Heisse Themen literarisch vertiefen
02.11.2023 KulturWas alles Literatur bewegen kann, wurde am Literarischen Herbst Gstaad in vielfältigster Weise aufgezeigt. Einesteils sind es gesellschaftskritische oder politische Themen, andernteils Geschichten aus dem Alltag oder gar der Einsamkeit heraus, die sprachlich und rhythmisch in das ...
Was alles Literatur bewegen kann, wurde am Literarischen Herbst Gstaad in vielfältigster Weise aufgezeigt. Einesteils sind es gesellschaftskritische oder politische Themen, andernteils Geschichten aus dem Alltag oder gar der Einsamkeit heraus, die sprachlich und rhythmisch in das Bewusstsein des Lesers eindringen.
LOTTE BRENNER
Es ist kaum ein halbes Jahrhundert her, als in den Achzigerjahren sich die Pro Juventute an einer Pressekonferenz für die verheerenden Folgen einer einst gut gemeinten Hilfsaktion, der «Kinder der Landstrasse», verantworten musste. Die betroffene Mariella Mehr, die damals schon renommierte Journalistin und Schriftstellerin (sie erhielt unter anderem von der Universität Basel den Ehrendoktortitel), erschien damals mit Mitstreiterinnen und Mitstreitern der «Radgenossenschaft – ein Zusammenschluss der Jenischen» und forderte lautstark und unerbittlich eine Entschuldigung vonseiten der Pro Juventute ein; eine Entschuldigung für vergangene, «gut gemeinte» Vergehen an Familien der Fahrenden, welchen die Kinder weggenommen, deren Frauen zwangssterilisiert wurden.
Keine leichte Kost
Liliane Studer kannte Mariella Mehr und war an der turbulenten Pressekonferenz von damals, die einzigartig in die Geschichte eingegangen ist, anwesend. Michael Herzig, der den Sohn Christian Mehr kannte und im Buch «Landstrassenkind» über die Geschichte von Christian und Mariella erzählt, schildert darin die schwierige Beziehung zwischen Mutter und Sohn. Es sind zwei verschiedene Wahrnehmungen und doch sind die Schicksale der beiden unvermeidlich eng verknüpft. Zitat Christian Mehr: «Nach einem halben Jahr nimmt mich der Staat meiner Mutter weg. Der Dorfpfarrer hat eine Familie aufgetrieben, die mich zum Kuhschweizer machen soll.»
Liliane Studer sagt dazu: «Es ist keine leichte Kost. Es geht um Leben und Überleben. Dabei wird kein Blatt vor den Mund genommen.» Nachdem Christa Baumberger aus dem Literaturarchiv anhand von Dokumenten das Leben von Mariella Mehr aufrüttelnd vor Augen geführt hat, sinniert Studer: «Sie waren gebrandmarkt, stigmatisiert, süchtig – aber gebrochen waren beide nicht.»
Klimautopie vor 100 Jahren
Emily Artmann, die ihr Buch «In einem Mantel aus Fischhaut» vorstellen wollte, musste krankheitshalber kurzfristig absagen. An ihrer Stelle sprang der Übersetzer Steven Wyss ein, der sich mit Liliane Studer über das Buch «Sturz in die Sonne» (Text aus dem Jahr 1922 von C.F. Ramuz) unterhielt, ein Thema, das nach 100 Jahren nun top aktuell ist. Steven Wyss, der von der Stadt Zürich einen Anerkennungspreis erhielt, vermittelte interessante Einblicke in das Handwerk des Übersetzens. Wie Liliane Studer bemerkte, sind die 30 Kapitel des Buches wild durcheinander würfelbar. Das heisst, jedes Kapitel kann einzeln gelesen werden. Ramuz beschreibt in seinem Buch einen Unfall im Gravitationssystem. Die Sonne stürzt auf die Erde, es wird immer heisser, alles wird sterben. Ramuz schildert, wie das Unheil seinen Lauf nimmt, die Menschen jedoch alle Vorboten auf die bevorstehende Naturkatastrophe ignorieren, ihren Alltag aufnehmen, ohne sich darum zu kümmern.
Dem Übersetzer Wyss ist es wichtig, möglichst originalgetreu zu arbeiten, das heisst, den Rhythmus von Ramuz vor die sprachliche Vollständigkeit zu setzen, vor allem keine Interpretierungen anzubringen, denn: «Ramuz wertet nie.»
Frech und schräg
Um Feminismus, der auch Fehler oder Inkonsequenz zulässt, geht es in Gertraut Klemms Buch «Einzeller», das die Wienerin mit viel Humor und kritischem Biss vorträgt. Die Moderatorin Leonora Schulthess lockt sie dabei provokativ aus der Reserve. Die Lektüre reizt unterhaltsam heiter zum Lesen an, selbst für solche, die sich nicht sonderlich mit dem Thema Feminismus beschäftigen. Was Klemm aktuell beschäftigt, ist der Rechtsrutsch in der Regierung, der einige Rechte der Frauen (zum Beispiel das Recht auf Abtreibung) erneut in Frage stellen könnte.
Bis im nächsten Jahr
Obschon sich mit dem Rücktritt von Liliane Studer als wichtiges Vereinsmitglied und Moderatorin ein «Urgestein» vom «Felsen» löst, schaut Vereinspräsident Markus Iseli getrost in die Zukunft: «Der Literarische Herbst Gstaad wird auch im nächsten Jahr wieder im gewohnten Rahmen stattfinden. Die Austragungsorte und die genauen Daten sind allerdings noch nicht festgelegt.» Iseli ist mit der heurigen Ausgabe sehr zufrieden. Die Anlässe waren alle sehr gut besetzt und die Lesungen verliefen in bester Stimmung. Zwar geht es beim Literarischen Herbst auch darum, Literatur von den Städten weg aufs Land zu bringen, doch reiste auch Publikum von weit her an, um dem auserlesenen Literaturfestival beizuwohnen.