Gewalt in der Johannesoffenbarung – vom Umgang mit einem «unbequemen Freund»

  24.06.2022 Kirche

Wir erleben eine Zeit offensichtlicher Gewalt und Kriegsführung auch in Europa. Wie damit umgehen? Und wie kann die Resilienz von Kriegs- und Gewaltopfern gestärkt werden, ohne dass sie selber zu grausamen Tätern werden? Dazu möchte der folgende Artikel einen Beitrag aus biblischer Sicht leisten.

PFARRER PETER KLOPFENSTEIN

Von allen Büchern des Neuen Testaments hat wohl keines eine so ambivalente Rezeption wie das der Offenbarung des Johannes (=Offb). Seine Aufnahme in den biblischen Kanon war von grossen Schwierigkeiten begleitet; und von Martin Luther bis Rudolf Bultmann hat sich vor allem die protestantische Theologie mit diesem Buch nur schwer anfreunden können. In der Neuzeit ist die Gewaltdarstellung ins Kreuzfeuer der Kritik geraten. Der Psychoanalytiker Carl Gustav Jung sah in den Visionen des Johannes eine «wahre Orgie von Hass, Zorn, Rache und blinder Zerstörungswut». Das Buch gehöre, so der Vorschlag der Bibelwissenschaftlerin Tina Pippin, unter «Horrorliteratur» klassifiziert.

Wären die Bücher der Bibel Wesen, mit denen wir in unterschiedlicher Form befreundet sind, dann wäre die Offb in der Tat ein «unbequemer Freund». Die Gewalt springt uns förmlich ins Gesicht. Der Tod auf dem fahlen Pferd (Offb 6,8) ist überall präsent. Nach einer Schlacht reicht das Blut bis an die Zügel der Pferde (Offb 14,20). Am Ende erscheint Christus mit blutigem Gewand, um die Gegner so vernichtend zu schlagen, dass sich die Vögel an ihrem Fleisch sättigen können (Offb. 19,11– 21). Die Visionen von Tod, Schmerz und Qual sind – und darin liegt die theologische Bürde der Offb –Inszenierungen von Gottes Gericht: Wer das Tier anbetet, soll «trinken vom Wein der Wut Gottes, der unvermischt im Kelch des Zornes eingegossen ist, so dass er mit Feuer und Schwefel gequält wird vor den heiligen Engeln und vor dem Lamm» (Offb 14,10–11). Die Gerechtigkeit dieses zornigen Gottes wird mehrfach besungen: «Gerecht bist du, der ist und der war, der Heilige, denn du hast diese Gerichte verfügt, weil sie Blut von Heiligen und Propheten vergossen haben, und du hast ihnen Blut zu trinken gegeben. Sie sind es wert!» (Offb 16,5–6). Entsprechend werden die Menschen aufgerufen, sich über die Zerstörung Babylons zu freuen (Offb 18,20). Wie verträgt sich dieser offene Aufruf zur Schadenfreude mit dem Gebot der Feindesliebe?

Das letzte Buch der Bibel muss sich diese ethische Kritik gefallen lassen. Dennoch darf die Kritik wichtige Aspekte des Buches nicht übersehen. Ich nenne die folgenden:

1. Zunächst muss die besondere Spra
che der Offb berücksichtigt werden.
Diese bewegt sich am Rande des Sagbaren im Bereich von Visionen. Wir erfahren in etwa, was geschaut und gehört wird. Was diese Bilder, Stimmungen und Farben allerdings über die reale Welt aussagen, erschliesst sich nicht ohne Weiteres. Denn die Realität hat einen doppelten Boden. Nichts ist, wie es zu sein scheint: Löwen werden zu Lämmern, mächtige Städte erscheinen als alternde Huren, Drachen bedrohen erfolglos eine schwangere Frau. Wir «sehen» viel Gewalt, aber wir können nicht mit Gewissheit sagen, ob das Blut, das da fliesst, «echt» ist.

2. Aus historischer Sicht ist festzuhal
ten, dass die Offb das Produkt einer Krisenerfahrung ist. Gewiss ist die These einer systematischen Christenverfolgung unter dem römischen Kaiser Domitian (81–96 n. Chr.) als Hintergrund der Offb nicht haltbar. Die Visionen des Johannes sind dennoch Ausdruck eines komplexen Traumas, ausgelöst durch soziale Ausgrenzung, Armut und Instabilität in Kleinasien, die Verfolgung von Christusglaubenden in Rom durch Kaiser Nero (64 n. Chr.), die Zerstörung des jüdischen Tempels (70 n. Chr.) und einzelne Fälle von Martyrium. Die Offb setzt eine umfassende Verfolgung zwar nicht voraus, befürchtet diese aber für die Zukunft. Es muss also zwischen der objektiven Krise und der subjektiven Wahrnehmung unterschieden werden.

3. Gründe für eine Krisenwahrnehmung gab es genug: Kaiser Domitian reklamierte den Titel «Herr und Gott« für sich. Für die christlichen Gemeinden in Kleinasien verschärfte sich damit auch die Praxis des Kaiserkults. Viele Städte im Osten (darunter auch Ephesus, Smyrna und Pergamon) erhofften sich durch die Intensivierung des Kaiserkults Begünstigungen der römischen Zentralmacht. Die christliche Kultverweigerung war in erster Linie kein politischer Affront gegen Rom. Sie stellte vielmehr eine Gefährdung der Stadtidentität und eine Hinterfragung des darin wirksamen Machtgefüges dar. Dass solche Verweigerungen im Tod enden konnten, zeigt nicht nur der Fall des Antipas in Pergamon (Offb 2,13), sondern auch die ca. 20 Jahre nach der Offb in Kleinasien abgefasste Plinius-Korrespondenz (111–113 n. Chr.): Christen, die angezeigt wurden und sich weigerten, die Götter anzurufen und dem Kaiserbild Weihrauch darzubringen, drohte die Todesstrafe, sofern sie keine römischen Bürger waren.

4. Vor dem Hintergrund dieser Unterdrückungs-, Angst- und Aggressionserfahrungen stellt sich die psychologische Frage nach der Funktion der apokalyptischen Gewaltbilder. Sie haben am ehesten eine «kathartische« (psychisch reinigende) Wirkung. Was in Offb 6,9–11 zum Ausdruck kommt, ist nicht allgemein die Sehnsucht nach Gerechtigkeit, sondern nach einer Durchsetzung von Gottes Gerechtigkeit, die dem menschlichen Wunsch nach Rache entspricht. Dabei entstammen die meisten Bilder aus der Hebräischen Bibel (Altes Testament) und der jüdischen Apokalyptik. Die Gemeinden greifen in ihrer Symbolwelt auf stereotype Formen zurück. Doch obgleich Jesus als zentrale Handlungsfigur stark mit den Zügen des rächenden Richters und Kriegers gezeichnet wird, ziehen sich viele subversive Elemente durch: Jesus bleibt das geschlachtete Lamm. Er trägt das Schwert nicht in der Hand, es ragt aus seinem Mund heraus.

5. Die Verarbeitung von Aggression und Vergeltungswünschen ist insofern erfolgreich, weil Gott beziehungsweise Jesus an Stelle der Menschen als Richter und Rächer auftritt. Damit nimmt der Gott der Apokalypse das Gewaltmonopol ein – auch gegenüber der Supermacht Rom. Die Christusglaubenden erscheinen in keiner Vision der Offb als Mitkämpfende. Ihre Aufgabe ist, gewaltlos durchzuhalten, zu bezeugen und das Böse zu überwinden. Das entspricht der Empfehlung des Paulus an die römischen Gemeinden (Römer 12,19): «Übt nicht selber Rache, meine Geliebten, sondern gebt dem Zorn Gottes Raum! Denn es steht geschrieben: Mein ist die Rache, ich werde Vergeltung üben, spricht der Herr.»

6. Die Wirkungsgeschichte der Offb 
bestätigt diese Grundlinie. Entgegen einigen Behauptungen hat dieses Buch keine besonders gewaltvolle Rezeption erfahren. Wertvoll wurde (und wird) die Offb viel eher dort, wo Menschen aufgrund ihres Glaubens bedroht werden: bei den frühen christlichen Märtyrern, in der täuferischen Märtyrerliteratur, unter den evangelischen Dissidenten in England und in der Neuzeit vorwiegend auch in Kreisen der Befreiungstheologie.

Sprachliche, historische, psychologische und wirkungsgeschichtliche Aspekte können das empathische Verstehen der Offb und ihrer verstörenden Bilder fördern. Es bleiben dennoch Fragen: In der Offb gibt es keinen Raum für Feindesliebe oder für Mitgefühl mit den Leidenden. Die Gefühlswelt ist ausschliesslich «nach oben» gerichtet. Wenn die Menschen die Felsen anrufen: «Fallt auf uns herab!« (Offb 6,15–17) und wenn sie voller Schmerz den Tod begehren (Offb 9,6), äussern weder der Erzähler noch ein Engel irgendeine Form des Bedauerns. Dies ist innerhalb der Visionserzählung folgerichtig, denn die Feinde werden einseitig negativ gezeichnet. Damit macht die Offb ihre Leser und Leserinnen «gefühlsblind» für das Leiden der Gottesfeinde. Anders als Stephanus (Apostelgeschichte 6,4; vgl. Jesus in Lukas 23,34) bitten sie nicht um Gnade für ihre Peiniger; sie beten nicht für ihre Verfolger (vgl. Matthäus 5,44). Man könnte mit dem Reformator Martin Luther schliessen: «Endlich halte davon jedermann, was ihm sein Geist gibt, mein Geist kann sich in das Buch nicht schicken (…).»

Aber: Die Offb macht darauf aufmerksam, dass ein Ethos des Gewaltverzichts nicht alle Dämonen der Gewalt beseitigen kann. Eine voreilige Verwerfung der Offb könnte uns vergessen lassen, wie sehr auch unsere Fantasien, Sehnsüchte und Träume mit Gewalt zu tun haben. Das macht das letzte Buch der Bibel schlussendlich zu einem «unbequemen Freund».

MOISÉS MAYORDOMO

Prof. Dr. Moisés Mayordomo ist Professor für Neues Testament an der Universität Basel. Neben dem Phänomen von Gewalt und Gewaltüberwindung gilt sein Forschungsinteresse der Wirkungsgeschichte neutestamentlicher Texte. Der Text erschien zuerst in prospektiv 15/2022 (Theologisches und Religionswissenschaftliches aus Basel. Magazinbeilage zu bref). Der Text wurde von Peter Klopfenstein geringfügig angepasst.


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