Habib Bourguiba, die Unabhängigkeit Tunesiens und Gstaad
24.04.2025 GstaadLange Zeit war Habib Bourguiba, der erste Präsident Tunesiens, unter der Diktatur seines Nachfolgers Ben Ali in Vergessenheit geraten. Dies änderte sich erst, als Tunesien 2011 nach dem «Arabischen Frühling» wieder ein demokratisches Land wurde. Der ...
Lange Zeit war Habib Bourguiba, der erste Präsident Tunesiens, unter der Diktatur seines Nachfolgers Ben Ali in Vergessenheit geraten. Dies änderte sich erst, als Tunesien 2011 nach dem «Arabischen Frühling» wieder ein demokratisches Land wurde. Der Staatsgründer wird durch Denkmäler und Anlässe neuerdings in seinem Land wieder gewürdigt und thematisiert. Mit der Geschichte Bourguibas machen wir uns auf eine Zeitreise, die uns an den Stationen seines Kampfes gegen die Kolonialmacht Frankreich und seiner langen Regierungszeit, die im Fiasko endete, teilhaben lässt. Dabei spielen auch die Nachbarländer Algerien sowie Libyen eine Rolle – und selbstverständlich Gstaad, wo er oft zu Gast war.
MARTIN GURTNER-DUPERREX
Es war in einem schneereichen Winter in den frühen 1970er-Jahren. Als Kinder tummelten wir uns gerne am kleinen Skilift an der Wispile. Und da sass er eines Tages auf einem Klappstuhl am Pistenrand und beobachtete die Wintersporttreibenden: ein älterer, in einen schwarzen Mantel gehüllter Mann mit Hut und Sonnenbrille. Wahrscheinlich stand da auch Sicherheitspersonal herum. Aber daran kann ich mich nicht erinnern.
Natürlich wunderten wir uns ob dieser merkwürdigen Erscheinung und fragten beim Nachtessen unseren Papa, wer das wohl sei. «Präsident Bourguiba, der Vater des unabhängigen Tunesiens», antwortete er kurz und bündig. Wir schauten ihn mit staunenden Augen an, nickten ehrfürchtig – und verstanden nicht, worum es bei dieser Persönlichkeit am Pistenrand wirklich ging. Das soll nun nachgeholt werden.
Neo-Destur, der Zweite Weltkrieg und der Freiheitskampf
Als Habib Bourguiba 1903 in Monastir geboren wurde, war Tunesien seit über 20 Jahren ein französisches Protektorat. Der frühere Monarch, der Bey von Tunis, war nurmehr eine Marionette. Die Rechte der Tunesier waren stark beschnitten. Aufgewachsen in bescheidenen Verhältnissen, konnte Habib dank eines Stipendiums in Paris Jura studieren. 1934 gründete der junge Anwalt die sozialdemokratische Partei Neo-Destur (auf Deutsch «Neue Verfassung») und forderte die komplette Unabhängigkeit seines Landes. In der Folge wuchs Bourguibas Popularität in Tunesien durch die Mobilisierung der Massen enorm.
Als Unruhestifter 1938 verhaftet, wurde er zu Beginn des Zweiten Weltkriegs in ein Gefängnis nach Marseille überführt. Nach der deutschen Besetzung Frankreichs befreite ihn 1942 die Geheime Staatspolizei Gestapo. Inwiefern Bourguiba bereit war, mit Nazi-Deutschland zu kooperieren, ist nicht restlos geklärt. Allerdings rief er im August desselben Jahres zur Unterstützung der Alliierten auf. Nichtsdestotrotz konnte er 1943 über Italien in die Heimat zurückkehren.
Als Habib Bourguiba nach Kriegsende von den Franzosen beschuldigt wurde, mit den Nazis zusammengearbeitet zu haben, floh er 1945 nach Kairo. In seiner Heimat führte der ungebrochene antikoloniale Widerstand 1951 zu einer Übergangsregierung, zu der auch tunesische Nationalisten gehörten. Bei seiner Heimkehr wurde Bourguiba abermals festgenommen. Dies brachte das Fass zum Überlaufen: nationalistische Partisanen – die «Fellaghas» – lieferten sich blutige Gefechte mit französischen Truppen.
Im Juli 1954 musste schliesslich Frankreichs Regierung Tunesien komplette Autonomie versprechen. Nach zähen Verhandlungen, in denen Habib Bourguiba im Hintergrund die Fäden zog, wurde das Land am 20. März 1956 in die Unabhängigkeit entlassen. Kurz darauf, nach der Absetzung des letzten Beys, war er am Ziel: Die verfassungsgebende Versammlung wählte ihn als ersten Präsidenten der Republik Tunesien.
Der Algerienkrieg, Bizerte und ein diplomatischer Triumph
Seit vier Jahren kämpfte die Nationale Befreiungsfront (FLN) im benachbarten Algerien ebenfalls gegen die französische Kolonialmacht. Lange hatte Habib Bourguiba eine vermittelnde Stellung eingenommen, obwohl die algerischen Freiheitskämpfer von Tunesien aus Ziele in Algerien angriffen. Als am 8. Februar 1958 französische Militärjets das tunesische Dorf Sakiet Sidi Youssef als Repressalie bombardierten, war es mit der Geduld des Präsidenten zu Ende. Er berief seinen Botschafter aus Paris zurück und wies Hunderte von ausländischen Siedlern aus.
Auch die französische Militärbasis Bizerte bei Tunis war Habib Bourguiba ein Dorn im Auge. Beim Treffen mit Präsident Charles de Gaulle im Februar 1961 in Paris kam keine Einigung zustande. Bei Bourguiba reifte der Plan, das Problem Bizerte militärisch zu lösen – im Glauben, dass ihn Amerika unterstützen würde. Wenn er geahnt hätte, dass US-Präsident Kennedy mitten im Kalten Krieg unmöglich auf die Allianz mit Frankreich verzichten konnte, hätte er Ende Juni 1961 wohl nicht seine Truppen um den Stützpunkt zusammengezogen. Die schweren Kämpfe mit der französischen Armee dauerten vier Tage, über 600 Tunesier starben. Als die UNO einen Waffenstillstand erzwang, musste de Gaulle trotz seines Siegs die Militärbasis räumen.
Es war ein diplomatischer Triumph für Habib Bourguiba, der zum Helden der Dritten Welt wurde. Aber sein Herz schlug für den Westen und er wollte seine Aussenpolitik in Zukunft darauf ausrichten. Dem stand nichts mehr im Weg, als de Gaulle im Herbst 1962 mit dem FLN Frieden schloss und Algerien unabhängig wurde.
Der Islam, die Frauenrechte und ein sozialistisches Experiment
Habib Bourguiba war nun auf dem Zenit seiner Popularität. Um sein Reformprogramm zu verwirklichen, zögerte er nicht, den Islam – den er doch als Garant der tunesischen Identität verstand – neu zu interpretieren. Während des Fastenmonats Ramadan trank er öffentlich provokativ auch mal ein Glas Wasser. Das traditionelle Schariagesetz wurde abgeschafft, die Frauen erhielten erstmals eheliche Rechte: Verbot der Polygamie, Heraufsetzung des Ehealters, Scheidung nur durch richterlichen Beschluss, Bewilligung von Verhütungsmitteln usw. Das war für Tunesien eine Revolution.
Und der Präsident ging noch weiter: Er führte Gesundheits- sowie Schulreformen durch – Bildung für alle, Mädchen und Jungen, obligatorisch und gemischt. Die Koranschulen wurden aufgelöst. Dadurch vervierfachten sich die Schülerzahlen innert weniger Jahre. Allerdings musste in der Landwirtschaft, welche fast die Hälfte der Bevölkerung beschäftigte, das kollektivistische Experiment des Sozialismus 1969 abgebrochen werden. Die Bevölkerung hatte sich der Landenteignung widersetzt, die erhoffte Produktionssteigerung blieb aus. Auch sonst stagnierte die Wirtschaft, das Geld für Investitionen fehlte. Tunesien hatte kaum Industrie und wenig Gas- oder Erdölvorkommen. Dies sollte sich in späteren Jahren rächen.
Das Ferienidyll Gstaad, Oberst Gaddafi und Libyen
Habib Bourguiba verbrachte seit den 1960er-Jahren seine Sommer- und Winterferien oft in Gstaad. Gemäss den wenigen verfügbaren Quellen war er mehrfach im Palace-Hotel, aber auch in Privatchalets zu Gast. Kurdirektor Paul Valentin verriet in einer Filmwochenschau, dass der Präsident im Winter 1968 von einem Dutzend tunesischer Sicherheitsbeamter und Schweizer Polizisten «gut bewacht» wurde. In seinen Erinnerungen schrieb der damalige Direktor des Palace, Ernst Scherz, wie Bourguiba beim Curlen auf dem Eisrink beidseitig von Leibwächtern gestützt werden musste, weil er darauf beharrte, mit seinen Lackschuhen zu spielen. Gelegentlich habe er zusammen mit gekrönten Häuptern im Palace Bowling gespielt, vermeldete die Regenbogenpresse.
Habib Bourguibas Aufenthalte in Gstaad dienten vor allem der Erholung und medizinischen Betreuung. Im Februar 1974 befand sich der kränkelnde Staatschef nach einer politischen Krise, die seinem Land beinahe zum Verhängnis geworden wäre, wiederum im Saanenland. Er wurde von zwei Ministern ständig beschattet, wie Bertrand Le Gendre in Bourguibas Biografie erzählt, «um einen weiteren impulsiven Entscheid des Präsidenten abzuwenden». Was war passiert? Zwei Jahre vorher hatte der libysche Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi die Fusion von Libyen und Tunesien vorgeschlagen, weil die Grenzen von den Kolonialherren erfunden worden seien. Vorerst wies Habib Bourguiba den Antrag entschieden zurück. Es bleibt ein Rätsel, warum er Anfang Januar 1974 auf der Insel Djerba – nach einer Unterhaltung unter vier Augen mit dem Diktator – der Vereinigung trotzdem zustimmte. Hatte Gaddafi mit Gewaltanwendung gedroht? Am 25. Januar, kurz bevor Bourguiba nach Gstaad weiterreiste, traf er den lybischen Herrscher erneut in einem Genfer Hotel. Umringt von seinen Ministern, schickte er ihn diesmal definitiv zurück in die Wüste.
Die Einheitspartei, Yasser Arafats PLO und der Putsch
Wegen Geldmangels bezog Bourguibas Regierung in den 1970er-Jahren zahlreiche Hilfskredite von Frankreich und den USA – und stürzte das Land in eine Schulden- und Inflationskrise. Gleichzeitig lief das Einparteienregime mit Wahlergebnissen von über 90 Prozent auf autokratische Verhältnisse hinaus. Für die Opposition gab es keinen Raum mehr. Doch damit nicht genug: Habib Bourguiba liess sich 1975 zum Präsidenten auf Lebenszeit küren.
Dann gewährte er 1982 aufgrund des Drucks der USA dem Chef der Palästinensischen Befreiungsfront (PLO), Yasser Arafat, Exil. Die PLO, die vom Libanon aus Israel bekämpft hatte, musste nach Gefechten mit den israelischen Streitkräften Beirut verlassen und bezog nun ihr neues Hauptquartier in Tunesien. Im Gegensatz zu den muslimischen Bruderstaaten hatte sich Bourguiba früh für eine Zweistaatenlösung in Palästina sowie die Anerkennung Israels ausgesprochen. Nichtsdestotrotz bombardierte die israelische Luftwaffe 1985 PLO-Einrichtungen in Tunis, was das Chaos weiter verschlimmerte.
Im November 1987 wurde Habib Bourguiba inmitten weit verbreiteter Unruhen und Demonstrationen für geistig regierungsunfähig erklärt und – nach über 30 Jahren an der Macht – durch einen Militärputsch gestürzt. Ironie der Geschichte: Seinen Nachfolger, General Ben Ali, hatte er selbst kurz zuvor zum Premierminister ernannt. Danach lebte Bourguiba zurückgezogen im Hausarrest in seiner Heimatstadt Monastir, wo er im Jahr 2000 96-jährig verstarb. Noch heute wird er als Vater des unabhängigen, modernen Tunesiens verehrt.
Quellen: Bertrand Le Gendre: Bourguiba. Fayard 2019. Alistair Horne: A Savage War of Peace: Algeria 1954–1962. Pan Books/Macmillan by Papermac, London 1996. Britannica.com (Tunisia – French Protectorate, Colonialism and Independence); Schweizer Filmwochenschau 1298-1 (SFW) vom 9.2.1968 (memobase.ch); Antenne vom 31.12.1974, srf.ch/play/tv; de.wikipedia.com. Ernst Scherz: …und jeder König nur ein Gast. Scherz Verlag, Bern und München 1982. 100 Years Gstaad Palace. Publisher: Gstaad Palace. Orell Füssli Verlag AG, Zürich 2013.
KLATSCHE MIT DEM FLIEGENWEDEL: DIE KOLONIALISIERUNG NORDAFRIKAS
Im 19. Jahrhundert kämpften Frankreich, Italien, Grossbritannien und Deutschland um Einfluss in Nordafrika, das unter der Oberhoheit des schwächelnden türkisch-osmanischen Reichs stand.
Die Franzosen eroberten 1830 Algerien, um angeblich die Piraterie im Mittelmeer zu bekämpfen. Der wirkliche Grund war eine Ohrfeige mit dem Fliegenwedel, den Algiers Herrscher dem französischen Konsul wegen eines Schuldenstreits verpasst hatte.
Am Kongress der europäischen Mächte von Berlin 1878 «offerierte» dann das frischvereinte Deutsche Kaiserreich den Franzosen als Kompensation für Elsass-Lothringen – welches sie an Deutschland verloren hatten – das bankrotte Tunesien als Protektorat. Grossbritannien akzeptierte dies, weil es im Mittelmeer den Schiffweg nach seiner Kronkolonie Indien offenhalten wollte. Es wünschte nicht, dass Italien beide Seiten der Meerenge zwischen Sizilien und Tunesien kontrollierte. Grossbritannien konnte im Gegenzug Ägypten annektieren, wo 1869 der Suezkanal eröffnet worden war.
Ähnliches passierte 1911, als Libyen Italien zugesprochen wurde und Frankreich dafür freie Hand in Marokko erhielt. Mitbewerber Deutschland ging damit in Nordafrika leer aus.
QUELLE: BRITANNICA.COM (NORTHAFRICA AFTER 1830)
DAS PROTEKTORAT: EIN IMPERIALISTISCHES DECKMÄNTELCHEN
Als 1878 dem hochverschuldeten Tunesien der Konkurs drohte, liessen die europäischen Grossmächte Frankreich freie Hand, das Land unter seinen Schutz zu stellen – in der Hoffnung, dass es dessen Staatshaushalt sanieren würde, um den Gläubigern schmerzliche finanzielle Verluste zu ersparen. Daraufhin besetzten die Franzosen Tunesien militärisch und erklärten es zu ihrem Protektorat (Vertrag von Bardo, siehe Abbildung). Sie herrschten zwar als Schutzmacht indirekt, indem sie den traditionellen Herrscher, den Bey von Tunis, sowie seine Minister in ihren Ämtern beliessen. In Wirklichkeit aber traf der französische Repräsentant – der Generalresident – alle wichtigen Entscheidungen allein.
Tatsächlich gelang es ihm, das Land durch den Bau von Strassen, Spitälern und Schulen zu entwickeln. Vor allem italienische Siedler, die sich die fruchtbarsten Ländereien unter den Nagel gerissen hatten, brachten die Landwirtschaft zum Erblühen. Die Tunesier aber, deren politischen Rechte stark beschnitten waren, profitierten wenig davon und mussten mitansehen, wie der grösste Teil des Reichtums ihres Landes in die Hände der Ausländer floss. Obwohl während des Ersten Weltkriegs (1914–18) mehr als 10’000 tunesische Soldaten im Dienst Frankreichs starben, wurde der Bevölkerung weiterhin grösseres Mitspracherecht verweigert.
QUELLE: BRITANNICA.COM (TUNISIA – FRENCH PROTECTORATE)
GENERAL DE GAULLES ALBTRAUM: DER ALGERIENKRIEG
Anders als in den Protektoraten Tunesien und Marokko, wo die Schutzmacht Frankreich nur indirekt herrschte, war Algerien ein fester Bestandteil der französischen Republik. Um 1950 lebten dort neben neun Millionen Algeriern etwa eine Million Franzosen, sogenannte Pied-Noirs. Der muslimischen Mehrheit blieben die vollen Bürgerrechte lange Zeit verwehrt, darunter das nationale Wahlrecht. Die politische Ungleichheit und wirtschaftliche Diskriminierung führten nach dem Zweiten Weltkrieg zu Unruhen. 1954 startete die Nationale Befreiungsfront (FLN) den Unabhängigkeitskrieg. Brutale Repression und Massaker sowie Folter diskreditierten Frankreich international. Viele algerischen Freiheitskämpfer wichen nach Tunesien aus und operierten von dort.
Als General Charles de Gaulle – der Befreier Frankreichs im Zweiten Weltkrieg – 1958 mit der Unterstützung der Pieds-Noirs in Frankreich zurück an die Macht kam, wurde erwartet, dass er den Krieg nun siegreich beenden würde. Es kam aber anders: Obwohl der Konflikt noch vier Jahre dauerte und es sogar in Paris zu Attentaten sowie einem Putschversuch kam, schloss der pragmatische General 1962 in Evian mit dem FLN ein Friedensabkommen, das zur Unabhängigkeit Algeriens führte. Der Krieg hatte fast einer halben Million Menschen das Leben gekostet.
QUELLE: BRITANNICA.COM (ALGERIAN WAR)