«Die Tourismusakzeptanz ist hoch, aber sie ist nicht selbstverständlich»
06.02.2025 InterviewFlurin Riedi, Direktor von Gstaad-Saanenland Tourismus, spricht über die Balance zwischen Tourismus und Lebensraum, den Fachkräftemangel und warum die Region mehr Hotelbetten braucht.
JOCELYNE PAGE
Sie sind seit sechs Jahren Direktor bei Gstaad ...
Flurin Riedi, Direktor von Gstaad-Saanenland Tourismus, spricht über die Balance zwischen Tourismus und Lebensraum, den Fachkräftemangel und warum die Region mehr Hotelbetten braucht.
JOCELYNE PAGE
Sie sind seit sechs Jahren Direktor bei Gstaad Saanenland Tourismus. Was sind die zentralen Aufgaben in Ihrer Position?
Meine Arbeit umfasst ein breites Spektrum. Ich würde es wie folgt beschreiben: Es geht darum, gut zuzuhören, die Region zu stärken und als Ansprechpartner für unterschiedlichste Anliegen zu fungieren. Tourismus bedeutet nicht nur, sich um Gäste zu kümmern, sondern auch um die Einheimischen. Wir müssen die Balance zwischen Tourismus- und Lebensraum halten. Ein erfolgreicher Tourismus kann nur funktionieren, wenn die Region als Lebensraum für die lokale Bevölkerung attraktiv bleibt.
Sie sprechen von einer Balance. Wie zeigt sich diese konkret?
Wir hinterfragen jede Entscheidung: Dient sie nur dem Gast oder haben auch unsere Leistungspartner und die Einheimischen einen Nutzen? Ein gutes Beispiel sind Ticketing-Services, die Poststellen in unseren Tourismusbüros oder der Unterhalt von Langlaufloipen und Spielplätzen. Das sind Angebote, die sowohl Touristen als auch Einheimischen zugutekommen.
Sie verwenden neu bewusst das Wort «Leistungspartner» statt «Leistungsträger». Warum?
«Leistungsträger» suggeriert eine Hierarchie, eine Last, die getragen werden muss. Das entspricht nicht unserer Philosophie. Wir begegnen unseren Partnern – sei es eine Skischule, ein Hotel oder ein Coiffeurgeschäft – auf Augenhöhe. Deshalb spreche ich lieber von «Leistungspartnern».
Wie hat sich die Wahrnehmung des Tourismus in den letzten Jahren verändert?
Es wird heute nicht mehr akzeptiert, dass wir nur über Tourismus sprechen. Es braucht einen ganzheitlichen Ansatz. Die Menschen hier in unserer Region wollen zu Recht ernst genommen werden, denn sie haben teilweise das Gefühl, dass ihre Bedürfnisse in den Hintergrund geraten sind, weil grosse touristische Projekte vorangetrieben wurden. Die Tourismusakzeptanz ist hoch, aber sie ist nicht selbstverständlich.
Der Tourismus nimmt auch einen bedeutenden Teil der regionalen Wirtschaft ein.
Absolut! Viele Arbeitsplätze hängen direkt oder indirekt davon ab. Doch genau das wird manchmal vergessen. Es ist eine Herausforderung, immer wieder aufzuzeigen, wie die gesamte Region vom Tourismus profitiert. Besonders die jüngere Generation sieht das anders als die ältere. Die Jüngere hinterfragt stärker: Geht es nur um Profit oder auch um die Lebensqualität?
Internationale Gäste haben in der Destination Gstaad immer schon eine grössere Rolle gespielt. Wie hat sich die Gästestruktur verändert in den vergangenen Jahren?
Der Markt aus den USA wird wichtiger, und Indien ist schweizweit ein grosser Wachstumsmarkt. Den Letzteren bearbeiten wir nicht aktiv, aber Veränderungen sind spürbar. Es gibt teilweise Berührungsängste, insbesondere mit indischen Gruppen, aber Pauschalisierungen und Vorurteile sind fehl am Platz. Aber ja, es gibt auch neue Herausforderungen, welche wir lösen müssen - wie z.B. die Frage der Lenkung von Reisegruppen.
Ein grosses Thema ist der Magic Pass, der ab kommendem Sommer auch unsere Region einbindet. Welche Chancen sehen Sie darin?
Ich sehe ihn als klare Chance. Natürlich bringt er Herausforderungen mit sich, aber wenn wir ihn richtig steuern, können wir das Angebot optimieren und als ganze Region davon profitieren. Für die Bergbahnen ist es ein nachvollziehbarer Entscheid, um die nötigen Frequenzen für einen rentablen Betrieb im Winter und Sommer erreichen zu können. Gerade im Sommer, wo das Bergbahnangebot «massiv» unterfrequentiert ist, kann das eine positive Entwicklung auslösen. Wichtig ist, dass wir die Qualität auch in Zukunft hoch halten um ein rundum perfektes Erlebnis bieten zu können.
Ein weiteres grosses Projekt ist die Concert Hall in Gstaad, nun steht eine weitere in Rougemont zur Diskussion (wir haben berichtet). Wie beurteilen Sie die Situation?
Ich halte den zuletzt diskutierten Ansatz für spannend: Eine Concert Hall mit Sportzentrumsanlage an einem Ort und eine Kunstgalerie an einem anderen Standort – das wäre eine Win-Win-Situation für die Region. Zwei Concert Halls wären hingegen nicht zielführend. Als GST sind wir aber nicht federführend bei diesen Projekten, stehen jedoch beratend unseren Partnern zur Seite.
Gstaad Saanenland Tourismus wächst stetig. Wie viele Mitarbeitende haben Sie aktuell?
Ja, unser Aufgabenbereich ist gewachsen, insbesondere durch die Wiederintegration der Marketingabteilung und der Herausforderungen der digitalen Transformation. Neu dazugekommen sind auch Mandatsaufträge wie der Ranger in Lauenen, die Trailcrew oder die Sport- und Freizeitkoordination. Aktuell stehen für GST zwischen 45 und 50 Voll- und Teilzeitmitarbeitende im Einsatz – im Winter etwas mehr, im Sommer etwas weniger.
Braucht es dafür mehr Geld?
Fakt ist, dass mit den Kurtaxen- und Tourismusförderungserträgen alleine die Aufgaben von GST nicht finanziert werden können, weshalb GST bereits heute zusätzliche Gemeindebeiträge erhält. Aktuell überprüfen wir gemeinsam mit unseren vier Standortgemeinden die Aufgaben und Aufträge von GST, damit auf Basis dieser Arbeit per 1. Januar 2026 die neuen Leistungsvereinbarungen abgeschlossen werden können. Bei der Überprüfung der Aufgaben von GST mussten wir feststellen, dass vielen gar nicht bewusst ist, wie viele Infrastrukturen durch GST unterhalten und betrieben werden. Dies wollen wir korrigieren, denn nicht nur mir persönlich ist es wichtig, dass der Auftrag von GST klar formuliert ist und auf Basis dessen eine kongruente Finanzierung gewährleistet ist.
Wie finanziert sich Gstaad Saanenland Tourismus grundsätzlich?
Hauptsächlich über Kurtaxen, die Tourismusförderungs- und Beherbergungsabgaben sowie Gemeindebeiträge. Die eigenen Erträge fallen eher tief aus. Wir sind jedoch vom Auftrag her ja auch eher Dienstleister und Bereitsteller für unsere Partner, Gäste und Einheimische und weniger ein Produzent, welcher Produkte im eigentlichen Sinn verkauft.
Ein Dauerbrenner ist auch der Fachkräftemangel. Wie gehen Sie damit um?
Die Löhne in der ganzen Tourismusbranche sind nicht so hoch wie in manchen anderen Sektoren, was die Branche zusätzlich fordert. Aber nicht nur in der Tourismusbranche, sondern praktisch in allen Branchen wird der Mitarbeiter- und Fachkräftemangel künftig leider wohl noch grösser werden. Darum ist es wichtig, dass die gesamte Region wo immer möglich an attraktiven Rahmenbedingungen für Mitarbeitende arbeitet. Als GST prüfen wir aktuell zusammen mit dem Gewerbeverein und dem Hotelierverein, inwieweit die Mitarbeiterplattform «YourGstaad» des Hoteliervereins für andere Branchen genutzt werden könnte.
Wie schlägt sich denn Gstaad im Vergleich zu anderen Destinationen, touristisch gesehen?
Ganz generell dürfen wir mit Überzeugung behaupten, dass unsere Destination sehr erfolgreich unterwegs ist. Ein Argument dafür ist sicherlich auch die gesunde Balance zwischen Tourismusund Lebensraum. In diesem Zusammenhang sehe ich auch die Strukturen von GST mit den Dorforganisationen, welche eine enge Verbindung zu den verschiedenen Dörfern sicherstellen, als grossen Vorteil.
Wo sehen Sie Nachholbedarf bei GST?
Wie bereits erwähnt, ist eine der grössten Herausforderungen die digitale Transformation. Aber auch beim Monitoring sehe ich noch Potenzial. Gerade im Zusammenhang mit der in Zukunft noch bedeutenderen Lenkung der Gästeströme müssen wir noch besser verstehen, wo und wie sich unsere Gäste – insbesondere die Tagesgäste und Reisegruppen – bewegen. Neue Technologien wie der Einsatz der künstlichen Intelligenz können uns dabei helfen.
Welche Herausforderungen sehen Sie für die Zukunft?
Die Schaffung von neuen Hotelbetten, insbesondere im Drei- bis Viersternesegment. Sogenannte Sportlodges wären eine tolle Ergänzung für unsere Region und bestimmt gefragt. In den letzten 15 bis 20 Jahren haben wir Hotelbetten und Betten in der Parahotellerie verloren, insbesondere beim Letzteren werden Zweitwohnungen immer öfters nur für den Eigengebrauch verwendet, nicht mehr vermietet. Das ist problematisch, weil «warme Betten» der wichtigste Destinationsmotor sind.
Wie kann der Tourismus dem entgegenwirken?
Direkt können wir nicht eingreifen, aber wir können sensibilisieren, welche Bedeutung dieses Thema hat. Es gibt Förderprogramme, aber letztlich braucht es – beispielsweise bei der Realisierung von Sportlodges – Landbesitzer, Investoren und die richtige Zone dazu.
Zum Schluss: Wie blicken Sie auf die kommenden Jahre?
Wir sind gut aufgestellt, sowohl im Sommer- als auch im Winterhalbjahr. Wir werden die Saisonzeiten optimieren, beispielsweise mit einer längeren Betriebsdauer der Bergbahnen im Sommer und Herbst. Auch Events wie das Caprices Festival bringen ein neues Gästesegment und weitere neue Events sind geplant, wie ein jährlich wiederkehrender Trailrunning-Event und das Migros Hike and Sounds. Es ist wichtig, dass wir in alle vier Jahreszeiten investieren, auch wenn der Winter ein wichtiges, zentrales Standbein bleibt, und das ist auch gut so.
Ihr Wunsch für die Zukunft?
Ich wünsche mir eine Diskussionskultur, in der kritische Rückmeldungen als Chance gesehen werden, nicht als Einspruch oder Opposition. Unterschiedliche Meinungen sollten erlaubt sein und diskutiert werden – nur so bleibt die Akzeptanz für den Tourismus hoch und die Qualität langfristig gesichert.