«Ich bin ein richtiges ‹Reisefüdli›!»
15.07.2024 InterviewGaby Weyermann setzte sich fast ihr ganzes Berufsleben lang dafür ein, den Kindern in der Heilpädagogischen Schule (HPS) Gstaad ein gesundes Selbstwertgefühl mit auf den Weg zu geben. Dass sie «öpper sy», hinstehen und zeigen können, wer sie sind. Im ...
Gaby Weyermann setzte sich fast ihr ganzes Berufsleben lang dafür ein, den Kindern in der Heilpädagogischen Schule (HPS) Gstaad ein gesundes Selbstwertgefühl mit auf den Weg zu geben. Dass sie «öpper sy», hinstehen und zeigen können, wer sie sind. Im Interview erzählt die kürzlich Pensionierte, warum es ihr Traum gewesen war, Kinder mit besonderen Bedürfnissen zu unterstützen, wie sie ausgerechnet nach Gstaad kam und dass sie in ihrer Freizeit am liebsten im Wasser fliegt.
KEREM S. MAURER
Wie sind Sie auf die Idee gekommen, Kinder mit besonderen Bedürfnissen betreuen und unterrichten zu wollen?
Für mich waren Kinder mit besonderen Bedürfnissen spannende Rätsel. Ich sah meine Aufgabe darin, diese aufzuschlüsseln und eine Beziehung mit den besonderen jungen Menschen aufzubauen. Ich liebte es, herauszufinden, was bei den «schwierigsten» Kindern möglich war und glaube, dass dies die Kinder gespürt haben. Wenn ich zu einem nicht durchdringen konnte, versuchte ich andere Wege. Bis es klappte.
Das heisst, Sie haben sich auf jedes einzelne Kind individuell eingelassen?
Ja, anders ging es nicht. Das machte meinen Beruf so spannend und abwechslungsreich. Zuletzt waren sechs Kinder in meiner Klasse, doch es waren auch schon zehn. Die einen hatten das kognitive Niveau von Dreijährigen, andere gingen nur ganz knapp an der Einschulung in der Regelschule vorbei. Zusammen bildeten sie eine Gruppe mit ganz unterschiedlichen Bedürfnissen. Spannend war für mich immer, den Schulstoff so aufzubereiten, dass alle irgendwie davon profitieren konnten.
Das heisst, Sie waren nicht nur Schulleiterin, sondern auch Klassenlehrerin?
Ja, ich habe als Heilpädagogin angefangen und erst viel später zusätzlich die Schulleitung übernommen.
Ihr Partner Markus Walther, der selbst über vierzig Jahre für die HPS Gstaad tätig war, sagte im Interview anlässlich seiner Pensionierung vor acht Jahren, in diesem Beruf sei es wichtig, jung und flexibel zu bleiben. Ist Ihnen das gelungen?
(Lacht.) Das war auch mein Motto. Wenn man mit Kindern arbeitet, hält das einen automatisch jung. Kinder bringen immer neue Energie, sind sehr direkt, geradeheraus und ohne Filter. Sie sind nach meinem Empfinden die ehrlichsten Menschen, die es gibt.
Die Kinder verbringen eine lange Zeit in der HPS, da wachsen sie einem schon ans Herz...
Oh ja. Viele kommen im Alter von vier oder fünf Jahren und bleiben bis sie achtzehn sind. In dieser Zeit können Beziehungen aufgebaut werden. Auch die Zusammenarbeit mit den Eltern ist wesentlich enger als dies in Regelschulen üblich ist. Diese ganzheitliche Herangehensweise, in der auch die Familien in den Entwicklungsprozess der Kinder miteinbezogen werden, lässt bei unserer Arbeit eine grosse Tiefe entstehen. Das ist auf der einen Seite zwar sehr schön, kann aber je nach Situation auch belastend sein.
Abgrenzung ist das Zauberwort. Wie haben Sie sich abgegrenzt?
Um mich abzugrenzen, bewegte ich mich in der freien Natur. Die Sommerferien waren jeweils sehr hilfreich. Wir – mein Partner und ich – verreisten oft fünf Wochen am Stück. Gingen weit weg. Indonesien, Papua-Neuguinea oder Mikronesien. Ich bin ein richtiges «Reisefüdli» und tauche sehr gerne. Man darf die Schulgeschichten im Kopf nicht immer weiterdrehen lassen, man muss sich auf andere Gedanken bringen. Und die Natur hat mir dabei sehr geholfen.
Wenn Sie mit Markus Walther, Ihrem Lebenspartner, in den Ferien waren, haben Sie da nicht dauernd über die Arbeit gesprochen?
Nein! Wir hatten schon früh eine Abmachung getroffen: In den Ferien ist das Thema Arbeit absolut tabu. Daran haben wir uns gehalten – eben auch, um uns abzugrenzen und zwischendurch den notwendigen Abstand zu bekommen.
Das soziale Umfeld kann auch helfen...
Auf jeden Fall. Seit einiger Zeit hatte ich jeweils am Freitagmorgen frei, Altersentlastung, sozusagen. Da habe ich oft meine Familie in Bern besucht, ging zu meinen Schwestern und ihren Kindern. Solche kurzen Tapetenwechsel waren auch immer sehr ausgleichend.
Warum sind Sie als Stadtbernerin ausgerechnet ins Saanenland gekommen?
Das ist eine spezielle Geschichte. Ich hatte nie viel Kontakt zur Familie meines Vaters und dachte immer, seine Mutter stamme aus Sarnen. Und als ich nach Gstaad gekommen bin, weil dieses Dorf auf meiner Wunschliste für ein Praktikum stand, stellte ich plötzlich fest, dass die Leute hier genau gleich sprechen wie mein Grossmami väterlicherseits. Es hat sich herausgestellt, dass sie eben nicht aus Sarnen, sondern aus Saanen stammte. Ich recherchierte und fand heraus, dass meine Vorfahren das Restaurant Rössli in der Feutersoey geführt hatten. Ich bin eigentlich – unbewusst – zu meinen Wurzeln zurückgekehrt.
Sie sind nur für ein Praktikum an der HPS nach Gstaad gekommen?
Damals hiess sie noch Sonderschule, genau. Das war 1987. Es dauerte nicht lange bis die Sonderschule in Zweisimmen, die nur noch von drei Schülern besucht wurde, geschlossen und mit Gstaad zusammengelegt wurde. Im Zuge dessen entwickelte sich aus der Praktikumsstelle eine Arbeitsstelle, die ich übernehmen konnte. Und dann bin ich bis auf zwei Jahre, als ich 1991/93 an der HPS in Bern arbeitete, hiergeblieben. 36 Jahre lang.
Inwiefern ist es Ihnen gelungen, die HPS Gstaad mitzuprägen?
Als Heilpädagogin war es mir immer ein grosses Anliegen, die Kinder und Jugendlichen in ihrer Entwicklung so zu fördern, dass sie ein gesundes Selbstbewusstsein entwickeln konnten. Sie in ihren Sozial- und Lernkompetenzen zu stärken und ihnen das Gefühl zu vermitteln, dass sie gut sind, wie sie sind! Ich glaube, dass meine positive Einstellung zum Leben, zum Schulalltag viel zu einem guten Schulund Arbeitsklima in der HPS beigetragen haben. Die Nähe zur Regelschule war mir immer sehr wichtig. Die HPS Gstaad ist seit vielen Jahren für den Kanton Bern eine Vorzeigeschule, welche zeigt, wie Integration trotz Separation gelingen kann. Seit 2018 war ich als pädagogische Schulleiterin tätig. Ich glaube, meine Art, eine Schule zu leiten, hat mir dabei geholfen, dass ich von allen akzeptiert und geschätzt wurde. Dem Team gegenüber transparent zu sein, es in Entscheidungen einzubinden, Verantwortung zu übergeben und die vorhandenen Ressourcen zu nutzen, ist ein guter Weg, um gemeinsam ein Ziel zu erreichen. Natürlich muss man als Schulleiterin manchmal auch Entscheidungen alleine treffen, doch das ist in jeder Führungsposition so.
Wenn man einen solchen Job übernimmt, hat man gewisse Vorstellungen, Ideale und Hoffnungen. Haben sich diese für Sie erfüllt?
Ja, das haben sie. Als ich den Job als pädagogische Schulleiterin übernahm, befürchtete ich anfänglich, dass es für mich schwierig werden könnte, weil ich aus einem bestehenden Kollegium heraus gewählt wurde. Da ich ein sehr spontaner Mensch bin, der auf andere zugeht und schnell merkt, wann der Schuh drückt, verstand das Team rasch, dass ich komme, frage, nachhake und helfe, Lösungen zu finden. Als Heilpädagogin kann ich nur sagen, dass die Arbeit mit Kindern immer mein Wunsch war. Ich würde diesen Beruf jederzeit wieder wählen. Kinder geben einem so viel Energie und bringen Freude in den Alltag. Ich ging jeden Tag gerne zur Arbeit. Da gibt es den berühmten Spruch von Konfuzius: «Wähle einen Job, den du liebst, und du wirst nie wieder arbeiten müssen.»
Gibt es etwas, das Sie am HPS-Betrieb gerne ändern wollten, aber nicht umsetzen konnten?
Eigentlich nicht, nein. Während meiner Zeit als Schulleiterin wurde der Wechsel von der Gesundheits- und Fürsorgedirektion GEF – wie die Gesundheits-, Fürsorge- und Integrationsdirektion GSI damals hiess –, zur Bildungs- und Kulturdirektion BKB vollzogen. Schon als Markus Walther noch Schulleiter war, haben wir damit begonnen, uns mit dem Lehrplan21 auseinanderzusetzen. Haben viele Weiterbildungsangebote genutzt und neue Schritte bezüglich Bildung in die Wege geleitet. Damit waren wir im Kanton Bern pioniermässig unterwegs. Wir waren eine der ersten Schulen, welche den neuen Bildungsplan nach Weisungen der BKD umgesetzt hat. Ich wurde beispielsweise von vielen Schulen im Kanton Bern angefragt, ob ich ihnen unser Konzept vorstellen könne. Auch unser Integrationskonzept ist einzigartig. Unser Vorteil ist es, dass die HPS Gstaad eine kleine Schule auf dem Areal einer Volksschule ist. An anderen Orten sind besondere Volksschulen irgendwo weit weg und getrennt von den Regelschulen angesiedelt, was die Zusammenarbeit und Organisation sehr viel schwieriger macht.
Das ist eine einzigartige Situation...
Genau. Viele Schulen aus dem ganzen Kanton sind zu uns gekommen, um zu schauen, wie unser Integrationskonzept, die enge Zusammenarbeit mit der Volksschule Rütti und dem Oberstufenzentrum Ebnit funktioniert. Dass unsere Situation derart privilegiert ist, haben wir nicht zuletzt auch der Gemeinde Saanen zu verdanken.
Sie war während der ganzen Zeit immer sehr kooperativ, hatte ein offenes Ohr für unsere Anliegen und bot auch Hand zum Ausbau der neuen Schule. Auch den Betrieben im Saanenland und dem Obersimmental, die den HPS-Abgängerinnen und -abgängern eine Anschlusslösung bieten, sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Wir wissen, dass dies nicht selbstverständlich ist.
Welches war das schönste Erlebnis, das Sie mit der HPS verbindet?
An unserem gemeinsamen Abschiedsfest für mich kamen viele ehemalige Schüler:innen. Sie umarmten mich und bedankten sich für die tolle Schulzeit. Auch viele Eltern kamen zu mir und sagten, dass die Zeit in der HPS für ihre Kinder so wichtig und unvergesslich war. Das hat mich sehr berührt. Es gäbe da noch sehr viel mehr zu erzählen, beispielsweise, zu sehen, wie Kinder sich während der Schulzeit entwickeln, wie sie plötzlich anfangen zu sprechen oder Blickkontakt mit einem aufnehmen. Es gibt so viele alltägliche Dinge, die wie kleine Wunder sind. Man muss sie nur sehen und wahrnehmen können.
Was waren die Highlights während Ihrer beruflichen Tätigkeit?
Schön waren die grossen Feste, welche wir oft feiern durften. Ich fand es toll, dass jeweils viele Familienangehörige dabei waren. Das waren wichtige Anlässe für das Verständnis zwischen Eltern und Schule. Diese Feste waren eigentliche Familienveranstaltungen und haben mir immer sehr gut gefallen. Aber auch die legendären Schullager! Diese gemeinsame Zeit war immer sehr intensiv und hat viel zum Zusammenhalt sowohl unter den Schüler:innen als auch den Mitarbeiter:innen beigetragen. Am meisten gefreut hat mich aber immer, wenn Schülerinnen und Schüler ein gesundes Selbstbewusstsein entwickeln konnten und einen Ausbildungsplatz gefunden haben, welcher ihnen ein erfülltes Leben ermöglichte. Es freut mich aber auch sehr, dass trotz grossem Fachkräftemangel ehemalige Praktikantinnen und Praktikanten nach Abschluss ihrer Ausbildung anrufen und fragen, ob wir eine Stelle frei hätten, und sagen, dass sie gerne bei uns arbeiten möchten. Neu bieten wir ab dem ersten August 2024 auch eine Lehrstelle zur Ausbildung einer Fachbetreuung Kinder (FABE K) an. Das alles spricht doch für die Arbeit und Qualität unserer Schule. Ausserdem haben wir die neue Schulleiterin aus den eigenen Reihen rekrutieren können.
Sie sprechen mit Feuer aus Herz und Seele, wenn Sie von der HPS und den Kindern sprechen. Können Sie das alles loslassen?
Weil ich ein grundsätzlich positiv eingestellter Mensch bin, sehe ich auch das Gute an der kommenden Situation. Natürlich gehe ich auch mit einem weinenden Auge, aber ich freue mich auf jene Dinge, die bislang zurückstehen mussten. Abgesehen davon werde ich nicht ab der Welt sein, und die HPS hin und wieder besuchen. Ein Kind hat letzthin zu mir gesagt: «Gäll, du chunnsch mi scho wider cho bsueche, so drümal ir Wuchä oder so». Aber so oft wird es nicht sein.
Welche Dinge mussten denn zurückstehen? Worauf freut sich Gaby Weyermann, wenn sie pensioniert ist?
Natürlich freue ich mich darauf, endlich auch mehr Zeit für meinen Lebenspartner zu haben. Wir haben viele gemeinsame Hobbys. Biken, Reisen und Tauchen. Ich liebe es, im Wasser über die Riffe zu fliegen, mich mit der Strömung treiben zu lassen oder mich von einer grossen Schule von Hammerhaien umkreisen zu lassen. Zudem werde ich sicher mehr Zeit mit meiner Familie in Bern verbringen, darauf freue ich mich sehr. Dann werde ich meine Schwester in Australien besuchen, viel Sport treiben und wieder mit Malen anfangen.
Sie haben gesagt, es gebe eine neue Schulleiterin aus den eigenen Reihen. Wer wird Ihre Nachfolge antreten?
Claudia Huonder wird diese Aufgabe übernehmen. Sie arbeitet seit 2018 in der HPS Gstaad und hat alle notwendigen Ausbildungen absolviert. Auch das Team freut sich, dass sie die Aufgaben als pädagogische Schulleiterin übernimmt.
Welchen Rat geben Sie ihr mit auf den Weg?
Mein Rat an sie ist, unsere Philosophie weiterzutragen. Vor allem immer mit viel Humor und Freude an die Sache herangehen. Ich denke, wenn sie das kann, wird ihr schon sehr viel gelingen. Natürlich muss man spontan und flexibel sein können. Man kann etwas noch so gut planen und vorbereiten, in einer HPS kann immer irgendetwas dazwischenkommen und verursachen, dass man die Pläne über den Haufen werfen muss. Ich bin mir sicher, dass Claudia die Schule kompetent und mit der nötigen Flexibilität weiterführen wird!
ZUR PERSON
Gaby Weyermann, 1959 in Bern geboren, absolvierte zuerst eine Verwaltungslehre in einem Anwaltsbüro, bevor sie sich über Umwege zur Primarlehrerin und Heilpädagogin – damals lautete die offizielle Bezeichnung noch «Lehrer für geistig Behinderte» – ausbilden liess. Aus unbestimmten Gründen wollte die Stadtbernerin einmal in die Berge, ihre Wahl fiel zufällig auf Gstaad. 1987 bekam sie einen Praktikumsplatz in der Heilpädagogischen Schule in Gstaad – und ist im Saanenland hängen geblieben. Hier fand sie nicht nur beruflich ihre Erfüllung, sondern auch am Arbeitsplatz in der Person von Markus Walther – selbst langjähriger Leiter der HPS Gstaad – ihren Lebenspartner. Im Jahr 2018 übernahm Gaby Weyermann die Leitung der HPS Gstaad und führte diese bis zu Ihrer Pensionierung vor den aktuellen Sommerferien.
KMA