«Krumme Pfote»
07.07.2023 KolumneFolge 5
Krumme Pfote, ein alter, streunender Strassenköter, begegnet auf seiner nächtlichen Suche nach Fressen einem «Menschenhund», der sich verlaufen hat, und nimmt sich seiner wider Willen an. Die Suche nach seinem Zuhause gestaltet sich ...
Folge 5
Krumme Pfote, ein alter, streunender Strassenköter, begegnet auf seiner nächtlichen Suche nach Fressen einem «Menschenhund», der sich verlaufen hat, und nimmt sich seiner wider Willen an. Die Suche nach seinem Zuhause gestaltet sich schwierig. «Ich mache dir einen Vorschlag», sagte der Kleine lauernd. «Wenn wir meine Höhle wiederfinden, verspreche ich dir, jeden Tag einen Teil meines Essens vor den Eingang zu legen, damit du nicht mehr zur Abfallgrube musst.»
«Abgemacht, wir suchen weiter», sagte ich. Schweigend machten wir uns wieder auf den Weg. Ich ging humpelnd voran, die krumme Pfote hochgezogen. Er blieb mir dicht auf den Fersen, denn er hatte panische Angst, mich zu verlieren. Wieder musste ich an meinen Traum von einem besseren Leben denken: Dreimal täglich warmes Essen, ohne eine Pfote rühren zu müssen. Plötzlich schoss mir ein Gedanke durch den Kopf: «Was denkt ihr Menschenhunde eigentlich über uns Strassenhunde?»
Ich sah, dass er überlegte. «Ich weiss nicht, wie ich es sagen soll», bellte er schliesslich. «Ich finde, es sollte keine armen Hunde geben, die auf den Strassen und in den Abfallgruben ihr Essen suchen müssen.»
Der Kleine blieb stehen und starrte mich an. Es dunkelte bereits und wir mussten uns gegen die Mauer drücken, um nicht überfahren zu werden. Die Gefährte rasten an uns vorbei, ihre Lichter tasteten wie Finger in die Finsternis.
«Es ist schrecklich, die armen Hunde so zu sehen», knurrte er. «Man müsste euch Essen und Höhlen zum Schlafen geben.»
Ich lief weiter und biss die Zähne zusammen. Wir suchten bis tief in die Nacht nach seiner Höhle. Endlich gab er auf. Eindringlich blickte er mich an und sagte: «Du musst mir alles zeigen, damit ich auf der Strasse überleben kann.»
Ich schwieg. «Bitte», bettelte der Kleine. Ich senkte den Kopf. «Ja», knurrte ich.
«Versprich es mir.»
«Ich verspreche es dir», hörte ich mich sagen, während mir blitzartig Gedanken durch den Kopf schossen, wie ich mich seiner entledigen könnte: mich davonschleichen, wenn er schlief; ihn unter eines der Gefährte stossen oder ihn im Fluss ertränken. Aber so schnell, wie mir diese Gedanken gekommen waren, schob ich sie wieder beiseite. Der Kleine sah mich ergeben an. Sein bisheriges Leben war erloschen wie ein Traum, erloschen wie meine Träume von einem besseren Leben, erloschen, als hätte es seine Menschen, seine Höhle und das warme Essen, als hätte es dieses Leben nie gegeben.
Erschrocken schnappte er mit der Schnauze nach seiner Flanke und zerbiss einen Floh. Es war der erste – von vielen. Mir war unbegreiflich, wie ich in diese Geschichte hineingeraten war. Ich konnte ihn nicht trösten. Plötzlich richtete er sich auf, blickte hinauf zum Mond, der bleich über uns stand, zu den Gefährten, schwarz und still am Strassenrand stehend, zu den finsteren Umrissen der Menschenhöhlen und fragte: «Was denkst du?»
«Ich … ich glaube, du wirst dich an all das gewöhnen müssen.» Mich fröstelte.
Etwas weiter oberhalb gab es ein Viertel, wo es von Menschen, wenn die ganze Stadt schon schlief, nur so wimmelte. Es war ein seltsames Viertel. Die Menschen sahen miserabel aus, schmutzig, ihre Kleider zerlumpt. Sie tranken und torkelten durch die Strassen, lärmten, stolperten, fielen um und blieben liegen. Da lagen sie dann wie tot zwischen Abfällen und dem schmutzigen Wasser, das den Rinnstein entlanglief. Andere Menschen, vor allem kleine, verdreckte Kinder, nahmen ihnen dann die Kleider weg und diese merkwürdigen Scheiben, mit denen man sich etwas zu essen kaufen konnte, und verschwanden damit. Die Scheiben tauschten sie gegen süsse Kugeln ein, die man lutschte, und weisse Stäbchen, die sie in den Mund steckten und anzündeten. Die ganze Nacht über waren sie damit beschäftigt.
Die Menschen, die keine Höhlen besassen, verbrannten nachts die Abfälle, die sich auf der Strasse täglich anhäuften, um sich am Feuer aufzuwärmen. Normalerweise mied ich dieses Viertel, doch jetzt machten wir uns auf den Weg dorthin. Vielleicht konnten wir uns zwischen die Menschen an ein Feuer drängen. Der eisige Wind trieb Papierfetzen vor sich her, liess die Feuer flackern und die Funken springen. Wir drängten uns durch den beissenden Rauch, aber die Menschen verscheuchten uns. Einer stolperte über den Kleinen und blieb mit dem Gesicht nach unten im schmutzigen Wasser liegen. Ein anderer kam johlend auf uns zu und gab dem Kleinen einen Tritt. Winselnd rannte er davon, hinein in eine der finsteren Seitengassen. Ich folgte ihm humpelnd auf meinen drei Pfoten.
«He, warte», kläffte ich hinter ihm her, «warte auf mich».
Die Ohren flach angelegt, ohne sich umzublicken, rannte er weiter. Endlich gelang es mir, ihm den Weg abzuschneiden. Beide keuchten wir und schnappten nach Luft. «Dort gehe ich nicht wieder hin», hechelte er. «Nie wieder.»
Weiter ging es durch dunkle Gassen, bis wir zu einem Platz kamen, wo im schwachen Licht zwischen hohen, zerfallenen Bauten Kinder herumrannten und mit den Füssen gegen eine Kugel traten. Die Kugel musste zwischen zwei Steinen, die am Boden lagen, hindurch fliegen. Nicht zum ersten Mal sah ich dieses Spiel. Kaum hatten die Kinder jedoch den Kleinen entdeckt, stürzten sie sich grölend auf ihn. Einen so niedlichen Hund musste man einfach auf den Arm nehmen. Der Kleine fuhr erschrocken zurück, aber es war zu spät. Sie hoben ihn auf, drückten ihn an sich, kraulten seinen Bauch, schüttelten seine Pfoten, zerrten an seinen Ohren, an seinem Schwanz und zwickten ihn in die Nase. Der Kleine jaulte ängstlich. Einer von ihnen setzte ihn sich auf die Schultern und so machten sie sich daran, davonzugehen. Der Kleine starrte mich voller Schrecken an und bellte: «Hilf mir!»
Einen Augenblick lang durchfuhr mich Erleichterung. Endlich war ich ihn los.
«Lass mich nicht allein», jaulte er, und seine Augen wurden grösser und grösser, «du hast es mir versprochen».
Ein Ruck ging durch meinen Körper und ich lief hinter ihnen her.
«Beiss ihn», bellte ich, «beiss ihn in die Hand».
Aber er jaulte und winselte nur.
«Beiss ihn endlich!», kläffte ich, und sprang zwischen die Beine des Jungen, der den Kleinen trug, um ihn zum Stolpern zu bringen. Aber er stolperte nicht und begann stattdessen mich zu treten. Die anderen hoben Steine auf und warfen nach mir. Einer traf mich. Es schmerzte und ich beschränkte mich darauf, in einiger Entfernung bellend hinter ihnen herzulaufen. Nebelschleier senkten sich und verschluckten die Jungen fast. Ich konnte so tun, als ob mich der Nebel ebenfalls verschluckte, aber ich sah immer noch den Blick des Kleinen vor mir, der mich nicht losliess. Plötzlich stolperte ich. Mein eigenes Gekläff hallte mir in den Ohren. Einige Male drehte sich alles vor meinen Augen, aber ich humpelte weiter, ohne nachzudenken, trotz meiner Schmerzen. Wir gelangten auf eine grössere Strasse, die ich sofort erkannte. Hier standen viele Holzgestelle mit kleinen Dächern, in denen die Menschen tagsüber alle möglichen Waren gegen die kleinen Scheiben eintauschten. Jetzt aber war alles dunkel und verlassen. Überall lag Abfall herum, verfaulte Früchte und Gemüse. Ans Fressen konnte ich jetzt jedoch nicht denken. Die Jungen waren inzwischen verstummt. Der Kleine winselte nur noch leise.
Wie aus dem Nichts tauchten im Nebel zwei Gestalten auf und im selben Moment verschwanden die Jungen zwischen den Holzgestellen. Die beiden Gestalten trugen grüne Kleider und Helme. An ihrer Seite baumelten Stöcke. Als sie an mir vorbeigingen, duckte ich mich und wedelte mit dem Schwanz, um zu zeigen, dass ich keine bösen Absichten hatte. Schon oft hatte ich bemerkt, dass nicht nur wir Hunde sondern auch die Menschen Angst vor ihnen hatten. Nachdem die Jungen weiter unten wieder auf der Strasse aufgetaucht waren, bogen sie nach kurzer Zeit in eine dunkle Seitengasse ab. Ich konnte erkennen, dass sie vor einer Nische haltmachten, die mit Kartons und Plastikfetzen ausgelegt war. Sie liessen sich dort nieder und versuchten, es sich darauf so bequem wie möglich zu machen.
«Wo bist du?», hörte ich den Kleinen bellen. «Antworte mir.» Fortsetzung folgt.
STEFAN GURTNER
Folge 1 AvS vom 3. März, Folge 2 AvS vom 6. April, Folge 3 AvS vom 5. Mai, Folge 4 AvS vom 2. Juni.
Stefan Gurtner ist im Saanenland aufgewachsen und lebt seit 1987 in Bolivien in Südamerika, wo er mit Strassenkindern arbeitet. In loser Folge schreibt er im «Anzeiger von Saanen» über das Leben mit den Jugendlichen. Wer mehr über seine Arbeit erfahren oder diese finanziell unterstützen möchte, kann sich beim Verein Tres Soles, Walter Köhli, Seeblickstrasse 29, 9037 Speicherschwendi, E-Mail: walterkoehli@bluewin.ch erkundigen. Spenden: Tres Soles, 1660 Châteaud’Oex, IBAN: CH20 0900 0000 1701 6727 4. www.tres-soles.de