Wenn jede Sekunde zählt

  27.10.2022 Gesellschaft

Ein überschlagenes Auto, ein Feuer, viele involvierte Zivilisten: Am Montagabend hat die Feuerwehr Saanen gemeinsam mit der Polizei und der Rettungssanität den Ernstfall geübt. 35 Feuerwehrleute haben sich um 16 Statisten gekümmert, die ihre Rolle ernst genommen haben.

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Einfahrt in den Tunnel. Blick aufs Handy, Blick nach oben, Panik: Das Auto hat die Strassenseite gewechselt, ein Traktor kommt frontal auf einen zu, der schnelle Griff ins Lenkrad steuert den Wagen konsequent nach rechts, allerdings zu konsequent. Er überschlägt sich. Quietschende Autoreifen sind zu hören: Auf beiden Seiten machen die Automobilisten eine Notbremsung, auf der einen Seite gibt es einen Auffahrunfall. Beteiligte rufen den Notruf, die Einsatzkräfte sind schnell vor Ort.

Der Einsatzleiter der Feuerwehr Saanen analysiert die Situation und sendet ein Team zum verunfallten Auto. Ein Feuerwehrmann steigt zum Verletzten in den Wagen und leistet Erste Hilfe, während seine Kollegen das Auto am Boden befestigen und mit einer motorisierten Rettungssäge das Dach entfernen, um den Autolenker zu bergen. Zeitgleich bringen weitere Feuerwehrleute die Zivilisten in Sicherheit und übergeben sie den Sanitätern zur medizinischen Kontrolle, während die Polizei den Unfallort sichert und den Verkehr umleitet.

Urplötzlich füllt dichter Rauch den Tunnel. Ein Auto, welches in einen Auffahrunfall verwickelt war, fängt Feuer. Der Einsatzleiter funkt, eine neue Truppe – ausgerüstet mit Schutzmaske und Wasserschlauch – kommt angerannt und löscht den Brand.

Üben für den Ernstfall
Am Montagabend waren diese Szenarien im Umfahrungstunnel von Saanen zwar anzutreffen, doch sie waren inszeniert: 35 Feuerwehrleute im Trainingsmodus, die 16 Statisten quasi das Leben retten. Ängstlich, hilfsbereit, panisch, ruhig: Jede Statistin und jeder Statist hat ein Rolle zugeschrieben bekommen, die er oder sie sehr ernst genommen haben. Schauspiel war gefragt, alle haben geliefert. Manche haben sich nicht so leicht von ihrem Auto wegbringen lassen, sondern wehrten sich schreiend und trotzig. Andere wiederum stürmten nach vorne zur Unfallstelle, um zu helfen. Es war eine von zehn Übungen, die jährlich von der Feuerwehr Saanen durchgeführt werden. Üben für den Ernstfall: Ziel der Testläufe sei es, möglichst realistische Problemstellungen anzubieten, erklärt Vizekommandant und Einsatzleiter Roger Maurer. «Man kann sich nie zu 100 Prozent auf einen realen Einsatz vorbereiten, denn das Adrenalin trifft einen unvorbereitet. Die Feuerwehrleute können aber die Abläufe festigen und sich selbst testen, wie sie unter Druck agieren.» Es gelte, stets einen kühlen Kopf zu bewahren, um überlegt und vorsichtig vorzugehen. «Besonders die Einsatzleiter tragen eine enorme Verantwortung, weil sie jeden Schritt entscheiden müssen.» Sie seien als Erste auf Platz und müssten die Situation beurteilen: Braucht es mehr Leute? Müssen wir Spezialisten aufbieten? «Es ist eine Belastungsprobe», so Maurer.

Für einen unbeteiligten Beobachter wirkten die Rettungsaktionen am Montagabend systematisch, fast zu sehr: Zwar arbeiteten die Feuerwehrleute schnell, dies aber mit einer auffallenden Gelassenheit. Die Feuerwehrmänner, die sich um den Verunfallten im überschlagenen Auto kümmerten, führten jeden Schritt ruhig aus – die Konversationen und Absprachen untereinander waren beinahe lautlos. Geschreie und Hektik waren nicht vorzufinden. Ist diese Atmosphäre der Übung geschuldet? Nein, erklärt Maurer, sondern ein Verhalten, in dem die Feuerwehrleute geschult würden. «Die Person, die im Auto eingeklemmt ist und ihre Beine nicht mehr spürt, kann keine hektischen Leute um sich gebrauchen. Die Feuerwehrleute sind angewiesen, möglichst ruhig an die Sache heranzugehen, damit die Betroffenen keinen zusätzlichen Stress erfahren oder gar Panik kriegen.»

Befangenheit vor Ort
Wer im Saanenland ein Mitglied der lokalen Feuerwehr ist, muss damit rechnen, einer bekannten oder gar verwandten Person am Unfallort zu begegnen, die gerettet werden muss. In diesem Fall müsse die betroffene Person gegenüber sich selbst Verantwortung übernehmen und sich in den Hintergrund begeben, zum anderen müssten auch die Einsatzleiter aufmerksam genug sein, um den Kollegen zu schützen, erklärt der Vizekommandant. Ob verwandt oder nicht: Das Care Team Kanton Bern stehe einem immer zur Seite, ob am Unfallort oder sechs Wochen später. Jeder erhalte die notwendige psychologische Unterstützung. «Nach einem traumatischen Einsatz ist es wichtig, darüber zu reden. Wer es in sich hineinfrisst, riskiert nicht nur seine Gesundheit, sondern läuft Gefahr, zukünftig nicht mehr das leisten zu können, wozu er eigentlich in der Lage wäre», so Maurer.

Einsatz für die Bevölkerung
Und dies ist ein enorm wertvoller Einsatz für die Gesellschaft. Heute zählt die Feuerwehr Saanen 75 aktive Mitglieder und trotzdem beschäftigt sie das Nachwuchsproblem seit mehreren Jahren, denn sie braucht besonders junge Engagierte. Doch sie gibt nicht auf. Die actionreiche und spannende Übungsrettung am Montag sei ein Beispiel dafür, was ein Mitglied alles erleben und lernen könne: Kameradschaft, Erste Hilfe, Einsatz in aussergewöhnlichen Situationen und Training der eigenen Belastbarkeit, sonMaurer. «Und der Dank und der Rückhalt, die wir aus der Bevölkerung spüren, sind ein weiterer Motivator.» Es sei nicht selbstverständlich, dass Unternehmen den Feuerwehrleuten die Möglichkeit einräumten, bei Notfällen aus der Tür stürmen zu dürfen. «Dafür sind wir enorm dankbar.»

Video: tinyurl.com/yckywjy

Weitere Fotos: anzeigervonsaanen.ch/ feuerwehruebung-22

 


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