Fluchtklänge mit hohem Vibrationspegel
22.07.2025 KulturFluchtklänge mit hohem Vibrationspegel
Ein französischer Klangkörper und ein vitaler Dirigent zum Festivalauftakt in der Kirche Saanen: Sie verleihen dem Händel-Oratorium «Israel in Egypt» intensiven Puls und klangliche ...
Fluchtklänge mit hohem Vibrationspegel
Ein französischer Klangkörper und ein vitaler Dirigent zum Festivalauftakt in der Kirche Saanen: Sie verleihen dem Händel-Oratorium «Israel in Egypt» intensiven Puls und klangliche Wucht.
SVEND PETERNELL
Hagelsturm, Frösche allüberall, Heuschreckengewimmel, Finsternis im Land. Und dann werden noch ägyptische Erstgeborene erschlagen. Heftige Bilder für die Flucht der leidenden Israeliten aus den Fängen der Knechtschaft – gespiegelt an den Plagen, die der strafend-allmächtige Gott über Ägypten verhängt.
Dazu Klangwelten von peitschender Dramatik, choraler Orgiastik, flammender Dynamik. Und betörender Opulenz. Dirigent William Christie hat den Vibrationspegel von Anfang an hoch angesetzt. Wirft sich buchstäblich in die Streicherbögen hinein. Holt ab, was da vor ihm steht und sitzt. Das sind über 60 Mitwirkende des Pariser Chors und Orchesters «Les Arts Florissants». Und holt mit ihnen aus für die grosse musikalische Exilreise, die Georg Friedrich Händel in seinem Oratorium «Israel in Egypt» als nahezu reines Chorwerk von pompöser Wucht angelegt hat.
Dramaturgische Abwechslung
Nahezu. Denn in der Saaner Mauritiuskirche sind einige der knapp 40 Gesangsteile durch mehr Duette und Quartette statt Chorpartien bestückt als im «Original». Das macht Sinn: Denn erstens sind da hochkarätige Solistinnen und Solisten mit von der Partie, deren kostbare Stimmen jede Einsatzminute rechtfertigen (dazu dann später mehr). Und zweitens sind sie im zweiten Teil des Abends mit den fast nicht enden wollenden choralen Lobpreisvariationen eine willkommene dramaturgische Abwechslung.
Obwohl – Händel seis zugestanden: Es sind Variationen von höchster Güte. Alle noch so kleinen Chor- und Gesangsteile arrangiert er als selbstständige Tableaus – jede für sich eine Praline im Oratorienpaket.
So viele Sprachen
Ansonsten gilt: William Christie, dieser hochpräsente und agil auftretende 80-jährige Chor- und Orchestergründer, ändert nur dort mit Bedacht, wo es der Vitalisierung eines Werks dient. Mit seiner Truppe «Les Arts Florissants», die er 1979 gegründet hat, spielte der US-Amerikaner und (schon längst) Franzose gerade bei der Wiederentdeckung des französischen Repertoires der Barockmusik des 17. und 18. Jahrhunderts eine wichtige Vorreiterrolle. Und er pflegt die historische Aufführungspraxis akribisch.
Nun ist Händel kein Franzose und mit seinen Chorwerken in alter englischer Sprache von einem französischen Chor in der Diktion nicht ganz einfach hinzukriegen. Aber was die «Arts Florissants» in teils kühnen Schichtungen und Steigerungen an Dynamik und Klangsinnlichkeit gesanglich auszuloten vermögen, wie sie Sätzen im alten Stil der Vokalpolyfonie des 16. Jahrhunderts Dringlichkeit verleihen, wie sie im Liedhaften verweilen und barocke Fugen sauber meistern: All das hat am Auftaktkonzert des 69. Gstaad Menuhin Festivals beeindruckt.
Dass auch zwei Chormitglieder mit ihren Sopran- und Bassstimmen für solistische Partien in Duetten «aushelfen», zeigt: Im Chor hat jede (bestens ausgebildete) Stimme Gewicht. Solistische Glanzpunkte steuert ein starkes Quartett bei: Da ist der kunstvoll verzierende Sopran von Emmanuelle de Negro, der Tiefen wie Höhen gleichsam stilsicher auslotende Kontra-Alt von Jasmin White, der strahlkräftig-dramatische Tenor von Moritz Kallenberg und der bei aller dunkler Wucht fein timbrierte Bariton von Matthieu Walendzik.
Farbtupfer ist erlaubt
Und da sind wir wieder bei William Christie, der mit der Energie eines 50-Jährigen unermüdlich und zielgerichtet vorantreibt. Im fanfarischen Trompeten-, Posaunen- und Paukenwirbel bleibt er gleichermassen präsent. Bei Überhitzungen des sonst sehr geschmeidigen Klangkörpers (mit der immer wieder aufploppenden Leuchtkraft des Cembalos) hält er aber auch zum Temperieren und Dosieren an. Und ermöglicht so dem Orchester Entfaltung in allen Registern zwischen Ekstase und Stille. Hauptsache, der Puls läuft auf Kurs Wachsamkeit. Farbtupfer dürfen immer wieder sein. Und sei es bei ihm selbst die roten Socken, die er auch in Saanen mit dabei hat!
Farblich schwieriger ist es mit dem Text in Moses Lobgesang, der im Kontext des Krisenherds im Nahen Osten nicht unbelastet gelesen werden kann: Der Herr für das auserwählte israelische Volk wird als Krieger bejubelt, der die Ägypter vernichtet. Händel hat für sein Oratorium ausschliesslich biblische Texte des Alten Testaments gewählt. Das war 1739, als das Werk zur Uraufführung kam. Ein heutiger Oratorientexter müsste die Wortwahl mit anderer Bedachtsamkeit treffen.
Wunsch erfüllt
Dem Jubel in der ausverkauften Kirche tut das keinen Abbruch: Es gibt Standing Ovations. Der Festivalzyklus «Wandel» ist beim Thema «Migration» angekommen – und mit «Escape to Exile», einem der vier Migrationsphänomene, lanciert. «Israel in Egypt» ist unbestritten eine der bewegendsten musikalischen Erzählungen über Flucht und Hoffnung, wie das Christoph Müller in seinem letzten Jahr als Artistic Director festhält. Schön hat er sich seinen Wunsch, dieses Oratorium am Gstaad Menuhin Festival in solcher Intensität zur Aufführung zu bringen, erfüllen können.