Kirchen sind gegen Abtreibung – aber es ist eine persönliche Entscheidung

  14.06.2022 Saanenland, Kirche

In der Schweiz ist der Schwangerschaftsabbruch erlaubt. Doch wie sehen das die Kirchen? Darf ein Kind abgetrieben werden? Erfährt die Betroffene oder das Paar nach einem Abbruch Repressalien? Die Vertreter der Landeskirchen und Freikirchen aus dem Saanenland betonen, es sei eine persönliche Entscheidung, auch wenn einzelne Kirchen den Abbruch verbieten.

BLANCA BURRI
Das fünfte Gebot besagt, du sollst nicht töten. Auf diesem Gebot bauen die Kirchen ihre Haltung in der Abtreibungsfrage. Sie formulieren die Aussage jedoch positiv. «Die Neuapostolische Kirche sagt Ja zum Leben!», erklärt Heinz Wyss von der Neuapostolischen Kirche. In anderen Worten: Sie ist gegen den Abbruch. Wyss erklärt, dass die Familienplanung eine Angelegenheit der Ehepaare und die Sexualität in der Ehe gottgewollt sei. Die Geburtenregelung sei durch Verhütung erlaubt. Ein Abbruch nicht, ausser «wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist». Die Freikirche stellt sich also schützend vor eine Mutter, wenn die Schwangerschaft ein Risiko für sie darstellt. Andere Ausnahmen gibt es nicht. Weder nach einer Vergewaltigung noch bei schwierigen Lebensumständen der werdenden Eltern, wenn beispielsweise eine Sucht im Spiel ist oder die Eltern noch nicht volljährig sind. Genau gleich sieht es bei der Heilsarmee, beim EGW und bei der römisch-katholischen Kirche aus. Damit die Frauen die Schwangeschaft nicht abbrechen müssen, wird die werdende Mutter unterstützt.

Die Kirche hilft
«Wenn eine Frau unge wollt schwanger wird, unterstützt die Kirche sie geistig wie materiell», sagt Heinz Wyss stellvertretend für alle fünf vertretenen Kirchen. Wyss: «Wir helfen Lösungen zu suchen, damit das Kind im behüteten Rahmen aufwachsen kann.» Wenn immer möglich bei der Mutter oder bei Verwandten, auch eine Adoption sei möglich.

Der katholische Pfarrer Alexander Pasalidi erzählt von einem konkreten Beispiel. In einer Pfarrei im Mittelaland sei vor Jahren eine Minderjährige zu ihm gekommen und habe ihm ein Ultraschallbild gezeigt. Das Ultraschallbild zeige ihr eigenes Baby, habe sie seine Frage beantwortet. Das Baby sei zwar nicht geplant, aber Frucht einer Liebesbeziehung, erzählte sie ihm. «Die Eltern der Minderjährigen und alle Personen in ihrem Umfeld haben sie zum Schwangerschaftsabbruch gedrängt. Sie aber wollte das Kind austragen und behalten!», führt der Pfarrer aus. Diese Aussage hat Pasalidi begeistert und sofort hat er das Nötige für externen Support in die Wege geleitet.

Er hat beispielsweise den Kontakt der Organisation «Ja zum Leben» vermittelt, welche werdende Eltern in solchen Situationen begleitet und unterstützt. Pfarrer Pasalidi ist froh, dass die Frau das Kind austragen und aufziehen konnte. Er habe es getauft. In der Öffentlichkeit habe es nicht überall Anklang gefunden, dass ein Pfarrer einer Minderjährige diesen «Floh ins Ohr gesetzt» und sie unterstützt habe, blickt er zurück.

Ein Vorschuss an Liebe
Am Diskussionstisch wird es emotional, als das Thema Schwangerschaft nach einer Vergewaltigung angesprochen wird. Pfarrer Pasalidi fragt sich: «Wie kann man Ja zum Leben sagen, wenn man vergewaltigt worden ist?» Diesen Gewaltakt verurteilten alle, sagt er, aber das Kind im Mutterleib könne ja nichts dafür. Deshalb plädiert er für «einen Vorschuss an Liebe». Er bittet die Schwangeren, die Kinder trotzdem auszutragen und verspricht, dass sie die Kirche unterstütze. Wie kann man ein Kind lieben, das durch einen Gewaltakt entstanden ist – nicht selten in der Ehe? Und wie muss sich eine daraus resultierende Schwangerschaft anfühlen? Das wissen nur Betroffene. Einige Kirchenmänner empfehlen die Freigabe des Babys zur Adoption.

Man macht es immer falsch
Adoptierte Kinder befinden sich nachweislich dreimal so oft in psychiatrischer Behandlung wie nicht adoptierte. Mit ein Grund ist, dass sich die Adoptierten von ihren leiblichen Eltern unerwünscht fühlen. Auch Kinder aus der Frucht einer Vergewaltigung sind anfällig für Depressionen und weitere psychische Störungen. Wie kann es da richtig sein, das Kind auszutragen, wenn man davon ausgehen muss, dass es ein Leben lang unter den Umständen leiden wird. Alexander Pasalidi zeigt einen anderen Blickwinkel auf: «Das stimmt sicher, aber die Frauen haben nach der Abtreibung oft Schuldgefühle und müssen zum Teil betreut und gegebenenfalls auch psychologisch behandelt werden.» Also sei es schwierig, die richtige Entscheidung zu treffen. Roland Reichenbach gibt zu bedenken, dass in der Öffentlichkeit häufig auf die wirtschaftlichen Nachteile einer Frau hingewiesen werde, wenn sie das Baby ungewollt austragen müsse. Es werde dabei verschwiegen, dass die Frau später im Leben unter Schuldgefühlen leiden könne, wenn sie das Baby vorschnell abgetrieben habe. Heinz Wyss bestätigt und ergänzt: «Wir können nicht voraussehen, wie das Kind empfinden wird und die Mutter kann nicht abschätzen, was ein Schwangerschaftsabbruch mit ihr macht.» Der reformierte Pfarrer Bruno Bader sagt deshalb: «Das Richtige machst du in einer solchen Situation nie!» Es gebe also beim Schwangerschaftsabbruch kein Richtig oder Falsch. «Beides können schlechte Lösungen sein mit Folgen, die sich nicht abschätzen lassen.»

Keine Stigmatisierung!?
Die Freikirchen wie die Landeskirchen bieten Seelsorge und Beratung für Frauen an, die ungewollt schwanger sind. Obligatorisch ist diese kirchenspezifische Beratung jedoch nicht. «Wenn jemand von der Beratung Gebrauch machen möchte, sind wir gerne da», sagt Heinz Wyss. Aber sie sei kein Muss und die Seelsorger unterliegen der absoluten Schweigepflicht, deshalb müsse niemand Repressalien befürchten.

Die Freikirchen sind kleine Gruppierungen, in denen man sich gut kennt, viel Zeit zusammen verbringt, auch Freizeit. «Auch in einer persönlichen Fürbitte erzählen manche Mitglieder manchmal wohl mehr, als sie wollen, da die Mitglieder relativ regelmässig an den Kirchenzusammenkünften teilnehmen», gibt Roland Reichenbach Einblick. Deshalb ist die soziale Kontrolle grösser als bei den Landeskirchen. Doch auch das EGW bestätigt, dass niemand Repressalien oder einen Ausschluss befürchten müsse. «Aber der Schwangerschaftsabbruch ist eine persönliche Entscheidung», sagt Bruno Bader stellvertretend für die Anwesenden.

Die reformierte Kirche hat eine relativ offene Haltung zum Thema Schwangerschaftsabbruch. Sie bietet Beratung, seelsorgerliche Begleitung und gegebenenfalls finanzielle Unterstützung an. Aber Bruno Bader ist wichtig, dass ein Schwangerschaftsabbruch nicht leichtfertig, sondern nach sorgfältiger Abwägung erfolgt.

Männer empfehlen in Sachen Schwangerschaftsabbruch
Einige der Gesprächspartner stehen für das Leben des Kindes ein, und zwar in jedem Fall: auch bei Vergewaltigung oder wenn sich die Eltern in einer schwierigen Lebenslage befinden. Beim Schwangerschaftsabbruch geht es aber um eine Frage, die vor allem das Leben der Frau auf den Kopf stellt. Weshalb sollten also Männer empfehlen, was die Frauen bei einer ungewollten Schwangerschaft zu tun haben?

«Nicht nur ich als Mann, sondern beispielsweise auch meine Frau ist klar gegen den Schwangerschaftsabbruch», betont Ueli Schopfer von der Heilsarmee und Roland Reichenbach vom EGW beteuert dasselbe. Alexander Pasalidi hingegen gerät in Rage. «Oftmals wissen die Erzeuger nichts von der Schwangerschaft. Das ist ungerecht, der Mann sollte mitentscheiden und seine Verantwortung wahrnehmen können.»

Noch immer Frauensache
Aber: Weshalb wird in der Gesellschaft und auch im Gespräch bis zur Frage der Verantwortung der Männer immer nur von der Frau gesprochen? Wo bleibt die Verantwortung der Männer? Für Pasalidi ist klar, dass die Gleichstellung von Vater und Mutter weder in der Gesellschaft noch in der Rechtssprechung noch in der Wirtschaft praktiziert wird. «Die meisten Scheidungskinder wachsen noch immer bei der Mutter auf und die Wirtschaft gibt auf die Frage der Vaterrolle keine Antwort», zeigt sich Alexander Pasalidi enttäuscht. In vielen Betrieben sei die Teilzeitarbeit für Männer nämlich nicht vorgesehen, deshalb liege die Hauptverantwortung für die Kinder noch immer bei der Mutter. Pasalidi fordert deshalb familienfreundliche und grosszügige Arbeitgeber. Die Rolle der Kirche sieht er darin, die CEOs immer wieder zu motivieren, Betriebe familienfreundlich zu gestalten.

Quelle: http://archiv.ub.uni-marburg.de/diss/ z2008/0698/pdf/dda.pdf


Kirchenmänner und Schwangerschaft

BLANCA BURRI
Beim Kirchentalk sprechen fünf Männer über das Thema Schwangerschaftsabbruch. Pfarrer Alexander Pasalidi zeigt sich in der Diskussion verärgert darüber, dass die Frau dem Erzeuger die Schwangerschaft oft verschweigt. Der Erzeuger werde so aus dem Entscheidungsprozess ausgeschlossen. Er habe vielleicht eine andere Meinung als die Frau. Vielleicht wolle er das Kind nach der Geburt zur Adoption freigeben oder sogar selbst aufziehen. Pasalidis Verärgerung ist zwar nachvollziehbar, aber:

Während des ganzen Kirchentalks wird der Erzeuger aussen vor gelassen. Immer wird von der Frau gesprochen: «Die Kirche unterstützt die Mutter!» «Wenn die Frau nur wegen ihrer Karriere abtreibt, befürworte ich das nicht!» Die Frau soll sogar Vorschussliebe für das Kind aufbringen, wenn sie ungewollt schwanger wird. Erst als die Kirchenmänner auf die Rolle der Männer angesprochen werden, kommen die Erzeuger ins Spiel.

Ein Grossteil der Gesellschaft – sowie der Wirtschaft und Politik, nebenbei bemerkt – geht noch immer davon aus, dass eine Schwangerschaft Frauensache ist. Die Hauptverantwortung für Verhütung, Schwangerschaft, Geburt und Erziehung liegen bei ihr. Sie trägt das Kind aus – mit Schwangerschaftsstreifen an Körper, Geist und Karriere. Wenn das Kind bei einer Vergewaltigung – oft auch in der Ehe – gezeugt wird, sitzen die Narben tiefer.

Ob ein Kind aus Liebe oder durch Gewalt: Solange die Gesellschaft bei diesem Bild bleibt und von der Frau wie selbstverständlich diverse Opfer verlangt, ist es verständlich, dass Frauen ihre Schwangerschaft verheimlichen und selbst über die Austragung des Babys entscheiden.

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GESETZE IN DER SCHWEIZ

Der Schwangerschaftsabbruch ist gemäss den neuen Bestimmungen des Strafgesetzbuches straflos, wenn ihn die Frau in den ersten zwölf Wochen seit Beginn der letzten Periode schriftlich verlangt und eine Notlage geltend macht. Der Arzt oder die Ärztin muss mit der Frau ein eingehendes Gespräch führen und sie beraten.

Quelle: www.bj.admin.ch/bj/de/home/gesellschaft/ gesetzgebung/archiv/schwangerschaftsabbruch.html


KIRCHENTALK

Das Gespräch fand auf Einladung dieser Zeitung statt, mit
– Bruno Bader, Pfarrer reformierte Kirchgemeinde Saanen-Gsteig
– Alexander Pasalidi, Pfarrer römisch-katholische Pfarrei St. Josef Gstaad
– Roland Reichenbach, Evangelisches Gemeinschaftswerk Bezirk Gstaad (EGW)
– Ueli Schopfer, Heilsarmee Saanen
– Heinz Wyss, Neuapostolische Kirche Schweiz
Kirchenvertreter der ganzen Kirchenlandschaft Saanenland waren zum Gespräch eingeladen, aus verschiedenen Gründen konnten nicht alle teilnehmen.


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