Gemeinderat Gsteig zieht Traktandum zum Gesundheitsnetz Simme Saane zurück

  04.05.2023 Politik

Das in Gsteig für die Gemeindeversammlung vom 12. Mai vorgesehene Geschäft betreffend des integrierten Versorgungsmodells Gesundheitsnetz Simme Saane wird von der Traktandenliste zurückgezogen.

Mittels Konsultativabstimmungen haben die sieben Gemeinden im Obersimmental und Saanenland Ende 2021 bzw. Anfang 2022 der Gesundheit Simme Saane AG (GSS) den Auftrag erteilt, das Detailprojekt «Gesundheitscampus Simme Saane» mit einem Spital in Zweisimmen vertieft zu erarbeiten.

Der Gemeinderat von Gsteig hatte Gelegenheit, an mehreren behördlichen Anlässen und öffentlichen Informationsveranstaltungen teilzunehmen. Mit diesen Informationen und dem Studium aller Unterlagen konnte er sich ein umfassendes Bild vom erarbeiteten Versorgungsmodell Gesundheitsnetz Simme Saane machen. Der Verwaltungsrat und der Geschäftsführer der GSS haben unter hohem Zeitdruck grosse Arbeit geleistet und bemerkenswerte Verhandlungsergebnisse erzielt. Dafür gebührt ihnen grosser Dank und Anerkennung.

Wenn der Gemeinderat den Stimmberechtigten ein Geschäft zur Abstimmung vorlegt, hat er den Anspruch, auf Fragen lückenlos und verbindlich Antwort geben zu können. Wo möglich werden Alternativen gesucht und die Konsequenzen bei Ablehnung oder Veränderung einer Vorlage studiert. Beim Versorgungsmodell Gesundheitsnetz Simme Saane fehlt dem Gemeinderat zunehmend die Überzeugung, dass dieses funktionieren könnte. Ohne die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger bevormunden zu wollen, hat der Gemeinderat deshalb in Abwägung aller Umstände einstimmig entschieden, dieses Geschäft von der Traktandenliste zur Gemeindeversammlung vom 12. Mai zurückzuziehen.

Obwohl auch die Ratsmitglieder nach wie vor grosses Interesse an einer guten Gesundheitsversorgung haben, fehlt gegenwärtig die Überzeugung für eine Zustimmung.
– So vermögen bspw. einige Antworten der GSS auf kritische Fragen des Gemeinderates und aus der Bevölkerung die vorhandenen Zweifel nicht zu beseitigen. Die Planerfolgsrechnung geht von einer Steigerung der Fallzahlen aus. «Das dafür zusätzlich notwendige Personal lasse sich finden, weil man attraktive und sichere Arbeits- und Ausbildungsplätze anbieten werde. Mit einer gemeinsamen Ausbildungsinitiative sollen neue Aus- und Weiterbildungsangebote für angehende und erfahrene Gesundheitsfachpersonen geschaffen werden», schreibt die GSS. Das Personal wird aber bereits am 1. Januar 2024 benötigt, wenn die GSS den Spitalbetrieb in Zweisimmen übernehmen würde. Vor dem Hintergrund des aktuell grossen Fachkräftemangels eine wahrlich optimistische Annahme!
– Hinzu kommt, dass ein Teil des heutigen Zweisimmner Spitalpersonals diesem Projekt ebenfalls skeptisch gegenübersteht.
– Der Seniorenrat Saanenland sagt Nein zur Übernahme der Betriebe der Alterswohnen STS AG durch die GSS AG!
– Die bernische Spitallandschaft befindet sich im Umbruch.
– Die Inselgruppe schliesst zwei Spitäler wegen Fachkräftemangel.
– Experten schlagen eine gestärkte Inselgruppe sowie fusionierte Regionalspitäler vor.
– In Saanen plant die Gstaad International Healthcare (GIH) AG die Errichtung einer neuen Privatklinik der gehobenen Klasse. Platz finden soll in diesem Projekt aber auch eine Gemeinschaftspraxis für die medizinische Grundversorgung.
– Erfahrene Gesundheitsfachleute haben grosse Zweifel an einem Erfolg des integrierten Versorgungsmodells Gesundheitsnetz Simme Saane.
– Und – last but not least – erteilte der Kanton Bern einen Prüfungsauftrag, ob kantonsübergreifend das Pays-d’Enhaut allenfalls in das GSS-Projekt integriert werden könnte.
All diese Entwicklungen in der jüngsten Zeit waren nicht vorauszusehen. Nach Meinung des Gemeinderates muss aber dem aktuellen Umfeld mit seinen elementaren Veränderungen und den leider zahlreichen Ungewissheiten zwingend Rechnung getragen werden. Es ist nicht angebracht, unter Zeitdruck etwas zu beschliessen, was auf überholten Grundlagen basiert.

Der Entscheid des Gemeinderates fiel auch im Bewusstsein, dass in der Region ein gut funktionierender Rettungsdienst besteht und das in ein ambulantes Gesundheitszentrum umgewandelte Akutspital Zweisimmen Teil einer guten medizinischen Grundversorgung sein könnte. Dem Gemeinderat ist es ausserdem wichtig, dass ohne Zeitverzögerung die Bemühungen für eine verbesserte hausärztliche Versorgung weiter verfolgt werden.

PD/GEMEINDERAT GSTEIG


DER RÜCKZUG VON TRAKTANDEN

«Der Gemeinderat kann von sich aus Geschäfte, die traktandiert sind, zurückziehen, sofern sachlich haltbare Gründe bestehen. Der Rückzug ist bis zur Eröffnung des entsprechenden Traktandums möglich. Sobald das Traktandum eröffnet ist, erscheint ein Rückzug durch den Gemeinderat bzw. durch die Versammlungsleitung unzulässig, weil der Gegenstand ab diesem Zeitpunkt in der Verfügungsgewalt der Versammlung liegt. Diesfalls müssen die Stimmberechtigten der Absetzung des Traktandums zustimmen.»

Auszug aus: «Zur Vorbereitung und Durchführung von Gemeindeversammlungen nach bernischem Gemeinderecht» (Februar 2020), Seite 6, 3. Abschnitt:


GEMEINDERATSPRÄSIDENT MARKUS WILLEN IM INTERVIEW

«Es sind noch zu viele Fragen offen» Eine Woche, bevor die Vorlage zum integrierten Versorgungsmodell Gesundheitsnetz Simme Saane vor die Gsteiger Stimmbürger:innen kommen sollte, streicht der Gemeinderat das Geschäft von der Traktandenliste. Wir haben beim Gemeindepräsidenten nachgefragt.

SONJA WOLF

Ist es rechtlich zulässig, dass ein Traktandum kurzfristig zurückgezogen wird?
Ja natürlich, laut dem Leitfaden für Gemeindeversammlungen kann der Gemeinderat von sich aus Geschäfte, die traktandiert sind, zurückziehen, sofern sachlich haltbare Gründe bestehen. (siehe Kasten «Der Rückzug von Traktanden»)

Inwiefern fusst der Rückzug auf «sachlich haltbaren Gründen»?
Wir sind zweifelsohne für eine gute Gesundheitsversorgung, die ist sehr wichtig im Saanenland und Obersimmental. Aber nicht mit diesem Projekt, wie wir in der Medienmitteilung im Einzelnen begründen.

Wir sind der Meinung, dass die Vorlage nicht zur Abstimmung bereit ist. Es sind noch zu viele Fragen offen, als dass man einen guten Entscheid fällen könnte.

Gab es einen entscheidenden Auslöser, der Sie zu diesem Schritt bewogen hat? Zum Beispiel zahlreiche Rückmeldungen aus der Bevölkerung?
Nein, wir sind durch eine ausführliche Analyse und Diskussion im Gemeinderat zu diesem Entschluss gekommen.

Warum informieren Sie gerade jetzt?
Wir wollen der Bevölkerung nicht am 12. Mai an der Gemeindeversammlung eröffnen, dass wir über das Traktandum «Gesundheitsnetz Simme Saane» gar nicht sprechen werden. Wir wollten es frühzeitig bekannt geben.

Wird die Vorlage zu einem späteren Zeitpunkt zur Abstimmung kommen?
Grundsätzlich: Die GSS kann nicht vom Gemeinderat verlangen, dass ihr Anliegen traktandiert wird. Und für die Zukunft: Es sind im Moment so viele Punkte noch nicht abgeklärt – Spitäler werden geschlossen, die Zusammenarbeit mit dem Pays-d’Enhaut, das Projekt der Gstaad International Healthcare usw. sind zu klären. Warum müssen wir also heute darüber abstimmen, wo so viele Unsicherheiten noch im Raum stehen, die einen Einfluss auf das Projekt GSS haben? Lassen wir erst alles andere abklären, um dann zu entscheiden: Ist unser Projekt so noch richtig oder muss es geändert werden?

Man sollte nicht jetzt unter Zeitdruck entscheiden, wo so viele Faktoren noch offen sind und man gar nicht weiss, in welche Richtung sie sich entwickeln könnten.


DAS SAGT DER GSS-VERWALTUNGSRATSPRÄSIDENT

Auf Anfrage sagt Dr. Stephan Hill, Verwaltungsratspräsident der Gesundheit Simme Saane AG (GSS), dass der Entscheid für die GSS sehr überraschend kam. Insbesondere, da sie sich in den letzten zwei Monaten unter anderem dreimal mit den Gemeindepräsidenten der sieben Gemeinden der Bergregion Obersimmental‑Saanenland getroffen hätten. Nächsten Mittwoch werde eine Sitzung mit der Bergregion stattfinden, um das weitere Vorgehen zu besprechen und um eine Stellungnahme abzugeben.

SONJA WOLF


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