«Leben braucht extrem viel Zeit!»
31.07.2023 GesellschaftSilvia Widmer und Rolf Wey aus Saanenmöser waren zwanzig Jahre lang zusammen auf Ihrem selbst gebauten Segelboot «Betonia» auf den Weltmeeren unterwegs. Im Jahr 2015 sind die beiden im Saanenland sesshaft geworden – und vermissen hier nichts. Nicht einmal das Meer. ...
Silvia Widmer und Rolf Wey aus Saanenmöser waren zwanzig Jahre lang zusammen auf Ihrem selbst gebauten Segelboot «Betonia» auf den Weltmeeren unterwegs. Im Jahr 2015 sind die beiden im Saanenland sesshaft geworden – und vermissen hier nichts. Nicht einmal das Meer. Auf Wunsch von Barbara von Grünigen haben wir die beiden besucht.
KEREM S. MAURER
«Wir führen heute eigentlich noch dasselbe Leben wie auf dem Schiff: genügsam, zurückgezogen und glücklich», umreisst Rolf Wey ihr sesshaftes Leben im Saanenland. Ein Foto an der Wohnzimmerwand zeigt die «Betonia» mit leuchtend weissen Segeln auf blauem Meer unter blauem Himmel. «Wir haben das Schiff «Betonia» getauft – die weibliche Form von Beton – weil die ganze Schale inklusive dem Kiel aus Beton bestand», erklärt der Mann, der wie seine Lebenspartnerin einst eine Lehre als Bootsbauer gemacht hat.
Es war mein grosser Traum, mein eigenes Boot zu bauen und damit in die Welt hinauszusegeln», sagt er. Nach der Lehre hat Rolf Wey mit dem Schiffsbau begonnen. 15 Jahre dauerte es, bis das Schiff fertig war. «Ich habe nicht geglaubt, dass er jemals damit fertig wird», gibt Silvia Widmer lachend zu, die damals in derselben Werft arbeitete wie er.
Aus zwei Monaten wurden vier Jahre
Obschon beide in der gleichen Werft in Kreuzlingen gelernt und gearbeitet haben, dauerte es lange, bis sie als Paar zusammenfanden. «Als ich die ‹Betonia› im August 1994 im Rhein in Basel einwasserte, half Silvia in England bei der Restaurierung des Museumsschiffs ‹Cutty Sark›», erzählt Rolf Wey. Und weil es an der «Betonia» doch noch einiges zu tun gab, benötigte er Sperr- und Teakholz. Dafür segelte Wey an die englische Ostküste und meldete sich bei Silvia Widmer, die an der Quelle für solche Baumaterialien war. «Ich war mit Sperrholzplatten und Teak vier Stunden in den öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs», sagt sie. An Ort und Stelle hatte sie das Material gleich selbst verbaut. Danach setzte Rolf Wey die Segel und steuerte in Begleitung seines Onkels, der ein erfahrener Atlantiksegler war, über Spanien, Madeira und die Kanaren Richtung Kleine Antillen. Unterdessen beendete Silvia Widmer in England ihr Arbeitsverhältnis auf der «Cutty Sark», kehrte zurück in die Schweiz und kaufte sich ein Retourticket nach Martinique in der Karibik. «Da mein Ticket zwei Monate lang gültig war, sagte ich meinen Eltern, ich sei in spätestens zwei Monaten wieder zurück – doch daraus wurden vier Jahre», sagt sie. Bedauert hat sie dies nie.
«Wir blieben, wo es uns gefiel!»
Seit der Karibik waren die beiden gemeinsam unterwegs. «Erst segelten wir ein knappes Jahr in den Kleinen Antillen auf und ab, bevor wir je vier Monate nach Venezuela, dann nach Panama segelten. Dort verbrachten wir einen Monat bei den Kuna-Indios, die an der Küste lebten, bevor es hinüber in den Pazifik ging. Innerhalb von neun Monaten segelten wir via Französisch-Polynesien, Cook-Inseln, Samoa, Tonga, Fidschi nach Neuseeland», erzählt Rolf Wey. Von Neuseeland ging es wieder über den Pazifik nach Kanada, wo sie sich insgesamt zweimal sieben Jahre aufhielten. Sie wichen den Hurrikansaisons auf der Südhalbkugel aus, indem sie in den Norden segelten und sie umgingen die nördlichen Winterstürme, indem sie sich in den Tropen aufhielten. «Wir waren immer da, wo es uns gerade gefiel», schwärmen sie.
Erst die Natur, dann die Menschen
Am Anfang ihres Weltenbummlerdaseins seien sie innerlich getrieben gewesen und kaum länger als zwei oder drei Tage in derselben Bucht geblieben, hätten stets Neues entdecken und anderes sehen wollen. «Damals waren die Landschaften wichtig. Buchten, Inseln, Berge. Wir wollten alles sehen», resümiert Silvia Widmer und erzählt, wie sie als begeisterte Wanderer Streifzüge auf unzähligen Inseln unternommen hatten. Später, als sie zum wiederholten Mal an denselben Orten weilten, verschoben sich ihre Interessen. «Wir begannen, uns für die indigene Bevölkerung zu interessieren und für ihre Lebensweisen, suchten Kontakt zu Einheimischen, was zu bereichernden Erlebnissen führte», berichtet sie.
Segelflicken – ein Job, der nie endet
«Ein Schiff muss gewartet werden, damit nichts kaputt geht und es hochseetauglich bleibt», wissen die Bootsbauer. Auch für die Nahrungs- und Holzbeschaffung musste täglich gearbeitet werden. Brot und Gebäcke wurden oft auf dem Schiff hergestellt, andere Lebensmittel haltbar gemacht. Und zwischendurch wurde auch gefischt. Doch eines gab am meisten zu tun: «Segelflicken ist eine Arbeit, die einem nie ausgeht. Ein Zickzack nach dem anderen. Von Hand», sagt Silvia Widmer. Und immer wieder waren sie an Land: Beeren und Pilze sammeln, Holz schlagen, um in dem kleinen Holzofen – den sie sich in Neuseeland angeschafft hatten, bevor sie in den hohen Norden segelten – Feuer zu machen. «Diese Arbeiten waren zeitintensiv, aber das war egal. Das war unser Leben», erzählt Silvia Widmer und Rolf Wey fügt hinzu: «Das war unser Lebensstil. Leben braucht extrem viel Zeit.»
Zwanzig Jahre waren genug
Wenn man fünfzehn Jahre lang von Hand sein eigenes Boot gebaut und dann zwanzig Jahre darauf gelebt hat, kann man es nicht von heute auf morgen verkaufen. «Das Beenden dieses Lebensstils war ein Prozess, der insgesamt vier Jahre gedauert hat», erzählt der Abenteurer. Ende 2014 war es so weit. Doch bevor die Weltenbummler von Kanada, wo sie die «Betonia» verkauft hatten, zurückkehrten, bereisten sie noch während rund acht Monaten mit dem Auto den amerikanischen Kontinent. Dann erst hiess es Abschied nehmen vom Leben als Globetrotter. Wie kamen sie ins Saanenland? «Es war für uns immer klar, dass wir im Berner Oberland leben wollen und wir haben hier bei den Bergbahnen Jobs gefunden», sagt Rolf Wey, der inzwischen pensioniert ist. Vermissen Sie hier irgendetwas? Vielleicht das Meer? «Nein», sagt er, «denn wir hatten über eine ganz lange Zeit so viel Meer, dass wir jetzt etwas anderes wollen. Ein neues Leben.» Und Silvia Widmer meint: «Manchmal, wenn es so richtig stürmt und es im Gebälk des alten Hauses knarzt, bin ich heilfroh, dass wir nicht raus müssen, um alles festzumachen und Ankerwache zu halten».
Wir stellen Ihnen Menschen vor, die jenseits der Schlagzeilen die Geschichte des Saanenlandes mitschreiben. Leute, die im Hintergrund Fäden spannen, ihr Umfeld mit ihrer Art bereichern oder ganz einfach anders sind. Die Serie rollt wie ein Schneeball durch die Region, denn die Porträtierten wählen jeweils selbst einen/eine Nachfolger/in. Auf Wunsch von Silvia Widmer und Rolf Wey besuchen wir als Nächstes Olga und Daniel Reichenbach aus Lauenen.