«Krumme Pfote», Teil 2
06.04.2023 KolumneEin Hund erzählt seine Geschichte, eng verknüpft mit der von vier Strassenkindern.
Krumme Pfote, ein alter, streunender Strassenköter, trifft auf seiner abendlichen Suche nach Fressen auf der Abfallhalde hoch über der Stadt einen «Menschenhund», der ...
Ein Hund erzählt seine Geschichte, eng verknüpft mit der von vier Strassenkindern.
Krumme Pfote, ein alter, streunender Strassenköter, trifft auf seiner abendlichen Suche nach Fressen auf der Abfallhalde hoch über der Stadt einen «Menschenhund», der sich verlaufen hat. Neugierig folgt er ihm und findet ihn versteckt hinter einem Erdhügel.
Ich sah nicht mehr allzu gut, aber schnell stellte ich fest, dass mich mein Blick nicht getäuscht hatte. Es war ein ausserordentlich schöner, weisser, kleiner Hund.
«Keine Angst», bellte ich, «ich tue dir nichts.»
Er sprang mit einem spitzen Jaulen auf. «Wer – wer bist du?»
«Hast du Hunger? Ich habe dir eine Fischgräte mitgebracht», antwortete ich.
«Eine Fischgräte? Ich bin andere Sachen gewöhnt», entgegnete der Kleine frech.
Ich war sprachlos. Die Gräte glitt mir aus dem Maul. Vorsichtig schob ich meine Schnauze an seine, aber er wandte sich ab, als würde es ihn vor mir ekeln.
«Ich habe dir nichts getan», knurrte ich. «Ich habe dich von der Müllhalde flüchten sehen und dachte, dass du vielleicht Hilfe brauchst.»
Trotz der Dunkelheit konnte ich erkennen, dass er mich anblickte, und ich spürte, wie er zitterte. Es wehte ein kalter Wind.
«Hab keine Angst», wiederholte ich. «Und woher weiss ich, ob ich dir vertrauen kann?», fragte er.
«Glaubst du etwa, ich fresse kleine, weisse Hunde?», gab ich zurück.
«Ich weiss nicht, woher ich etwas zu fressen bekommen soll und wo ich schlafen kann. Ich habe mich verlaufen», winselte er.
«Friss, was ich dir mitgebracht habe!»
Blitzschnell fischte er sich die Gräte vom Boden und verschlang sie. «Warum machst du das? Die anderen Hunde sind ganz anders», stiess er hervor.
«Ich bin alt, habe viel gesehen und kenne den Hunger. Wie heisst du eigentlich?»
«Nenn mich einfach Kleiner. Ich weiss nicht, wie mich die Menschen genannt haben, denn ich verstehe ihre Sprache nicht. Wie heisst denn du?»
Ich deutete mit der Schnauze auf mein verkrüppeltes Bein. «Man nennt mich Krumme Pfote.»
Der Kleine schnüffelte an mir. «Du stinkst.»
«Ja, das stimmt, ich stinke, aber ich kann nichts dafür», entgegnete ich. «Und dir wird es spätestens in einigen Tagen genauso ergehen.»
«Dass mir das auch passieren musste», jammerte er.
«Was?», fragte ich. Trotz allem war er mir irgendwie sympathisch.
«Ich erzähle es dir später.» Er zitterte vor Kälte. «Weisst du, wo man hier schlafen kann?»
«Natürlich.»
«Nimm mich mit, bitte», winselte er. Er hatte ganz und gar keine Vorstellung davon, wo ich nächtigte.
«Gut», willigte ich ein, «komm mit.»
Schweigend liefen wir durch die Nacht, ein ungleiches Paar. Es dauerte nicht lange, da waren wir an meiner Schlafstelle nahe der Abfallgrube angelangt. Mit meinem krummen Bein schaffte ich es nicht mehr, noch in der gleichen Nacht, nachdem ich erst die Abfallgrube zur nächtlichen Mahlzeit erklommen hatte, den Weg hinunter in die Stadt auf mich zu nehmen. Es gab hier einige Höhlen, die die Menschen errichtet hatten. In einem der Eingänge befand sich im Boden eine Vertiefung, in der man sich zusammenrollen und ungestört schlafen konnte.
«Hier ist mein Schlafplatz», sagte ich.
«Wo? In dieser Höhle?» «Nein, man kann nicht hineingehen. Hier, in der Vertiefung.»
«Was?»
«Man muss es sich bequem machen, das geht schon.»
«Nein! Da schlafe ich nicht», jaulte der Kleine.
«Such dir doch etwas Besseres», bellte ich und rollte mich zusammen. Der Kleine winselte verzweifelt. Ich blieb stumm. Er blickte sich um, begann im Kreis zu laufen, kam zurück und beschnüffelte misstrauisch die Kuhle. Schliesslich knurrte er: «Besser als nichts», und zwängte sich dicht neben mich.
«Gut so, dann wird dir auch warm werden», raunte ich ihm zu.
Der Kleine zitterte noch immer. Ich hörte ihn leise vor sich hin jammern.
«Erzähl mir, was passiert ist, dann vergisst du die Kälte.»
«Ja», winselte er, «vielleicht kannst du mir helfen. Heute ist der dunkelste Tag in meinem Leben. Bis heute früh habe ich bei Menschen gelebt und es ist mir sehr gut gegangen. Ich hatte meine eigene, kleine Höhle mit einer weichen, warmen Unterlage. Dreimal am Tag stellten mir meine Menschen warmes Essen hin und ich tat nichts anderes als den ganzen Tag mit den Kindern der Menschen zu spielen, zu schlafen oder zu essen und zu bellen, wenn ein Fremder meiner Höhle zu nahe kam – das tun alle Hunde, die mit Menschen zusammenleben.» «Wir mögen Menschen, die uns gut behandeln», stimmte ich ihm zu. «Wie gern hätte ich Menschen gehabt, die sich um mich gekümmert hätten, aber ich war zu schmutzig und zu hässlich.»
«Oh, ja», raunzte der Kleine «sie nahmen mich auf den Arm, gaben mir Leckereien und wuschen mein Fell mit einem Pulver, das gut roch. Wenn es besonders kalt war, liessen sie mich in ihre Höhle, ich durfte bei ihnen schlafen und –»
«Sei still.»
«Aber du hast gesagt, ich soll es dir erzählen», protestierte der Kleine, «und ich habe wirklich die Kälte vergessen.»
«Dann erzähl eben weiter», knurrte ich. Mein Kopf schmerzte und ich war plötzlich sehr müde, doch ich hatte mir diesen Kleinen aufgehalst und jetzt musste ich ihn ertragen.
Heftig schnaubend stiess er die Luft aus: «Heute morgen war plötzlich alles vorbei. Diese kleine, hübsche Hündin ist an allem schuld», jaulte er. «Sie ging an unserem Eingang vorbei und wedelte so verführerisch mit dem Schwanz, dass ich nicht widerstehen konnte. Sie war schneeweiss, an einigen Stellen dunkel gefleckt und hatte schwarze, fransige Ohren …»
«Mmmh», machte ich. Ich interessierte mich schon seit langem nicht mehr für Hündinnen und sie sich noch weniger für mich.
«Die schönste Hündin, die ich in meinem Leben gesehen habe», bellte er begeistert. «Ich habe den Kopf verloren, bin losgerannt auf die Strasse, was ich sonst nie mache. Ich hörte noch die Rufe meiner Menschen, aber ich sah nur das gefleckte, wackelnde Hinterteil der Hündin. Sie bog um die Ecke, ich hinterher. Beinahe hätte mich eines der Gefährte, mit denen die Menschen herumfahren, überrollt. Ich erreichte die Ecke – und sie war verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. Plötzlich fiel mich ein riesiger Strassenköter an. So schnell ich konnte, machte ich mich aus dem Staub.»
«Pech», knurrte ich.
Der Mond stieg auf. Sein fahles Licht fiel auf die Strasse, die einsam und leer dalag.
«Ich weiss nicht, warum ich dir das alles erzähle, warum ich dir vertraue. Aber du bist der Erste, der mich heute freundlich behandelt.»
«Ich habe gesehen, dass du Hilfe brauchst.»
Er japste: «Ja, ich kann die Höhle meiner Menschen nicht mehr finden. Ich wusste nicht, in welche Richtung ich laufen sollte. Da waren Strassen, die ich nie gesehen hatte, grosse Strassen voller Gefährte und noch mehr Menschen. Ich schnüffelte am Boden, rannte von einer Ecke zur andern, aber alles schien mir immer fremder.»
«Wozu hast du deine Nase? Jeder andere Hund hätte seine Menschen gefunden.»
«Ich war zu aufgeregt», jaulte er, «ich konnte nicht mehr klar denken.»
«Willst du wissen, was ich glaube? Du bist zu verwöhnt.»
Er antwortete nicht. Ich fragte mich, was ich mit diesem kleinen Kerl anfangen sollte.
STEFAN GURTNER
Stefan Gurtner ist im Saanenland aufgewachsen und lebt seit 1987 in Bolivien in Südamerika, wo er mit Strassenkindern arbeitet. In loser Folge schreibt er im «Anzeiger von Saanen» über das Leben mit den Jugendlichen. Wer mehr über seine Arbeit erfahren oder diese finanziell unterstützen möchte, kann sich beim Verein Tres Soles, Walter Köhli, Seeblickstrasse 29, 9037 Speicherschwendi, E-Mail: walterkoehli@ bluewin.ch erkundigen. Spenden: Tres Soles, 1660 Château-d’Oex, IBAN: CH20 0900 0000 1701 6727 4.. www.tres-soles.de