Im Sinne der Vielfalt
08.09.2025 GstaadAls Teil der Jubiläumsveranstaltung des Gymnasiums Gstaad wurde im Poetry-Slam-Finale am Freitagnachmittag aus den Reihen der Schülerinnen und Schüler, die derzeit das besagte Gymnasium besuchen, der Siegerbeitrag erkoren. Sowohl am Freitag- als auch am Samstagnachmittag ...
Als Teil der Jubiläumsveranstaltung des Gymnasiums Gstaad wurde im Poetry-Slam-Finale am Freitagnachmittag aus den Reihen der Schülerinnen und Schüler, die derzeit das besagte Gymnasium besuchen, der Siegerbeitrag erkoren. Sowohl am Freitag- als auch am Samstagnachmittag wurden Vorträge ehemaliger Gstaader Maturandinnen und Maturanden angeboten, die vielfältiger nicht hätten sein können.
JENNY STERCHI
Und auch die anschliessenden Podiumsdiskussionen boten eine Fülle an Meinungen und Haltungen zu Herausforderungen in der Schule heute und zum aktuellen Weltgeschehen. Der Besuchende pendelte am Freitagnachmittag zwischen dem Bestaunen der unterschiedlichen Lebensinhalte ehemaliger Gstaader Maturandinnen und Maturanden, der Begeisterung für die literarischen Beiträge aus der derzeitigen Schülerschaft und dem Forschen nach der eigenen Meinung.
Literatur neu entdecken
Ines Strohmaier, Autorin und Poetry-Slam-Künstlerin aus Bern, hatte mit den verschiedenen Klassen in diversen Workshops während des letzten Schuljahres poetische Texte und die passende Dramaturgie für deren Vortrag erarbeitet. Strohmaier agierte im Auftrag des Vereins Spoken Word Biel, der sich laut eigenen Angaben um den Erhalt einer lebendigen, regionalen Spoken-Word-Szene und um kantonale Nachwuchsförderung auf diesem Gebiet kümmert. Mit der «Slam @ School»- Poetry-Slam-Workshopreihe geht der Verein seit 2013 in die Schulen des Kantons Bern. Bis heute nahmen rund 4000 Schülerinnen und Schüler aus über 200 Berner Schulklassen an den intensiven Workshops teil, so auch die Gstaader Gymnasiastinnen und Gymnasiasten.
Selbst ist die Poetin/der Poet
In ersten Schreibübungen und dem Prozess der Themenfindung verschafften sich die Schülerinnen und Schüler unter Ines Strohmaiers Expertenanleitung ihren individuellen Zugang zum Poetry Slam. Den eigenen Stil beim Verfassen eines Textes zu finden, sei ebenso herausfordernd wie ein Thema zu finden, das die Einzelne oder den Einzelnen hinreichend beschäftigt und auch andere bewegen könnte. «Die Vielfalt macht es einem manchmal schwer», war bei den Schülerinnen und Schülern zu hören.
Im Performance-Modul, das aus der Theaterpraxis stammt, kommen die Workshopteilnehmenden laut Strohmaier immer mal wieder an ihre Grenzen. Diese Erfahrung befähigt sie dann zumeist, dem Text den passenden Auftritt zu geben. «Als Poetry Slam wird ein Dichter:innenwettstreit bezeichnet, bei dem poetische Texte in literarischer Form, als Rap oder aber als Standup-Kunst, präsentiert werden», definierte Ines Strohmaier zum Auftakt des Gstaader Poetry-Slam-Finales diese Kunstform. «Und mutig muss der oder die Vortragende sein», fügte Strohmaier, die zugleich als Moderatorin amtete, hinzu.
Hut ab!
Die Themenvielfalt prasselte schliesslich auf die voll besetzte alte Turnhalle der Schulanlage Ebnit ein. Klasseninterne Vorausscheidungen hatten dafür gesorgt, dass am Freitagnachmittag die sechs aussichtsreichsten Beiträge präsentiert wurden. Der Auftakt, der ausserhalb der Wertung lief, beschäftigte sich mit der zum Teil ambivalenten Haltung der Jugend zum Familienfest. Das Humorzentrum des Publikums direkt angesprochen, wurde eine detailgetreue und sehr pointierte Beschreibung einer solchen Feier, wie sie wohl jeder kennt, abgegeben. «Familienfeste sind wie Brokkoli: Als Kind für schrecklich befunden, hält man sie mit zunehmendem Alter immer besser aus.»
Neben unliebsamen Begegnungen im Supermarkt und der Heuschnupfenproblematik sorgte auch der Beitrag zur vermeintlichen Überflüssigkeit mathematischen Zusatzwissens und physikalischer Gesetzmässigkeiten für beste Unterhaltung. Tiefgreifender bewegten sich zwei Texte, in denen zum einen die zweifelhaften Ansprüche der heutigen Gesellschaft und zum anderen die Schwierigkeit der Identitätsfindung trotz aller Genderbemühungen thematisiert wurden.
Gekrönter Beitrag
Mit ihrem Beitrag zum glückbringenden Unvermögen der öffentlichen Verkehrsmittel, sowohl Lernende als auch Lehrende pünktlich an den Schulort zu befördern, hatten Cedric und Joel das Publikum zum Lachen und die Juroren auf ihre Seite gebracht. Der Beschrieb, wie eine Geografieprüfung einem Zugausfall zum Opfer fiel, liess einen autobiografischen Bezug vermuten und weckte bei den Zuhörenden zugleich die Erinnerung an ähnliche Erfahrungen. Das Gesamtpaket aus satirischen Formulierungen, hinlänglich bekanntem Inhalt und einem tollen Vortrag brachte den beiden den Sieg und die Gstaader Poetry-Slam-Krone.
Themenvielfalt im alltäglichen Leben
Auch die Vorträge ehemaliger Maturandinnen und Maturanden des Gymnasiums Gstaad strotzten geradezu vor Vielfalt. Sie verlangten den Besuchenden schon einiges ab, denn bei zeitlich parallel laufenden Veranstaltungen galt es, sich zu entscheiden. Die Lebenswege der Ehemaligen gingen kreuz und quer, über Umwege oder direkt, gesäumt von Publikum oder auf einsamen Pfaden. Davon und vom Ankommen und Leben im Heute berichteten sie. Das Unverständnis und die Unwissenheit, wie sich ein Leben nach sexueller Misshandlung gestaltet, führten Marc Egger, Maturand 2011, zum Buch von Holly Bourne und zu der Idee, bei den Ehemaligen nach Büchern zu fragen, welche die mittlerweile Erwachsenen in ihrem Leben begleiten. Darin steckte viel Aufschlussreiches über Erlebtes. So prägte Etienne Babel, der 2010 die Matura absolvierte, die Begegnung mit einem Besatzungsmitglied der Apollomission so massgeblich, dass für ihn nur das Buch «Apollo Confidential» für eine Empfehlung in Frage kam.
Neben vielen anderen Lebenswegen nahm auch Joelle Matti das Publikum mit auf die Reise in ihre eigene Vergangenheit. Sie ist als Theaterschaffende in der Region keine Unbekannte, und doch war die bühnengeprüfte Joelle sichtlich nervös. Mit einem theatralischen Auftritt als Reisende vertrieb sie die Nervosität jedoch sofort und berichtete gestikulierend, wortgewaltig und um keine Improvisation verlegen. Getrieben von zahlreichen Berufsideen führten sie die Erfahrungen, Niederlagen und das finale Entdecken ihrer Berufung zum Dasein als Pflegefachfrau. Und dieses Tätigkeitsfeld möchte sie, nach mehreren experimentellen Ausbrüchen, auf gar keinen Fall mehr verlassen.
Während Pfarrer Tim Hänni, Matura 2013, von leeren Kirchenbänken und der spirituellen Suche einer postmateriellen Generation berichtete, wurden in einem Workshop der Mediziner Bananen operiert, der Blutzucker sowie der Blutdruck gemessen und allerlei Material aus der Chirurgie zum Greifen nah präsentiert. Michael Schoch, Matura 2013 und heute Lehrer am GIBB, vermittelte sein Bild der Gymeler von morgen. Matthias Worni, Matura 2009, zeigte auf, welchen Herausforderungen er sich als Geograf unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit im Job und in der Familie gegenübersieht. Zahlreiche weitere Lebensentwürfe, gefüllt mit Erfolgen, Fragen und Anstrengungen, wurden daneben noch präsentiert.
Neue Formen, alte Werte
Die anschliessende Podiumsdiskussion zu Herausforderungen in der Schule heute wurde von ehemaligen Gstaader Maturanden geführt, die aktuell im Schuldienst sind. Viele Argumente bewegen die Lehrpersonen von heute, wobei die Gewichtung nicht bei allen gleich ist. Dass das Modell Schule, wie wir es aus den letzten Jahrzehnten kennen, einen Wandel vollziehen muss, darüber waren sich jedoch alle einig. Die Entwicklung der Gesellschaft und der Ansprüche an Ausbildung machen diesen Wandel notwendig, wobei der Erhalt von Werten des Zusammenlebens anzustreben sei. Auch in diesen beiden Punkten herrschte Einigkeit im Podium. Ziemlich deutlich war die Tatsache zu erkennen, dass nicht jede Schulform gleichen Problematiken ausgesetzt ist. Die Überfrachtung mit Erwartungen, die über die Schulen derzeit hereinbricht, hielten alle der Diskussionsteilnehmenden für nicht zielführend.
Bewegung zur Offenheit und Meinungsvielfalt
Das vermeintlich übergewichtige Recht des Stärkeren wurde gleich zu Beginn der zweiten Podiumsdiskussion, die den Abschluss des Jubiläumsprogramms bildete, thematisiert. Dass die bisher regelbasierte Welt durch die zunehmende Unverblümtheit beim Lügen auf dem weltpolitischen Parkett erschüttert wird, ist nicht zu verheimlichen, darüber herrschte auch in diesem Podium Einigkeit. Soziale Medien bergen zugleich Chancen und Schwierigkeiten, Echtzeitinformationen laufen den klassischen Medien den Rang ab. Das seien alles Tatsachen, denen es zu begegnen gelte. Während die einen zur Skepsis gegenüber einfachen Lösungen komplexer Problemstellungen rieten, empfahlen andere die Einrichtung eines eigenen Wertekompasses und die unbeirrte Orientierung daran. Die Erkenntnis, dass der, der am lautesten schreit, nicht automatisch recht hat, sei ein guter Wegbegleiter. Technologien, mit denen die nachfolgenden Generationen aufwachsen, sollten lieber kritisch geprüft als verteufelt werden. Am Ende einigten sich alle im Podium auf die Aussage, dass sich die Machtzentren auf der Welt sehr wahrscheinlich verschieben werden. Und dass Westeuropa, das jahrzehntelang an der Spitze der Entwicklung und der Regelformulierung stand, in diesem Zusammenhang vermutlich nun Verlust erleiden wird. Die Herausforderung liege darin, sich nicht der mitunter daraus resultierenden Ohnmacht zu ergeben, sondern aktiv und offen zu bleiben.
WAS STECKT IM POETRY SLAM?
Die Texte müssen zwangsweise selbst verfasst sein, wobei Zitate erlaubt sind, aber gekennzeichnet sein müssen. Es darf also kein fremder Text rezitiert werden – Autor:in und Protagonist:in sind dieselbe Person. Es handelt sich um das gesprochene Wort, bei dem ein Textblatt durchaus erlaubt ist, auf Requisiten hingegen verzichtet wird.
JST