«Flamenco ist so viel mehr als nur ein Tanz!»
27.12.2022 GstaadSchon seit über 20 Jahren wird im Saanenland Flamenco getanzt. Einige Teilnehmende der Gruppe sind von den ersten Tagen an dabei – eine Herzensangelegenheit.
SONJA WOLF
«Vamos! Toma que toma!» Präzise auf den Takt und mit einem gleichsam ...
Schon seit über 20 Jahren wird im Saanenland Flamenco getanzt. Einige Teilnehmende der Gruppe sind von den ersten Tagen an dabei – eine Herzensangelegenheit.
SONJA WOLF
«Vamos! Toma que toma!» Präzise auf den Takt und mit einem gleichsam anfeuernden Ton ruft die Flamenco-Lehrerin Cristina Teuscher ihren Schülerinnen die Anweisungen zu. Grazil und doch auch stolz heben die Tänzerinnen in einer fliessenden Bewegung die rechte Hand, stampfen mit ihren nägelbeschlagenen Flamenco-Schuhen auf den Holzboden und lassen die weiten Röcke schwingen zu den rassigen Gitarrenklängen vom Band. «Das war ein Tango!», erklärt mir Brigitte Grundisch aus Lauenen nach dem Kurs – erschöpft, aber glücklich strahlend. «Allerdings hat der andalusische Tango mit dem argentinischen Paartanz überhaupt nichts zu tun!» Ganze vier Stunden Training haben die Teilnehmenden hinter sich, alle Achtung. «Wir sind dankbar, dass unsere Lehrerin schon seit über 20 Jahren den Weg von Bern hierher ins Saanenland macht. Wegen ihrer langen Anfahrt machen wir einmal pro Monat vier Stunden am Stück anstatt jede Woche eine Lektion», erklärt die nicht minder fröhliche Xenia Stucki-Petrowsky den intensiven Tanznachmittag. 75 Jahre ist sie jung, topfit und kann sich ein Leben ohne das Tanzen gar nicht vorstellen. «Tanzen ist für mich wie Zähneputzen, es muss jeden Tag sein», lächelt sie. Und ergänzt: «Viele Sportarten bestehen einfach aus Bewegung, aber beim Tanzen braucht man noch den Kopf dazu.» Xenia Stucki muss es wissen: Sie war Balletttänzerin und ist noch immer als Ballettlehrerin im Saanenland tätig.
Altersmässig war die Gruppe seit ihren Anfängen 2002 schon immer bunt durchmischt, «von der 14-jährigen Schülerin bis hin zur knapp 90-Jährigen – die übrigens immer noch mittrainiert!», so Brigitte Grundisch, die Initiantin der Flamenco-Gruppe. «Zwar tanzt sie nicht mehr die ganzen vier Stunden mit uns hindurch, bestreitet aber doch einen beachtlichen Anteil des Trainings.»
Saaner Eigeninitiative
Wie haben sich die Flamenco-Begeisterten überhaupt zusammengefunden? «Ich habe meine ehemalige Ballettlehrerin Xenia zufällig im Supermarkt getroffen und ihr von meiner Flamenco-Begeisterung erzählt. Ich hatte bereits in Zürich damit angefangen und wollte hier im Saanenland weitermachen», berichtet Brigitte Grundisch nach dem Training weiter. Auch die befreundete Ballettlehrerin war begeistert und sofort beim Projekt mit dabei. Auf der Suche nach einer passenden Lehrerin wurden die Damen bald fündig: Die freischaffende Musiktheater-Regisseurin und Flamenco-Tänzerin Cristina Teuscher aus Bern erklärte sich bereit, das Saanenland-Flamenco-Projekt zu übernehmen. «Mein Vater ist aus Zweisimmen, also hatte ich schon einen Bezug zur Gegend», berichtet die Lehrerin gerne noch rasch zwischen Trainingsende und ihrer Heimfahrt mit dem Zug.
Ein gutes Gehör entwickeln und im Rhythmus bleiben!
Wie so viele wurde auch sie damals durch Carlos Sauras Film «Carmen» vom Flamenco-Virus infiziert. «Ich habe damals alles liegen gelassen und wollte nur noch Flamenco tanzen», erinnert sie sich an ihre eigenen Anfänge. Bezüglich ihres Tanz- und auch Unterrichtsstils sagt sie: «Ich hatte das Glück in eine der bedeutenden Flamenco-Dynastien von Jerez de la Frontera aufgenommen zu werden. Ich tanze den traditionellen rhythmusbetonten Flamenco aus Jerez und bringe als gebürtige Schweizerin in meinen künstlerischen Arbeiten auch meine eigene Herkunft und Ästhetik mit hinein.»
Mit ihrer Saaner Gruppe habe sie grosse Freude, da sie bereits so lange sehr engagiert dabei und nun wahrlich keine Anfänger mehr seien. Cristina Teuscher brachte ihnen die Grundschritte bei und kreiert die Choreografien für den Kurs. «Aber die Teilnehmenden haben bereits ein gutes Gehör entwickelt und den Rhythmus so verinnerlicht, dass sie souverän auf die Stücke tanzen können und selbstständig von einem Schritt in den nächsten finden», beschreibt sie deren Fortschritte.
Weit mehr als ein Tanz
Die Begeisterung der Teilnehmenden ist jedenfalls gross. «Flamenco ist so viel mehr als einfach ein Tanz. Flamenco ist ein Lebensgefühl!», spricht Brigitte Grundisch aus dem Herzen vieler hier in der Gruppe. Und fährt fort: «Flamenco ist Geschichte, ist Tradition. Der Ursprung sind die Gitanos, das waren unterdrückte Minderheitengruppen. Sie haben diese in Andalusien beheimatete Kunst geprägt und über Jahrhunderte damit ihre Gefühle ausdrücken können.» (siehe Kasten)
Diese Gefühle hätten sich aber nicht nur auf die Armut oder ihre Ausgrenzung bezogen, sondern auf der anderen Seite auch auf ihre explodierende Lebensfreude.
Spanisches Lebensgefühl
Fragt man weiter, wird ganz deutlich, dass die teilnehmenden Damen auch ein ausgesprochenes Faible für die spanische Kultur und Lebensweise haben. Regelmässige Besuche der «Feria de Abril» in Sevilla um die Osterzeit oder auch längere Aufenthalte in Andalusien inklusive Spanisch- und Flamenco-Kursen, eine Vorliebe für spanische Tapas und vieles mehr: Aus ihren Erzählungen nach dem Training merkt man doch schnell, dass dieser Kurs den Teilnehmenden weit mehr bedeutet als nur ein einfaches Sportprogramm.
FLAMENCO
Für viele steht der Flamenco synonym für die Musik Spaniens – dabei wurden dort die leidenschaftlichen und schmerzvollen Klänge lange Zeit ebenso abgelehnt wie ihre Urheber, die Gitanos genannten andalusischen Roma. Über Jahrhunderte hinweg wurden sie unterdrückt und verfolgt. Ihre Gefühle von Verzweiflung und Wut, aber auch überschäumender Lebensfreude, drückten sie zunächst allein im Gesang aus. Erst später gewannen Tanz und Gitarrenbegleitung an Bedeutung.
Die authentische Aufführungsform des Flamencos ist das «auditorio natural». Das kann ein kleiner Kreis von Eingeweihten im Hinterzimmer einer Flamenco-Kneipe sein oder eine Roma-Hochzeit. Private Aufführungen dauern oft die ganze Nacht. Die Feier des Augenblicks, Spontaneität und überschäumende Emotionalität sind untrennbar mit ihm verbunden und werden dem unsteten Leben der Roma zugeschrieben.
Öffentliche Aufführungen haben dagegen einen anderen Charakter: Die anonyme Situation und räumliche Trennung vom Publikum verwandelt den Flamenco hier in ein im Voraus berechnetes Bühnenereignis, bei dem die Wechselwirkung mit dem Publikum eine eher untergeordnete Rolle spielt.
QUELLE: PLANET-WISSEN.DE
Flamenco-Training im Praxistest
Brigitte Grundisch aus Lauenen hat vor gut 20 Jahren die Flamenco-Gruppe ins Leben gerufen, die inzwischen von der Volkshochschule Obersimmental-Saanenland organisiert wird.
INTERVIEW: SONJA WOLF
In der augenblicklichen Besetzung der Gruppe sind Sie alle entweder von Anfang an dabei oder zumindest sehr fortgeschritten. Könnte auch ein Anfänger, der die Grundschritte und die Rhythmusregeln noch nicht beherrscht, zu ihrer Gruppe dazustossen?
Natürlich, wir hatten immer wieder Neueinsteigende in diesen 20 Jahren. Unsere Lehrerin Cristina schafft die Balance zwischen den fortgeschrittenen Teilnehmenden und den Anfängerinnen sehr gut. Während die Neuen zwei Stunden lang intensiv die Schritte üben, nutzen die Alteingesessenen diese Phase zum Aufwärmen und um die Schritte zu verinnerlichen. Die Neueinsteiger gehen dann und die Fortgeschrittenen üben in den verbleibenden zwei Stunden die Choreografien.
Haben oder hatten Sie jemals auch Männer in der Gruppe?
Leider nein! Aber in Andalusien wird der Flamenco von wirklich allen getanzt: von Männern und Frauen, Kindern und alten Leuten. Wir hoffen, dass sich auch im Saanenland Männer für diesen Tanz begeistern können.
Die Sohlen der Flamencoschuhe sind mit Nägeln beschlagen und könnten eventuell die Böden beschädigen, auf denen Sie tanzen. Ist es deshalb ein Problem, einen Übungsraum zu finden?
In gewisser Weise ja, denn wir brauchen immer Räume mit unempfindlichen Holzböden. Die Bühne hier in der Aula der Rüttischule ist perfekt. Wir haben ausser in verschiedenen Schulhäusern auch schon auf der Bühne des Hotels Wildhorn in Lauenen oder sogar bei mir in der Garage geprobt.
www.govhs.ch/kurse/tanzen/flamenco-mit-genauen-daten