Flurnamenbuch – ein wichtiger Zeitzeuge
10.03.2025 KulturNach «Flurnamen Kuhalpen Saanenland» ist nun der zweite Band «Flurnamen Talschaft Saanenland» erschienen. Am vergangenen Freitag fand im Hotel Wildhorn in Lauenen die Vernissage statt. Für die musikalische Umrahmung sorgte das Chörli Lauenen unter der ...
Nach «Flurnamen Kuhalpen Saanenland» ist nun der zweite Band «Flurnamen Talschaft Saanenland» erschienen. Am vergangenen Freitag fand im Hotel Wildhorn in Lauenen die Vernissage statt. Für die musikalische Umrahmung sorgte das Chörli Lauenen unter der Leitung von Erika Reichenbach.
ANITA MOSER
Sagen Ihnen diese Namen etwas und wenn ja, könnten Sie sie zuordnen? Arnätschibode, Hutzli, Suwgrabe, Schüpfi, Bifang, Grichtsflue, Gussetli, Hansifang, Chürzi, Biseschür, Esel, Ruedeli, Ds Käthelis, Feli, Änteli, Chaschperli, Pfaffebärg, Suemeli, Sutte, Joni, Höuwrächt, Schwizgäbeli, Guggerli, Schafsäckel, Guferli, Wälteli, Schnäggli, Teechrüter, Auguschtmatthick, Tüfelsschüpfe, Topfeli oder Chrotti – das ist nur eine kleine Auswahl von den rund 1800 Flurnamen, die im zweiten Band des Autorentrios Gottfried Ryter, Ruedi Reichenbach und Rolf Marti verortet sind.
«Die Angaben und Fakten sind nun auf 120 Seiten zusammengetragen und man kann die Region zu Hause im Stübli vorwärts und rückwärts studieren», sagte Gemeinderätin Claudia Ryter anlässlich der Vernissage im Hotel Wildhorn in ihrem Grusswort im Namen der Gemeinde Lauenen. Das Buch biete auch eine wunderbare Gelegenheit, unsere schöne Gegend von einer anderen Seite kennenzulernen. «Vielleicht bei einem Sonntagsausflug in eine besondere Ecke des Saanenlandes oder dahin, wo es heisst, wie man selber heisst.» Sie schloss ihre kurze Ansprache mit einem Text unter dem Titel «Was man in Lauenen nicht alles kann», gespickt mit lokalen Flurnamen: «Im Chrutzewald sich verloufe, im Mühlibächli na ahaloufe. (…) Vor Wolfegg ahe mitem Schlitte flitze, ufem Mittagplätz Heiteni stibitze.» Das alles und noch viel mehr könne man vor der Haustüre geniessen. «Und wer weiss, unterwegs trifft man auf dem Brüchli vielleicht Ruedi Reichenbach an oder zuhinterst im Tschärzis Gottfried Ryter. Und dann kann man all die Fragen klären, die vielleicht durch das Buch erst entstanden sind.»
Claudia Ryter dankte im Namen des Gemeinderates Lauenen den Autoren, dem Verlag Müller Medien AG und allen, die das Projekt mit Geld unterstützt haben.
«Flurnamen helfen, sich zu orientieren»
Armin Oehrli – er hat das Vorwort geschrieben – hat als Bergführer oft mit Flurnamen zu tun. «Es gibt Geschichtsbücher und Fachbücher, diese bedingen umfangreiche Recherchen und ein grosses Wissen. Es gibt Romane, dafür braucht es Fantasie. Es gibt Bücher mit Geschichten, deren Autoren sich auf Erlebnisse und Erfahrungen stützen. Telefonbücher beruhen auf Daten, Fakten und Namen. Und dann gibt es Bücher über … Flurnamen. Und das ist nochmals etwas ganz anderes», so Armin Oehrli. «Flurnamen Talschaft Saanenland» sei ein wunderschönes Buch, mit Flurnamen, die helfen, sich zu orientieren. «Und es gibt sehr viele Hinweise auf die Bewachsung dieser Orte und Regionen, ob es sumpfig ist oder trocken.» Bei jeder Bezeichnung und jedem Namen könne man sich selber Gedanken machen und sich überlegen, was dort wohl alles passiert sei, dass der Ort zu seinem Namen kam.
Eine Fleissarbeit
Das Buch sei wunderbar illustriert mit Drohnenfotos, betonte Armin Oehrli. «Ansichten, die man nicht täglich sieht, die zum Teil ein ganz neues Bild geben vom Saanenland. Das Buch ist ein Zeitzeuge – gerade auch wegen der Fotos.» Es sei auch in zwanzig Jahren noch interessant, dieses Buch anzuschauen.
Vielleicht schüttle man den Kopf, weil sich so viel verändert habe, vielleicht werde das damalige Handeln aber auch bestätigt. «Die meisten Flurnamen werden sich nicht stark verändern», sagte Oehrli und lobte das Autorenteam, dass es sich der wichtigen Arbeit, jede Ecke irgendwie zu bezeichnen, angenommen hat. «Es ist eine Fleissarbeit, 1800 Namen am richtigen Ort einzusetzen.
Flurnamen gehen vergessen
«Ohne die drei Protagonisten hätten wir keine solchen Bücher. Sie waren viele Kilometer unterwegs im Saanenland – vom Gsteig bis in die Lauenen, vom Abländschen bis Saanen – und haben akribisch die Namen zusammengetragen», betonte auch Verleger Frank Müller. «Flurnamen geraten immer mehr in Vergessenheit, deshalb ist es wichtig und wertvoll, dass wir sie auf Papier festhalten», so Müller. «Danke, dass ihr euch die Zeit und Energie genommen habt und dass es nicht bei einem ‹Mu sötti…› geblieben ist.»
Fehler bitte melden
In den beiden Büchern sind insgesamt 3848 Flurnamen nummeriert und verortet. «Es hat auch ein paar Fehler drin, ein paar, die nicht am richtigen Ort sind», so Frank Müller. «Melden Sie sich bei einem der Autoren, sodass wir es in unserer Datei korrigieren können, damit alles korrekt ist, sollte es einen Nachdruck geben.» Und Gottfried Ryter riet, die Korrektur zusätzlich in den eigenen Büchern einzutragen.
Band 1: «Flurnamen Kuhalpen Saanenland» 160 Seiten, ISBN 978-3-907041-87-1, Fr. 28.–
Band 2: Flurnamen Talschaft Saanenland», 120 Seiten, ISBN 978-3-907041-96-3, Fr. 28.–
Erhältlich bei Müller Medien AG, www. mmedien.ch, sowie in allen Buchhandlungen.
«Der Gebrauch von Flurnamen ist massiv zurückgegangen»
Im Rahmen der Vernissage stellte Verleger Frank Müller den Autoren ein paar Fragen. Ruedi Reichbach fehlte krankheitshalber, er hatte die Fragen im Vorfeld schriftlich beantwortet.
ANITA MOSER
Gottfried Ryter, Sie sind der geistige Vater dieser Bücher. Seit wann befassen Sie sich mit Flurnamen?
Gottfried Ryter: Das ist lange her. Unsere Familie ging Anfang der 1950er-Jahre auf dem Meiel z Bärg. Beim Aufstieg hat unser Vater die jeweiligen Flurnamen – «Nase, Flügelbüehl, Gspaltener Stein» usw. – erwähnt. Das hat mich fasziniert. Aus der Schule entlassen, habe ich hauptsächlich auf dem Meiel verschiedene Orte besucht. Es hat mich interessiert, wie es da aussieht, warum es dort heisst, wie es heisst.
Wie sind Sie dazu gekommen, die Flurnamen zu sammeln?
Gottfried Ryter: Durch die Flurnamen an den Wänden beim Ausgang des Parkhauses in Saanen. «Gottfried, meine Jungen wissen nicht, was wo ist, jetzt wird aufgeschrieben!», sagte ich zu mir. Das war der Grundstein. Ich fragte meinen Jagdkollegen Ruedi Reichenbach, ob er mir helfe, ein Flurnamenbuch zu erstellen. Ich wusste, dass er viel weiss. Schlussendlich hat er zugesagt. Wir sind ein Team geworden zusammen mit Rolf Marti und mit Müller Medien. So ist die Idee entstanden, ein Flurnamenbuch zu gestalten – und jetzt gibt es bereits zwei.
Rolf Marti, Sie haben die geschichtlichen Aspekte beigesteuert. Was machen Flurnamen wertvoll?
Rolf Marti: Flurnamen sind ein Spiegel unserer Kultur, ein Spiegelbild von allen menschlichen Tätigkeiten, von verschiedenen Berufen. Andererseits sind sie sehr vielfältig, vor allem in unserem deutschen Sprachgebiet. Sie sind zum Teil Tausende Jahre alt. Ich wollte den geschichtlichen Ursprung von all den Namen und Begriffen und die Herkunft wissen, bin dem nachgegangen und war auch in Universitäten. Ein Beispiel: Vor vielen Jahren war die Mehrzahl des Worts Boden nicht Böden sondern Bodme.
Warum faszinieren Geländenamen?
Rolf Marti: Es liegt ebenfalls an der Vielfältigkeit. Die Namen sagen etwas darüber aus, was man gemacht hat. Es gibt Gelände, die man vor 300 Jahren ganz anders genutzt hat oder nutzen konnte als heute. Es hat Veränderungen gegeben: Wege konnten aufgrund eines grossen Bruches nicht mehr begangen werden. Auch interessant sind die Unterschiede der einzelnen Begriffe in den verschiedenen Tälern. Die Vokalisation ist anders, die Endung, ebenfalls die Zusammensetzungen. Es käme nicht gut, würde man jemanden beauftragen, auf einem weissen Blatt Flurnamen eines Gemeindegebietes zu erfinden. Die Namen sind etwas Gewachsenes, wie ein alter Baum mit tiefgreifenden Wurzeln.
Ruedi Reichenbach, ab wann wurden Sie mit Flurnamen konfrontiert?
Ruedi Reichenbach: Eigentlich von klein auf. Ich bin in einer Bauernfamilie mit sieben Geschwistern aufgewachsen. Wie viele dannzumal mussten auch wir ein paar Mal im Jahr zügeln. Das hiess, viel zu Fuss gehen. Die Eltern hatten unterwegs Zeit, uns zu erklären, was wie heisst. Wir sind von der Tüffi (früher Teufi) zu Under Tungel und weiter zur Oberi Steineweid gezogen und im Herbst wieder zurück. Einmal trug unser Mueti beim Zügeln von Under Tungel nach Hause eine schwere Hutte, führte an einer Hand ein kleines Kind und an der anderen eine Geiss. Als der Vater zu Hause fragte, ob alles gut gegangen sei, antwortete die Mutter: «Ja, alles wäre gut gegangen, aber die blöde Geiss wollte im Sulzgraben nicht durch das Wasser.» Dank der Flurnamenkenntnisse wussten alle, wo der Sulzgraben ist.
Hatten Sie als Förster auch mit Karten und Flurnamen zu tun?
Ruedi Reichenbach: Ja, ziemlich viel. Von den Wirtschaftsplänen der Alpgenossenschaften, den Schlagplanungen und Aufforstungen über Waldstrassenbau und Seilbahnprojekte bis zu Wildschadenkarten und Wildruhezonen ging nichts ohne gute Karteneinträge.
Gottfried Ryter, Sie wohnen in der Gruben. Haben Sie ein Beispiel, wie es mit den Flurnamen in Ihrer Umgebung steht?
Gottfried Ryter: Es gibt ein Gräbli, das heisst oben an der Wysseflueh Chueseiki, dann wird es zum Wyssefluegräbli, ab Rellersbrune heisst es Rellersgrabe, ab der Unterführung der MOB Alpenblickgräbli. Dann kommt es mit dem Lotziund dem Berschelgräbli zusammen und fliesst als Bergbächli bei Aellens Sagi vorbei dem Trottoir entlang wieder in den Kanal. Bei der Katterwegsbrücke fliesst es in die Saane. Leider muss ich gestehen, dass ich das Alpenblickgräbli im Buch vergessen habe.
Rolf Marti, warum ist es Ihrer Meinung nach wichtig, dass man auch die Namen aus dem Talboden zusammengetragen und festgehalten hat?
Rolf Marti: Im Talboden gibt es vor allem in der Moderne am meisten Veränderungen. Es wird viel gebaut, es gibt mehr Gewerbezonen und Strassen. Seit der Einführung von Strassennamen vor ein paar Jahren ist der Gebrauch von Flurnamen massiv zurückgegangen. Früher hat auch der Pöstler die Flurnamen gebraucht. Alles ist ein bisschen verloren gegangen. Die Strassen sind kilometerlang – so heisst die Strasse ab dem Würstenkreisel in der Gemeinde Saanen bis in die Lauenen Lauenenstrasse. Es gäbe aber Dutzende von anderen Namen. Und meiner Meinung darf man trotzdem wissen, wie ein Gebiet – auch wenn es überbaut wird – Jahre oder Jahrhunderte davor geheissen hat.
Ruedi Reichenbach: wie ist das Gefühl zu den nun vorliegenden Büchern?
Ruedi Reichenbach: Ich spüre zwei verschiedene Glücksgefühle. Dass Gottfried die Idee hatte, die Flurnamen im Saanenland zusammenzutragen und wweiner breiteren Bevölkerung zugänglich zu machen und ich mithelfen durfte, hat mich sehr gefreut und mir ein Glücksgefühl gegeben.
Und das zweite Glücksgefühl?
Ruedi Reichenbach: Nach dem ersten Band «Flurnamen Kuhalpen Saanenland» wurden Stimmen laut, ob wir die Täler auch noch unter die Lupe nehmen wollten. In Anbetracht unserer längst verklungenen Flegeljahre brauchte das schon eine gewisse Überwindung. Aber jetzt, wo wir in den zwei Bänden 3848 Flurnamen im ganzen Saanenland zusammenhängend ausfindig machen konnten, bin ich doch glücklich, dass ich das noch erleben durfte.