Müller: «Loslassen gehört zum Leben»
27.10.2023 InterviewNach knapp 25 Jahren verlässt Christoph Müller Ende 2025 das Gstaad Menuhin Festival, dessen künstlerischer Leiter er mit Leib und Seele war. Im Interview wirft er einen Blick zurück und erzählt, was ein klassikliebhabender Kulturmanager an Rockkonzerten ...
Nach knapp 25 Jahren verlässt Christoph Müller Ende 2025 das Gstaad Menuhin Festival, dessen künstlerischer Leiter er mit Leib und Seele war. Im Interview wirft er einen Blick zurück und erzählt, was ein klassikliebhabender Kulturmanager an Rockkonzerten fasziniert.
KEREM S. MAURER
Christoph Müller, Sie haben nach «reiflicher Überlegung und langer Erwägung» entschieden, Ihr Engagement als künstlerischer Leiter der Gstaad Menuhin Festival & Academy AG zu beenden. Wie schwer ist Ihnen diese Entscheidung nach fast 25-jähriger Tätigkeit gefallen?
Ich liebe dieses Festival und ich liebe die Tätigkeit, die ich hier ausüben darf: Das Konzipieren, Planen und Umsetzen von Konzertideen und Nachwuchsprojekten und daher fällt es mir alles andere als leicht, abzugeben.
Wieso hören Sie denn auf?
Loslassen können gehört zum Leben und es ist wichtig, den richtigen Moment dafür zu wählen. Ich bin im Jahre 2025 ganze 24 Jahre mit Leib und Seele dabei. Im Gegensatz zu einem Verwaltungsjob bin ich hier im Kreativbereich tätig und es ist wichtig, dass nach einer so langen Phase der Kontinuität und des Aufbaus nun jemand anderes mit neuen und eigenen Ideen übernehmen kann. Ich hatte Visionen und glaube, diese zum grossen Teil umgesetzt zu haben.
Ist es Ihnen gelungen, das Festival neu zu positionieren?
Es war mir ein Anliegen, das Festival über die Jahre aus einem reinen Konzertfestival in einen diversen Festivalbetrieb umzuwandeln. Ja, das scheint gelungen zu sein. Das Festival lebt jetzt auch hinter den Kulissen viel intensiver dank dem eigenen Festival-Orchester, den Akademien, Amateurund Vermittlungsprojekten. Ausserdem war mir die deutliche Positionierung und Profilierung durch ein klares Programmkonzept wichtig, welches sich von anderen grossen Sommerfestivals unterscheidet. Beispielsweise durch eine Themenkultur und klarer Unterteilung der Programmzyklen. Dass es gelungen ist, spiegelt sich auch in den Besucherzahlen, die sich seit meinem Antritt kontinuierlich von 14’000 bis gegen 27’000 entwickelt haben.
Wie geht es Ihnen heute an dem Tag, an dem Ihr Entscheid publik gemacht wird?
Es ist ein Wellental der Gefühle. Es ist etwas Gewichtiges, eine Tätigkeit aus eigener Entscheidung aufzugeben, die man seit so langer Zeit gerne ausübt. Ich empfinde vor allem Dankbarkeit. Ich bin dankbar, dass mir der damalige Verwaltungsrat die Chance gegeben hat, das Festival neu zu denken. Und dankbar, dass ich seither mit meinen Kolleginnen und Kollegen und dem ganzen Team gemeinsam an meinen Visionen und Zielen arbeiten konnte und dabei immer von allen getragen und unterstützt wurde. Der eben angesprochene Publikumserfolg ist vor allem der Erfolg des ganzen Teams!
Sie haben dem Gstaad Menuhin Festival während eines knappen Vierteljahrhunderts die Treue gehalten. Was hat Ihnen in Gstaad so gut gefallen, dass Sie so lange geblieben sind?
Die Kombination von hochkarätiger Musik in der atemberaubenden Umgebung des Saanenlandes ist einmalig und fesselt mich immer wieder aufs Neue. Zudem bietet das Umfeld Potenzial, Projekte zu realisieren, auch im künstlerischen Bereich, weil hier Menschen sind, die an Visionen glauben und diese nicht nur ideell, sondern auch finanziell unterstützen. Dank solchen Persönlichkeiten konnten wir kontinuierlich wachsen. Und ich wünsche mir, dass dies so weiter geht.
Was war für Ihren Erfolg in Gstaad entscheidend?
Entscheidend aus meiner persönlichen Situation heraus war die Tatsache, dass der Verwaltungsrat stets akzeptierte, dass ich meine anderen Musikprojekte, die ich teils schon vor 2002 betrieben habe, weiter pflegen und entwickeln konnte. Zum Beispiel den Konzertzyklus im KKL Luzern oder meine künstlerische Arbeit für das Kammerorchester Basel, wo ich weiterhin als Konzertmanager tätig sein werde. Es war mir wichtig, nicht ausschliesslich für das Festival tätig zu sein, sondern die Erfahrungen als Kulturmanager insgesamt – unter anderem als Konzertveranstalter – in Luzern und Basel, einbringen zu können. Auch für die internationale Vernetzung und die Inspiration insgesamt waren diese komplementären Projekte wichtig. Ich bin mir bewusst, dass dies eine sehr privilegierte Ausgangslage war, dies alles unter einem Hut machen zu dürfen. Und sie trug zum Erfolg bei.
Wie erwähnt, haben Sie neben dem Gstaad Menuhin Festival noch andere Musikprojekte lanciert, gegründet, präsidiert oder gemanagt. Welchen Stellenwert hat das Gstaad Menuhin Festival neben den anderen Projekten eingenommen?
Es ist mein Hauptmandat und ich stelle es über all die anderen Projekte. Aber Sie haben schon Recht: Ich bin auch Kulturunternehmer mit einer Staff, die in Basel im Musik- und Kulturzentrum Don Bosco arbeitet. Meine Eigengründungen habe ich so aufgestellt, dass sie mit Projektverantwortlichen gut funktionieren und ich mich operativ eher im Hintergrund bewegen kann. Ich glaube, dass sich diese Rolle nicht sehr ändert, wenn ich in Gstaad aufgehört habe, weil das Team sehr gut eingespielt ist.
Sie haben ihr bisheriges Leben der klassischen Musik gewidmet. Warum gerade dieser Stilrichtung, was gibt Ihnen diese Musik?
Die klassische Musik gehört seit Beginn zu meinem Leben. Das hat vielleicht mit frühkindlichen Erfahrungen zu tun. Ich spürte bald, dass mich die Musik von Beethoven, Haydn und Mozart berührt. Und als ich angefangen habe, selbst auf dem Cello diese Musik zu spielen, hat es mir den Ärmel vollends reingenommen. Entscheidend war für mich die Erfahrung im Orchesterspiel, die ich schon in Jugendjahren machen konnte, später auch im Schweizer Jugend-Sinfonie-Orchester. Da wurde mir klar, dass ich mich in meinem Leben mit dieser Musik beschäftigen will. Klassische Musik hat eine Tiefe des Ausdrucks menschlicher Gefühle, wie sie Unterhaltungsmusik kaum erreicht. Das spricht aber nicht dagegen, U-Musik zu hören und zu geniessen, denn sie unterstützt ebenfalls Stimmungen oder regt einen an, Gefühle durch Tanz und Bewegung auszudrücken. Gerade die Welt- und Volksmusik aller Länder weckt unmittelbare menschliche Emotionen, welche die Klassik manchmal nur auf Umwegen zu transportieren weiss. Gerade deshalb war es mir immer wichtig, divers zu programmieren. Mittlerweile werden sicher 30 Prozent der Konzerte des Festivals in gemischten Programmen präsentiert, wo sich Stile und Genres mischen.
Haben Sie schon einmal ein Rockkonzert besucht?
Klar! Mein letztes war Patent Ochsner in der Mühle Hunziken, kurz vor der Pandemie. Aus Sicht eines Klassik-Veranstalters macht man da spannende Beobachtungen. Beispielsweise, wie sich Menschen unmittelbar den Emotionen hingeben oder wie ein Künstler mit dem Publikum spielt.
An solchen Konzerten herrscht eine weniger steife Atmosphäre...
Ich gehe davon aus, dass es in der Epoche des Barocks und der Klassik teilweise lockerer zu und her gegangen ist als heute. Erst das aufkommende Bürgertum im 19. Jahrhundert begründete die «steifen» Konzertformen des klassischen Konzertbetriebs, welche zum grossen Teil heute noch vorherrschen.
Hören Sie privat ausschliesslich klassische Musik oder darf es auch einmal etwas Anderes sein?
Ich höre schon hauptsächlich klassische Musik. Ich liebe es, beim Autofahren Händel-Opern, Haydn-Sinfonien oder eine Mahler-Sinfonie zu hören. Zurzeit bin ich von Schostakowitsch-Sinfonien besessen, weil ich eine davon für das Gstaad Festival Orchestra im August 2025 in Betracht ziehe. Ich höre sie alle durch – aber es darf auch mal ein italienischer Cantautore sein oder ein Crossover-Ensemble des Barocks wie zum Beispiel «l’Arpeggiata», welche Händel mit Leonard Cohen verbinden. Solche Programmkombinationen erleben wir in den Programmen 2024 und 2025 viele im Rahmen der Today’s-Music-Konzerte.
Wie sieht Ihr künftiges Leben ohne Gstaad Menuhin Festival aus, wie füllen Sie die frei werdende Zeit?
Ich habe nicht vor, die frei werdende Zeit gleich wieder mit neuen Projekten zu füllen! Vorerst werde ich mir den Sommer 2026 garantiert mal frei halten, denn es wird mein erster Sommer sein, seit ich 31 Jahre alt bin, ohne intensive Beschäftigung an einem Festival. Darauf freue ich mich sehr, aber habe natürlich auch Respekt davor. Es wird mir wohl auch seltsam vorkommen. Vorerst freue ich mich aber, noch zwei erlebnis- und erfolgreiche Festivalsommer im Saanenland erleben zu dürfen!
Werden Sie nach 2025 als Besucher des Gstaad Menuhin Festivals weiterhin ins Saanenland kommen?
Selbstverständlich. Vielleicht braucht es zuerst etwas Abstand. Aber das Schönste, was ich mir wünsche, wäre, wenn eine Nachfolge mehr oder weniger auf dem Fundament meines Festivalkonzepts und meiner Festivalvision, die ich hatte und jetzt als umgesetzt betrachte, aufbauen würde. Dann wären künftige Besuche als Privatperson eine besondere Genugtuung. Und ich hoffe, dass ich mit den vielen tollen Menschen, mit denen ich hier zu tun habe, in irgendeiner Form verbunden bleibe.
Apropos Nachfolge: Welchen Tipp geben Sie Ihrer Nachfolgerin oder Ihrem Nachfolger, wenn sie oder er in Ihre Fussstapfen tritt?
Wichtig ist, dass eine Nachfolge mit eigenen Ideen und Konzepten kommt. Und genauso wichtig ist, dass diese Person sich Zeit nehmen kann, das Festival, den Betrieb, das Umfeld, das Saanenland und das Publikum kennenzulernen. Gstaad ist nicht Luzern, Basel oder Zürich, und das muss man in der Programmierung verstehen.
Wie meinen Sie das?
Das Publikum in Gstaad ist sehr gemischt und divers und das Programmangebot muss einerseits alle Erwartungen und Bedürfnisse abdecken, um das nötige Publikumsvolumen zu generieren aber anderseits auch spannende und innovative Erneuerungen und Innovationen bieten. Das ist zuweilen eine Gratwanderung. Aber ich bin sicher, dass es viele jüngere Kollegen geben wird, die gerne auf diesem Grat jonglieren.
Hier geht es zum Bericht über Christoph Müllers Abschied.