Kritik am zerstörerischen Polit- und Wirtschaftssystem
05.06.2025 KulturWie ist es möglich, dass Mechanismen, die letztlich zur Abholzung des Regenwaldes führen, funktionieren, obschon sie grundsätzlich gegen national und international gültige Gesetze verstossen? Nicole Maron recherchierte intensiv und fand verblüffende ...
Wie ist es möglich, dass Mechanismen, die letztlich zur Abholzung des Regenwaldes führen, funktionieren, obschon sie grundsätzlich gegen national und international gültige Gesetze verstossen? Nicole Maron recherchierte intensiv und fand verblüffende Antworten.
KEREM S. MAURER
Die Journalistin und Filmemacherin Nicole Maron lebte von 2007 bis 2011 im Saanenland, wo sie beim «Anzeiger von Saanen» arbeitete. Seit 2017 wohnt sie in Bolivien und Peru und legt den Finger mit Nachdruck dahin, wo es weh tut. Nach ihrem Dokumentarfilm «Das Blut des Flusses» – er lief 2022 in Gstaad –, in dem sie Missstände des Bergbaus in Peru aufdeckte, folgt jetzt ein nicht weniger kritisches Buch. Anhand eines realen Beispiels in Peru zeigt Nicole Maron auf, wie die zerstörerischen Mechanismen funktionieren, die letztlich zur Abholzung des Regenwaldes führen, obschon sie eigentlich nationalen und internationalen Gesetzen widersprechen.
Was haben die Probleme im Regenwald mit uns zu tun?
Nicole Maron beschäftigt sich seit Jahren mit Umwelt- und Menschenrechtsthemen in Lateinamerika und stellt diese in direkten Zusammenhang mit dem globalen Norden, mit Europa und der Schweiz. «Viele Menschen glauben, dass diese Probleme weit weg stattfinden und nichts mit ihnen zu tun haben, doch das ist nicht der Fall», sagt sie gegenüber dieser Zeitung. Unser Konsumverhalten und unser Lebensstil hätten via Lieferketten und Konzernverantwortungsthemen direkten Einfluss auf das Geschehen im Regenwald. Auch die Finanzierung der Firmen, welche Raubbau am Regenwald betrieben, stamme zu grossen Teilen aus Europa. «Mit meinem Buch will ich den Menschen im deutschsprachigen Raum aufzeigen, dass wir einen gewissen Handlungsspielraum haben, um gegen solche Mechanismen vorzugehen», erklärt sie. Maron klagt jedoch nicht den einzelnen Menschen an, der Handys nutzt und Palmölprodukte konsumiert. Vielmehr kritisiert sie das westliche Politsystem, das günstige Wirtschaftsbedingungen schafft, welche die Ausbeutung des globalen Südens nicht nur ermöglichen, sondern fördern.
Nicht nur Fragen, sondern auch Antworten
Tatsächlich erstaunt es, dass bereits bei allmorgendlichen Gewohnheiten wie etwa Kaffeetrinken, Cornflakesessen oder Zähneputzen Produkte mit peruanischen Rohstoffen genutzt werden. Denn, so steht es auf dem Klappentext des Buches: «In den Lieferketten von Marken wie Nestlé, Kellogg’s oder Colgate taucht ein Unternehmen auf, das zwei Palmölplantagen im tropischen Regenwald betreibt, in einem Gebiet, das zum Stammland einer indigenen Gemeinde gehört.» Nicole Maron wirft Fragen auf: Wie schaffte es ein Geschäftsmann, der bereits in Asien Plantagen betrieb, allein in Peru ein investorengestütztes Konglomerat aus 25 Firmen zu gründen? Wer verschaffte ihm Zugang zu Land im Regenwald? Welche Rolle spielte ein Finanznetzwerk aus Singapur, den USA, Frankreich und der Schweiz? Nicole Maron fand Antworten auf diese Fragen. Dabei entstand ein sorgfältig recherchiertes Werk mit 800 Fussnoten und Quellenangaben über die Zerstörung des Amazonas, die Korruption in Politik und Verwaltung und über die Verfolgung jener, die Umwelt- und Menschenrechte verteidigen.
Zwischen Regenwald und Paragrafendschungel
Die einen verkaufen Land im Amazonasgebiet, das ihnen nicht gehört, an Firmen, die sich nicht an Schutzbestimmungen halten. Werden diese Firmen angeklagt, fallen die Bussen entweder so gering aus, dass sie die Unternehmen kaum belasten oder die Firmen schaffen es, Gerichtsbarkeiten von ihrer Unschuld zu überzeugen. Mitten in diesem aussichtslos erscheinenden Kampf für Umwelt- und Menschenrechte agiert Nicole Maron. Im Interview erzählt sie, wie sie nicht nur im Regenwald, sondern auch im Paragrafendschungel zurechtkommt.
KEREM S. MAURER
Nicole Maron, erscheint Ihnen der Kampf gegen scheinbar unbezwingbare Mächte des globalen Industrie- und Finanzkomplexes manchmal aussichtslos?
Wie alle, die sich mit dieser Thematik befassen, habe auch ich manchmal Frustphasen. Aber genauso gibt es auch jene Momente, die mich in der Überzeugung bestärken, dass man Dinge verbessern kann.
Zum Beispiel?
Es ist schon vorgekommen, dass kleine indigene Gemeinden gegen einen Ölkonzern gewonnen haben – zum Beispiel im emblematischen Fall von Chevron in Ecuador. Und in Peru hat man erreicht, dass der MarañÓn-Fluss und der Titicacasee den Status von Rechtssubjekten bekommen, was dazu führen soll, dass deren Verschmutzung effektiver verfolgt werden kann. Am Ende des Buches hat es entsprechende Testimonials drin, weil ich mit einer Hoffnungsbotschaft abschliessen wollte.
Wenn solche Firmen, wie Sie sie im Buch beschreiben, notwendige Umweltzertifizierungen oder Gütesiegel nicht bekommen, drehen sie den Spiess um und behaupten, schuld daran seien «aggressive und irreführende Kampagnen» einiger NGOs. So werden jene, die Gutes bewirken wollen, zum Sündenbock gemacht. Wie geht es Ihnen damit?
Diese Umkehrung der Argumentation finde ich lächerlich. Grossunternehmen, die sich auf diese Weise zu Opfern machen und Staatsanwälte verklagen, weil diese den Ruf des Unternehmens schädigen, kann man nicht ernst nehmen. Ich denke, dass die meisten Menschen das durchschauen und hoffentlich auch darüber lachen können.
Weniger lustig ist, dass laut der Menschenrechtsorganisation Global Witness seit 2012 weltweit 1910 Personen getötet wurden, die sich für Umwelt- und Menschenrechte einsetzten. Peru zählt mit 42 Morden in den letzten zehn Jahren zu den weltweiten Top Ten. Wie gefährlich leben Sie als kritische Journalistin in Peru?
Ich habe die Gefährdungssituation genau abgeklärt, bevor ich mit dem Buch angefangen habe. Möglich, dass ich angezeigt werde, wie andere auch, die sich zu diesem Fall geäussert haben. Es hat schon viele Medien gegeben, auch NGOs, die Texte wieder vom Netz nehmen mussten und denen mit Prozessen gedroht wurde. Das ist ein reales Risiko, dessen sich der Verlag und ich bewusst sind.
Inwieweit hat Sie dieses Risiko beim Schreiben oder Recherchieren beeinflusst?
Wir haben gewisse Strategien angewendet und sehr auf die Perspektive geachtet, in der ich das Buch schreibe. Ich habe jede Aussage überlegt formuliert und mit Quellenangaben untermauert. Aber wenn sie es darauf anlegen, finden sie bestimmt irgend ein Detail, auf dem sie eine Anzeige abstützen können. Dabei geht es in der Regel um Begriffe und Formulierungen, manchmal sogar um einzelne Wörter, die in den Augen der Unternehmensanwälte nicht korrekt verwendet werden. Alles in allem ist eine Anzeige wohl das Schlimmste, was mir passieren kann.
Bedrohungen an Leib und Leben befürchten Sie nicht?
Im Gegensatz zu lokalen Aktivisten oder Gemeindemitgliedern, die umgebracht worden sind, ist es noch einmal ein anderes Niveau, ausländische oder auch einheimische Journalisten mit dem Tod zu bedrohen. So weit sind wir in diesem Kontext zum Glück noch nicht. In anderen Kontexten schon.
Hat Ihre Arbeit schon andere provoziert?
Ich habe schon E-Mails oder Briefe mit Beleidigungen und Verleumdungen erhalten – nicht nur in Lateinamerika oder bei Menschenrechts- und Umweltthemen. Aber ich habe noch nie um mein Leben gefürchtet.
Firmen, die Sie für die Abholzung des Regenwaldes verantwortlich machen, schaffen vor Ort Arbeitsplätze und Wohlstand, bauen Gesundheitszentren und Schulen. Dies bringt ihnen die Unterstützung von einem Teil der betroffenen Indigenen ein. Wie beurteilen Sie diese Rechtfertigung für ihr Handeln?
Es ist verständlich, dass sich Indigene oder Menschen in ländlichen, vom Staat vernachlässigten Gemeinden «verführen» lassen, wenn ein Unternehmen Infrastrukturen bereitstellt und Grundbedürfnisse erfüllt. Viele ergreifen dann für das Unternehmen Partei, weil es sich um sie kümmert. Andere sind dagegen, weil sie sich der negativen Auswirkungen der Ausbeutung bewusst sind. Diese Spaltung der Bevölkerung ist eine bewusste Strategie der Unternehmen, weil die Gemeinde so einfacher zu manipulieren ist.
Zentral dafür, dass keine zusätzlichen Waldflächen in Anbaugebiete umgewandelt werden, ist die Reduktion des Palmölbedarfs. So könnte durch den Verzicht von Palmöl als Biokraftstoff, bewussteren Konsum von Schokolade, Süss- und Knabberwaren und Fertiggerichten rund die Hälfte des derzeitigen Palmölbedarfs eingespart werden. Wo hat es denn überall Palmöl drin?
Weil die Lieferketten intransparent sind, gibt es keine umfassende Liste dieser Produkte. Im Buch findet man eine Aufzählung von Produkten und Unternehmen, welche Palmöl beinhalten oder nutzen. Der WWF und andere Organisationen haben dazu gute Dossiers. Insgesamt wird geschätzt, dass jedes zweite Produkt, das wir im Supermarkt kaufen, Palmöl enthält.
Peru verfügt über rund 60 Millionen Hektaren Regenwald und liegt laut fundtheplanet.net auf Rang sechs mit dem weltweit höchsten Primärwaldverlust. Gemäss infostelle-peru.de hat das Land in den letzten 15 Jahren 1,8 Millionen Hektaren Regenwald verloren. Das klingt bei 60 Millionen Hektaren erst mal nicht nach sehr viel. Was ist das Schlimme daran?
Darüber existieren kaum einheitliche Zahlen, meist variieren diese sehr stark je nach Quelle. Das Problem ist, dass es um biologisch sehr wertvolle Flächen geht, sprich um Primärwald. Das ist unberührter, artenvielfältiger Urwald, wo bedrohte Tier- und Pflanzenarten ihren letzten Lebensraum haben und der zum Territorium indigener Gemeinden gehört. Jeder Hektar, der abgeholzt wird, ist einer zu viel. Denn je kleiner die zusammenhängenden Primärwaldflächen sind, desto weniger gut funktioniert der Urwald unter anderem als Kohlenstoffspeicher oder Temperaturregler.
Also ist auch die Zerstückelung des Primärwaldes ein Problem, nicht nur die Abholzung an sich?
Genau. Die Funktionen des Regenwaldes verringern sich drastisch, wenn seine Fläche fragmentiert wird, sprich, wenn dazwischen immer wieder Monokulturen, beispielsweise von Ölpalmen oder Kakaopflanzen, angebaut werden. Dazu kommt, dass dadurch die Indigenen von ihren Jagd- oder Fischgründen abgeschnitten werden, weil ihnen der Weg dorthin versperrt wird. Raubkatzen, etwa Jaguare, die extrem grosse Reviere haben, können den Wald nicht mehr durchstreifen. Es geht nicht nur darum, dass einige Hektar Bäume fehlen, sondern es geht um das zerstörte Zusammenspiel. Je mehr abgeholzt wird, desto schlechter funktioniert dieses System, das für den ganzen Planeten eine extrem wichtige Funktion hat.
Das westliche Weltbild, welches die Anhäufung materieller Dinge im Überfluss als Wohlstand definiert und allen Weltregionen im Namen von Demokratie und Freiheit übergestülpt wird, bezeichnen Sie als schädlich für den Planeten. Wie sollen denn die Menschen künftig leben, damit die Natur wieder ins Lot kommt?
Tatsächlich müssen wir unser Konsumverhalten hinterfragen, und da gibt es in einem Land wie der Schweiz definitiv Spielraum. Es ist allerdings schwierig, sich als Einzelperson vollkommen aus diesem schädlichen System herauszunehmen. Wir wissen bei keinem gekauften Produkt, was wirklich drin ist und woher es stammt. Wir alle brauchen Handys und Computer, weil die Welt, in der wir leben, so ist, wie sie ist. Selbstversorger werden, ist auch kaum noch realistisch.
Und die Macht der Konsumenten?
Die Konsumenten haben eine grosse Macht, doch dafür müsste die breite Masse einen Bewusstseinswandel durchlaufen. Es reicht nicht, wenn nur zehn Prozent davon beispielsweise auf Nutella verzichten.
Müssten sich Politik und Wirtschaft ändern?
Ja, ich denke, man muss bei der Politik ansetzen und bei der Wirtschaft. Wie ich im Buch aufzeige, hat die Wirtschaft einen Rieseneinfluss auf politische Entscheidungsträger. Oft wird Politik gemacht, um die Wirtschaft zu begünstigen. Wenn weltweit in der Politik Menschen wären, die radikale Gesetze erliessen, welche nicht die Wirtschaft, sondern den Umweltschutz begünstigen, würde sich einiges ändern. Dies würde dann aber auch bedeuten, dass wir alle auf vieles verzichten müssten. Ich befürchte, dass es ohne einen solchen Zwang nicht funktioniert – und solche radikalen Gesetze müssten ausnahmslos und für alle gelten. Solange man auf Freiwilligkeit setzt, passiert bei den meisten zu wenig.
ZUR PERSON
Nicole Maron wurde 1980 in Zürich geboren. Sie studierte in Bern (Islamwissenschaften, interreligiöse Studien) und in Zürich und Berlin (Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaften). Seit 2017 lebt und arbeitet sie in Bolivien und Peru. Die Schwerpunkte ihrer Arbeit sind umwelt- und sozialpolitische Themen wie Flucht und Migration, globale Gerechtigkeit, Dekolonisierung und Menschenrechte.
Neu erschienen ist ihr Buch «Kahlschlag im Amazonas – wer vom Raubbau am Regenwald profitiert». 2019 veröffentlichte Nicole Maron ihr drittes Buch mit dem Titel «Daphne und die Sonne – eine uralte Geschichte von Liebe und Tod», 2014 ihr zweites Buch «Mutter, hab keine Angst – die Geschichte von Zerins Flucht» und 2010 ihr erstes Buch über ihren Grossvater «Fritz Maron – ein Leben für Arosa».
Von 2007 bis 2010 arbeitete Nicole Maron als Journalistin/Redaktorin beim «Anzeiger von Saanen» und von 2008 bis 2011 war sie Mediensprecherin des Gstaad Film-Festivals.
KMA