentliche Verwaltung, Banken und Divers. Zwei Lernende durften eine Auszeichnung für besondere Leistungen entgegennehmen: Luna Femia, Saanen Bank, im zweiten Rang mit einem Notendurchschnitt von 5,3, sowie Julie Reichenbach, Hotel Palace Gstaad, im ersten Rang mit einem Schnitt von 5,4.

Besondere Auszeichnung der Ribo Treuhand AG
Traditionell stiftet die Ribo Treuhand AG aus Gstaad einen Spezialpreis für besondere Leistungen in den Sprachen (drei Noten über 5,5), im Bereich Wirtschaft (über 5,5) oder für herausragende Selbst- und Sozialkompetenz. Zwei KV-Lernende konnten je eine Auszeichnung für ihre sprachlichen Leistungen entgegennehmen: Luna Femia (Saanen Bank) und Julie Reichenbach (Hotel Palace Gstaad). Im Bereich der Selbst- und Sozialkompetenz wurde darauf verzichtet, Einzelpersonen zu nominieren. Marc Matti entschied sich daher, die Preise der Ribo Treuhand AG anderweitig, nämlich an zwei Lehrbetriebe zu vergeben: «Wir sind sehr dankbar, dass es auch Lehrbetriebe gibt, die sich schulisch schwächeren Lernenden annehmen». Für besonderen Einsatz in den Diensten der Lernenden wurden die Pure Snowboard Shop GmbH unter der Geschäftsführung von Elisa und David Schmid sowie Thoenen Baut, vertreten durch den kaufmännischen Leiter Stephan Friedli, ausgezeichnet.

«Mängisch tuet erwache weh»
Daniel Gobeli, Rektor der Wirtschaftsschule Thun, erinnerte sich in seiner Grussbotschaft an «Patent Ochsner» und ihr Lied «Fischer». Darin wird festgestellt: «Mängisch tuet erwache weh.» So sei es ihm 2020, als die Welt eine andere geworden sei, vorgekommen. Für ihn sei es als Rektor die schlimmste Zeit seiner Karriere gewesen; in einem Schulhaus ohne Schüler zu arbeiten. Hingegen sei die Rückkehr umso schöner gewesen. Die Zeit habe gezeigt, dass die Welt zu stark an die Illusion der Perfektion glaube und schlecht mit Krisen oder grossen Umbrüchen umgehen könne. Als Metapher benutzte Daniel Gobeli eine zerschlagene Schüssel, die mit der japanischen Reparaturtechnik «Kintsugi» wiederhergestellt worden ist. Diese Technik zeichnet sich dadurch aus, dass Defekte nicht kaschiert, sondern durch Goldakzente betont werden. In diesem Sinne riet er den Absolventinnen und Absolventen, nicht die Perfektion anzustreben, sondern gab ihnen stattdessen folgende Botschaft mit auf den weiteren Lebensweg: «Die Schönheit der Bruchstellen macht uns zum Unikat.»

Grusswort des Gemeinderats
Mit den Grussworten von Hans Peter Schwenter, Mitglied des Saaner Gemeinderats, wurden die Diplomandinnen und Diplomanden in die wohlverdiente Afterparty entlassen. Er gab ihnen einen weniger metaphorischen, aber nicht minder wichtigen Rat mit auf den Weg, nämlich schon frühzeitig auf die eigene Gesundheit zu achten. Er regte dazu an, ihre neu erworbenen Fähigkeiten zu nutzen und Gutes für das Umfeld zu leisten. Ferner unterstrich Hans Peter Schwenter die grosse Bedeutung von Berufsschule und Gymnasium für die Region, die auch im Rahmen der neuen Schulstrategie der Gemeinde zur Geltung kommen soll und verdankte das Lehrerkollegium und Rektorat für ihren unermüdlichen Einsatz.

Kaufleute ES19
Dänzer Jana, Gemeinde Zweisimmen; Femia Luna, Saanenbank; Gobeli Nils, Gemeinde St. Stephan; Indermühle Kaspar, Palace; Nydegger Elija, Saanen Bank; Perren Thierry, Gemeinde Lenk; Reichenbach Julie, Palace; Rieder Anja, Ermitage Kandersteg; von Grünigen Kim, T&R; Dos Santos Rafael, Thoenen Baut.

Detailhandel DFS19
Burren Patrizia, Schneeberger Sport; Clausen Jenny, Migros Gstaad; Fonseca Ricardo, Matti Sport; Mendes Pedro, Pure Snowboardshop; Shabani Djellza, Landi Gstaad; Silva Fernandes Diana, Brand Sport; von Grünigen Noemi, Chnusper Becke.


NEUER BERUF AN WST

Marc Matti kam bei der Diplomfeier auch auf die Herausforderungen zu sprechen, denen die Wirtschaftsschule Thun demnächst entgegentritt. So stehen sowohl im Detailhandels- als auch im kaufmännischen Bereich weitreichende Ausbildungsreformen an. Die Projektverantwortung für deren Umsetzung liegt bei Peter Lüthi, der das Fach IKA (Information, Kommunikation und Administration) unterrichtet. Darüber hinaus darf die WST am Standort Thun den neuen Beruf Entwickler/in digitales Business EFZ als erste und vorerst einzige Berufsschule im Kanton Bern anbieten.

FRANZISKA RAAFLAUB


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