Leere Kanzel – leere Kirchenbank
27.06.2024 GesellschaftEs wird zunehmend schwierig, die Pfarrstellen in der Region zu besetzen. Liegt es an der Attraktivität des Pfarrberufs oder ist vielmehr die gesellschaftliche Entwicklung Ursache dafür? Trägt am Ende die Kirche selbst an diesem Umstand Schuld? Im Gespräch mit ...
Es wird zunehmend schwierig, die Pfarrstellen in der Region zu besetzen. Liegt es an der Attraktivität des Pfarrberufs oder ist vielmehr die gesellschaftliche Entwicklung Ursache dafür? Trägt am Ende die Kirche selbst an diesem Umstand Schuld? Im Gespräch mit Pfarrerin Marianne Kellenberger wagen wir den Versuch einer Erklärung, warum es die Problematiken rund um die Kirche heute gibt und wie ihnen begegnet werden könnte.
JENNY STERCHI
Am Anfang eine Frage
Im Kirchenfenster (siehe diese Ausgabe) sind einige Ansichten abgebildet, die sich mit der Frage beschäftigen: «Was bedeutet für Dich Kirche?» Unerwartet viele Rückmeldungen – mehr als 30 – habe sie erhalten auf die Frage, die Pfarrerin Marianne Kellenberger via Social Media versendet hat. Dieser grosse Rücklauf zeigt schon sehr deutlich, dass das Thema nicht egal ist. Die Aussagen darin waren so vielfältig wie berührend. Kirche und Glaube bewegen die Menschen, wenn sie sich die Zeit nehmen, darüber nachzudenken. Mit dieser Frage fühlten sich mehrere Generationen angesprochen. Teenager formulierten ihre Gedanken zur Kirche ebenso wie junge Erwachsene, Menschen mittleren Alters wie auch Pensionäre und Pensionärinnen.
Glaube ohne Kirche?
Für manche der Befragten ist die Kirche ein Gebäude ohne viel Einfluss. In einer Reihe von Antworten fand sich die Unabhängigkeit des eigenen Glaubens von der Institution Kirche wieder. «Ich gehe zum Beten viel lieber auf den Berg», so oder ähnlich wurde es der Initiantin dieser Umfrage berichtet. Für Marianne Kellenberger ist klar, dass die Kirche nicht zwangsweise der Ort ist, an dem sich die Menschen in ihrem Glauben vereint fühlen. «Beim Gebet stellst du dich in den Kontext, bist Teil des Ganzen, ob du nun betend in der Kirche sitzt oder zum Gebet auf den Berg kletterst.»
Was kann Kirche?
Häufig wurde von den Befragten erklärt, dass ihnen die Kirche als Ort der Geborgenheit Momente der Ruhe und des sich Besinnens schenkt. «Die Kirche ist mein geistiges Daheim», so die Worte einer Frau. Sie finde in der Kirche die Ruhe, die sie brauche, um ihrem Glauben Raum zu geben. «Es gelingt mir leichter als im hektischen Alltag.» Die massiven Bauten vermitteln vielen der Befragten ein Gefühl von Schutz, ohne dass sie es direkt mit dem Glauben in Verbindung setzen. «In der Kirche verbringen viele Menschen Übergänge des menschlichen Daseins und tragen so die oftmals sehr emotionalen Situationen gemeinsam», formuliert die Pfarrerin den Erklärungsversuch. Ein anderer Aspekt ist die Stille, die eine Kirche im Lärm einer Grossstadt bietet. In ihren Gottesdiensten lädt Pfarrerin Kellenberger die Besuchenden immer mal ein, sich die Zeit zum Zurücklehnen zu nehmen. «Es ist sehr eindrücklich, wie gut dieses Zurücklehnen in den Kirchenbänken bis zu mir zu hören ist», berichtet sie.
Glaube wichtiger denn Kirche?
Es sei, so Kellenberger, heute gut zu beobachten, dass das Wissen um die menschliche Vergänglichkeit hier und da verdrängt und vergessen werde. Für «in guten und in schwierigen Zeiten» fehle die Ausdauer. Stille und Langeweile seien zunehmend negativ bewertet. Dabei seien das die Phasen des Lebens, in denen sich die Gedanken verselbstständigen können, Kreativität Platz finde. Schon von Berufswegen übt sie mit den Konfirmandinnen und Konfirmanden neben dem Stilleaushalten auch das Gebet und die Gottesdienstgepflogenheiten. «Glaube muss geübt werden», ist sich die Pfarrerin sicher. «Ich finde, dass man auf dem Weg den Umgang mit seinem Glauben lernt.» Auch wenn man schliesslich zum Beten lieber auf einen Berg gehe als in eine Kirche. «Für mich ist ‹Kirche› in erster Linie Gemeinschaft von Menschen und erst in zweiter Linie Gebäude.» Vielleicht ist es die Assoziation für die anfangs erwähnten Menschen, die in Kirchen gehen und dort Ruhe finden, dadurch mit anderen Menschen in irgendeiner Weise verbunden zu sein.
Was läuft schief?
Hohe Austrittszahlen, leere Kirchenbänke und Unverständnis gegenüber der Institution bestimmen seit einiger Zeit häufig das Bild der Kirche. «Das Marketing und die Kommunikation der Kirche waren in der Vergangenheit nicht gerade werbewirksam», so die kritische Sicht von Marianne Kellenberger. Dass Fehler passiert sind und weiter passieren werden, sei ein Zeichen dafür, dass Kirche aus Menschen besteht. Mit der kirchlichen Unterweisung habe man eigentlich junge Menschen für die Kirche gewinnen wollen. «Aber das pädagogische Konzept der kirchlichen Unterweisung hat sich erst in den letzten Jahrzehnten zu einer modernen, nachvollziehbareren Form gewandelt.»
Kirche als Mitmachgemeinschaft?
Marianne Kellenberger spricht für die reformierte Kirchgemeinde Saanen-Gsteig, wenn sie sagt, dass die Kirche viele verschiedene Dinge anbietet, bei denen man dabei sein darf. «Ja, es ist ein Dürfen, bei diesem grossen Konstrukt Kirche dabei zu sein und sich aktiv einzubringen», ist die Pfarrerin aus Saanen überzeugt. Kirchgemeindeversammlungen, Kirchgemeinderat oder ein Engagement in anderen Bereichen des kirchlichen Angebots, wie zum Beispiel Jugendarbeit, seien dazu da, daran teilzunehmen und zu gestalten.
Wie attraktiv ist der Pfarrberuf noch?
«Mit mir haben ungefähr 30 Absolvent:innen das Theologiestudium an der Fakultät Bern abgeschlossen. Heute ist die Anzahl der Absolvent:innen dort nur noch einstellig», weiss Pfarrerin Kellenberger. Das beschreibt ziemlich genau die momentane Situation. Es kommen immer weniger Pfarrpersonen aus dem Studium, während immer mehr von ihnen das Pensionsalter erreichen (siehe Grafiken). Ob es die Verfehlungen einzelner Entscheidungsträger, die Arbeitslast oder die lieb gewonnene Unverbindlichkeit ist, die für die derzeit sehr angespannte Situation sorgt, lässt sich weder heute noch morgen haargenau definieren. Womöglich ist es die Kombination aus all dem.
Kirche als Arbeitgeber?
Marianne Kellenberger wusste schon früh, dass sie Pfarrerin werden wollte. Das Leben führte sie zunächst durch einige Zusatzrunden, wie zwei Berufsausbildungen, das Arbeiten in der freien Wirtschaft und schliesslich das Theologiestudium. «Es ist das schönste Studium und ein Geistöffner», schwärmt sie. «Du bist nie fertig, du kannst dich in alle Richtungen vertiefen.» Unbedingt zu überdenken seien aber die Anstellungsbedingungen, die Pfarrpersonen nach dieser umfangreichen Ausbildung und einem zumeist grossen Pensum zu erwarten haben. Der Pfarrberuf muss attraktiver werden, damit junge Menschen ihn ergreifen wollen.
Zum Pfarrersein berufen?
Marianne Kellenberger ist überzeugt, dass der Drang, Theologie studieren zu wollen, von innen heraus kommen muss. «Das heisst nicht, dass man es von Anfang an wissen muss.» Manchmal zeige sich die Berufung für diesen Beruf erst mit den sich ansammelnden Erfahrungen. «Dafür gibt es die Möglichkeit des Quereinstiegs, bei dem verschiedene Bereiche des Studiums ausgelassen werden dürfen.» Der andauernden Diskussion, ob Theologie eine Wissenschaft sei oder nicht, begegnet Kellenberger so: «Es ist Wissenschaft, denn die Forschung in diesem Feld dauert bereits mehr als 1000 Jahre. Natürlich gibt es Aussagen, die nicht mehr gültig sind und überarbeitet werden müssen. Aber die gibt es auch in jeder Naturwissenschaft.»