Niemand spielt Golf in Golfe Juan. Diesem an einer Bucht der Côte d’Azur gelegenen Städtchen fehlen all jene mondänen Attribute der Nachbarkommunen wie Cannes, Juan-les-Pins, Antibes, Nizza oder gar Monte Carlo. Was Golfe Juan wirklich auszeichnet, ist ein wunderbarer Strand ...
Niemand spielt Golf in Golfe Juan. Diesem an einer Bucht der Côte d’Azur gelegenen Städtchen fehlen all jene mondänen Attribute der Nachbarkommunen wie Cannes, Juan-les-Pins, Antibes, Nizza oder gar Monte Carlo. Was Golfe Juan wirklich auszeichnet, ist ein wunderbarer Strand – bestehend aus Sand, Wasser, Sonne und meistens blauem Himmel. Liegestühle, Bars, Restaurants, «Ice Cream», Souvenirs – nichts von alledem findet man hier.
Wir mieten ein ganz kleines Haus – etwa halb so gross wie unsere Stube zu Hause – und dies in einem Ortsteil von Golfe Juan, der mehrheitlich aus grossen und derzeit unbewohnten Wohnblöcken aus den Sechzigerjahren besteht. Trotzdem fühlt man sich hier gar nicht allein und verloren. Denn jeden Tag – von 7.30 bis 20.30 Uhr – erscheint alle drei bis vier Minuten ein Jet am Himmel, auf der West-Ost-Anflugschneise nach Nizza. Der Aéroport Nice Côte d’Azur wird von 26 verschiedenen Fluggesellschaften angeflogen – von American Airlines bis zu Qantas.
Trotzdem hat man hier in Golfe Juan Zeit, um Zeitungen zu lesen. Besonders den «Nice Matin» – ein Organ, das Nachrichten über Unglücksfälle, Politik, Verbrechen und Fussball… und auch noch anderes mehr bringt. Noch am 8. Juni hatte «Le Monde» schon von den Europawahlen berichtet, mit dem Titel: «Europa unter dem Druck der Rechtsextremen». Zwei Tage später bringt der «Nice Matin» auf Seite 1 den Titel «Macron pokert» und fügt bei: «Emmanuel Macron löst die ‹Assemblée nationale› (d.h. das Parlament) auf!» Aber dieser Präsident war schon lange vor seinem Amtsantritt für Überraschungen gut. Aus der Ferne betrachtet scheint es, als würde er absichtlich das Parlament auflösen wollen, damit man mit den Neuwahlen die Rechtsextremen auch in Frankreich zur Machtübernahme befördern könnte. Denn Macrons Poker beflügelt auch den Provinzpolitiker Eric Ciotti: Dieser will sich mit seiner Partei «Les Républicains LR» gleich dem ultrarechten «Rassemblement national» von Marine Le Pen anschliessen. Daraufhin wird Ciotti vom LR-Vorstand von seinen Funktionen enthoben – jedoch zwei Tage später von einem Pariser Gericht bereits wieder als LR-Präsident bestätigt.
Auch in der nächsten Ausgabe von «Nice Matin» rätselt man noch über die Parlamentsauflösung durch den Präsidenten. Ein anonymer «Nahestehender» lässt sich so zitieren: «Wie oft glaubte er den Prognosen nicht, welche seiner Partei ‹Renaissance› grosse Verluste voraussagten». In der «Macronie» würden vor den kommenden Neuwahlen des Parlaments zwei unterschiedliche Visionen existieren: Präsident Macron habe den moderaten Oppositionsparteien die Hand ausgestreckt und sowohl die Sozialisten wie die Republikaner hätten ihm eine Absage erteilt. Auf der nächsten Seite dann ein Foto der Chefin des Rassemblement National unter dem Titel: «Marine Le Pen fait les yeux doux aux Républicains.»
Unten auf derselben Seite folgt schliesslich eine kleine Reportage über den gemeinsamen Besuch des deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier und des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron in Oradour-sur-Glane vom 10. Juni 2024. Dort verübte vor 80 Jahren, am 10. Juni 1944, «eine Einheit der Waffen-SS das zahlenmässig grösste deutsche Massaker in Westeuropa» (Peter Lieb, DHM Berlin). Im «Nice Matin» kann man Beispiele des Geschehens zur Kenntnis nehmen, auf deren Erwähnung ich hier verzichte. Und das obschon, wie man im «Nice Matin» präzisiert, der seit langem geplante Besuch eigentlich nach dem aufsehenerregenden Wahlsieg des Rassemblement national in Frankreich und dem neuen erfolgreichen Vorstoss der Rechtsextremisten in Europa eine besondere Bedeutung erhalten habe.
Frage: Ist es journalistisch, politisch und moralisch zulässig, mit dem Andenken an die Opfer von Oradour-sur-Glane und so mit dem «grössten deutschen Massaker in Westeuropa» Wahlkampf zu betreiben?
Antwort: Nein.
OSWALD SIGG
JOURNALIST, EHEMALIGER BUNDESRATSSPRECHER oswaldsigg144@gmail.com