«Ich weiss nicht, wie man ein Buch richtig oder falsch liest»
22.02.2024 KulturBis im Herbst 2023 war Liliane Studer während acht Jahren für das Programm des Literarischen Herbsts Gstaad verantwortlich und hat als Moderatorin durch unzählige Lesungen geführt. Wir haben uns mit ihr über ihre spannende «persönliche ...
Bis im Herbst 2023 war Liliane Studer während acht Jahren für das Programm des Literarischen Herbsts Gstaad verantwortlich und hat als Moderatorin durch unzählige Lesungen geführt. Wir haben uns mit ihr über ihre spannende «persönliche Literaturgeschichte» unterhalten.
ROBERT SCHNEITER
Liliane Studer, was verbindet Sie mit dem Saanenland und was führte Sie zum Literarischen Herbst in Gstaad?
Meine ersten Erinnerungen ans Saannenland sind Erinnerungen an Ferien in der Feutersoey. Ich war damals etwa vierjährig und meine Schwestern und ich haben in einem Zuber gebadet. Aber den Literarischen Herbst habe ich nicht gewählt, weil er im Saanenland stattfindet. Es war umgekehrt. Hans Ruprecht, der einer der Initianten war, hat eine Nachfolgerin gesucht und mich gefragt, ob ich das machen würde. Landschaftlich passte diese Anfrage für mich. Denn ich bin kein Stadtmensch. Mich faszinierten die Kombination von Literatur und Freiheit und die Gegend, in der kein literarisches Überangebot herrscht. Ich schätzte es auch, zu gestalten und weiterzuentwickeln. Zudem arbeite ich gerne im Team. Ich bin keine Einzelgängerin. Im Austausch kommen mir bessere Dinge in den Sinn als allein am Schreibtisch. Darum war das für mich auch sehr ideal. Die Arbeit mit den guten Leuten im Team war toll.
Liliane Studer blickt auf viele spannende Buchbesprechungen und Lesungen im Saanenland zurück. (Foto: Dominique Uldry)
In welchem Alter sind Sie in die Welt der Bücher eingetaucht? Wie sieht Ihre «persönliche Literaturgeschichte» aus?
Ich war das, was man früher eine «Leseratte» nannte. Schon als ich noch nicht lesen konnte, wollte ich unbedingt wissen, was die Buchstaben bedeuten. Ich habe darum kaum Bilderbücher angeschaut, sondern Textbücher. Und irgendwann konnte ich lesen. Ich habe zwar drei Schwestern, bin aber immer meine eigenen Wege gegangen. Und dabei waren mir Bücher wichtig, weil ich in ihnen meine Welt gefunden habe. Zuerst habe ich Kinderbücher gelesen, dann Mädchenbücher. Da habe ich mitgelebt und manchmal auch mitgeweint. Bücher sind für mich Orte geblieben, wo ich Sachen kennenlernen konnte, die für mich nicht üblich waren. Ich war nie weit gereist, aber ich habe mir über die Bücher die ganze Welt erschlossen und mir viel Wissen angeeignet.
Was müssen Sie als Moderatorin beachten, wenn Sie die Zuhörerinnen und Zuhörer für Literatur begeistern wollen?
Mir geht es darum, meine eigene Begeisterung weiterzugeben, die Neugierde zu wecken und zu zeigen, dass es neben dem eigenen Leben auch noch andere Leben gibt. Andererseits ist mir auch wichtig zu zeigen, dass man als Germanistin nicht gescheiter ist als andere. Denn ich weiss nicht, wie man ein Buch richtig oder falsch liest. Aber ich kann den Leuten meine Erfahrungen weitergeben und ihnen zeigen, dass sie immer auch ihre eigene Geschichte mitbringen, wenn sie lesen. In den Geschichten der Bücher begegnet man ja auch sich selbst.
Nach welchen Kriterien wählen Sie jeweils die Autoren und Autorinnen aus?
Für mich ist es ganz wichtig, dass mich Thema und Sprache interessieren. Das heisst aber nicht, dass ich nur Texte auswähle, die ich gut finde. Obwohl Literatur auch sehr viel mit Geschmack zu tun hat, geht es mir nicht darum, anderen meinen Geschmack aufzuzwingen. Ich möchte eine Breite aufzeigen. Trotzdem muss ich irgendwie herausgefordert sein von einem Text. Wenn ich beim Lesen denke, «ja, ja, das ist schon in Ordnung», dann reicht das nicht, um eine Begeisterung herüberzubringen. Es kann mich zum Beispiel auch etwas ärgern. Aber dann ist es wichtig, dass ich diesen Ärger mit andern teile.
Lesen geht nicht nur im Sitzen: 2020 organisierte Liliane Studer für den Literarischen Herbst einen literarischen Spaziergang. Wie bei jedem Programmpunkt war auch Studer hier dabei und liess sich von Geschichten und Erzählungen durchs Saanenland begleiten. (Foto: Nadine Hager)
Wie sehen Sie das ideale Verhältnis zwischen Autor, Autorin und Lektorin?
Ich arbeitete lange in Verlagen. Das Spannende in unserem Beruf ist – und das ist ein Geschenk –, dass jedes Lektorat anders ist. Jede Autorin, jeder Autor ist anders, und meine Aufgabe als Lektorin besteht darin, herauszufinden, was das Besondere an dem Text ist, mit dem ich es gerade zu tun habe. Was ist gut an diesem Text? Wo bin ich überzeugt, dass man noch etwas besser machen könnte? Und wie gelingt es mir, dass der Autor oder die Autorin es noch besser machen kann? Es ist meine Aufgabe, mich auf mein Gegenüber einzulassen und Vertrauen zu schaffen. Denn ich kritisiere. Doch konstruktive Kritik ist nur möglich, wenn Vertrauen da ist. Für mich ist die Qualität wichtig. Für mich ist es darum interessant, mit Leuten zu arbeiten, mit denen ich an der Qualität arbeiten kann, und die selbst ein Interesse haben, an der Qualität zu arbeiten.
In Deutschland kommen jedes Jahr rund 70’000 Neuerscheinungen und in der Schweiz rund 12’000 auf den Markt, inklusive aller Sachbücher. Warum werden so viele Bücher geschrieben? Was ist der Beweggrund, ein Buch zu schreiben?
Ich weiss nicht, ob es so etwas wie ein Grundbedürfnis gibt, sich mitzuteilen und andere für das zu interessieren, was man erlebt hat. Aber ob das als Ausgangsfrage reicht, um einen guten Text zu schreiben, bezweifle ich. Alles einfach einmal aufschreiben genügt nicht. In einem Buch, das andere packen soll, muss sprachlich und von der Gestaltung her etwas passieren. Auch wenn man das eigene Leben erzählen will, muss man Fantasie haben. Da muss man Geschichten erzählen. Schreiben ist Arbeit, trockene, harte Arbeit. Man muss bereit sein, den eigenen Text 27 Mal zu lesen und dann noch einmal. Es reicht nicht, das eigene Leben aufzuschreiben und zu meinen: Wenn ich das aufschreibe, dann interessiert das die ganze Welt. Der Schritt zum Publizieren ist ein ganz anderer, als einfach etwas aufzuschreiben.
Gemeinsam Freude an der Literatur: Die Geschichtenerzählerinnen und -erzähler der Erzählnacht Gsteig 2021 mit der Schreibwerkstattleiterin Liliane Studer (hinten, Zweite von rechts). (Foto: zvg)
Was braucht es, damit ein gutes Buch entstehen kann?
Das Bewusstsein, dass es einen langen Atem braucht, und dass es mit dem ersten Aufschreiben einer Geschichte nicht gemacht ist. Viele Leute können sich kaum vorstellen, wie lange gute Schriftsteller und Schriftstellerinnen an einem Text arbeiten. Und bevor sie anfangen zu schreiben, tragen sie die Idee für eine neue Geschichte ja oft schon sehr lange mit sich herum. Es braucht einen langen Atem, bis aus einer Idee eine Geschichte wird und vielleicht auch noch einmal ein Buch. Aber es muss ja auch nicht alles veröffentlicht werden. Es kann schon sehr befriedigend sein, das, was mich bewegt, aufzuschreiben.
Was darf in einem guten Buch nicht fehlen?
Eine schwierige Frage, die ich eigentlich gar nicht beantworten kann. Es gibt kein Geheimrezept – zumindest kenne ich keines. Abgesehen davon, dass es auch ganz verschiedene Leserinnen und Leser gibt. Was mich begeistert, interessiert sie vielleicht überhaupt nicht. Auch ich lese viele verschiedene Bücher. Und das ist doch gut. Wenn ich mehrere Stunden im Zug reise, lese ich kein kompliziertes Buch, bei dem ich mich wahnsinnig konzentrieren muss. Dann lese ich leidenschaftlich gerne einen Schmöker, eine Geschichte, die man reinziehen kann. Aber wenn ich mich dabei über sprachliche Formulierungen oder Bilder, die nicht funktionieren, ärgere, regt es mich auf, und ich lege das Buch auf die Seite. Darum habe ich meistens zwei Bücher bei mir.
Literarischer Spaziergang 2020. (Foto: Nadine Hager)
In Filmen und Nachrichtensendungen haben menschliches Leid, der Tod und schlechte Nachrichten sehr oft einen grossen Unterhaltungswert. Gilt diese Feststellung auch für die Literatur?
Es gibt Zeiten, da ertragen es die Leute gut, in der Literatur von schwierigen Themen zu lesen. In den letzten Jahren – zuerst die Pandemie, dann Krieg und jetzt wieder Krieg – hat sich das verändert. Es passiert unglaublich vieles, das vielen so nahekommt, weshalb sie es nicht auch noch in einem Roman lesen mögen. Sie möchten etwas Leichteres. Gegenüber der Unterhaltungsliteratur haben es ernste Themen heute gerade schwer. Aber das kennen wir alle. Manchmal haben wir keine Lust, in der freien Zeit auch noch riesige Probleme zu wälzen. Das finde ich legitim. Schwierig ist es aber, wenn eine solche Einstellung zu einem Dauerzustand wird. Wir müssen es aushalten, dass das, was um uns herum passiert, die Bodenhaftung ins Wanken bringen kann. Aber gleichzeitig sollten wir auch wissen, was wir uns selbst zutrauen können. Verzweifeln bringt nichts. Das breite Angebot in der Literatur kann helfen, die Verantwortung ernst zu nehmen und nicht zu verzweifeln. Bücher können uns die Augen öffnen. Sie sind ein Geschenk, das wir annehmen oder aber sein lassen können.
Und wie geht es Ihnen? Klimawandel, Kriege, Hungersnöte, Flüchtlingselend, sterbende Demokratien und so weiter. Man sieht, hört und liest gegenwärtig vieles, das einem Angst machen könnte. Haben Sie mehr Hoffnungen als Ängste oder mehr Ängste als Hoffnungen?
Das kennen Sie sicher auch: Manchmal sind es 49 Prozent Angst und 51 Prozent Hoffnung und manchmal sind es 49 Prozent Hoffnung und 51 Prozent Angst. Wir bewegen uns in diesen Grenzbereichen. In mir drinnen gibt es aber etwas Grundsätzliches, das sich weigert zu sagen, dass alles verloren ist. Grundsätzlich bin ich zwar ein pessimistischer Mensch. Das war immer so. Aber gleichzeitig habe ich auch immer das trotzige «Trotzdem» gehabt, dass wir trotzdem etwas tun müssen. Wir müssen trotzdem politisch aktiv sein. Wir müssen uns trotzdem engagieren. Wir müssen dieser Entwicklung etwas entgegenstellen. Schon in jungen Jahren war mir aber eines Tages bewusst, dass ich das, wofür ich einstehe, wohl nie erleben werde. Das war wie eine Befreiung. Ich muss also nicht mehr erwarten, dass das, wofür ich mich engagiere, schon morgen eintrifft. Denn das, wofür ich mich einsetze, ist etwas viel Grösseres, etwas, das so viele Veränderungen braucht, dass die Verwirklichung in einem Menschenleben gar nicht möglich ist. Aber wenn ich nur noch Angst habe, dann kann ich überhaupt nichts mehr machen.
Liliane Studer und der Berner Schriftsteller Beat Sterchi unterhielten sich im Juni 2021 in Lauenen über den Sinn des Lebens. (Foto: Sophia Grasser)
Welche Chancen geben Sie dem Buch? Hat das papierene Buch mit zwei Buchdeckeln in der digitalen Zeit noch eine Zukunft?
Wenn man zurückschaut, hat das Buch schon riesige Entwicklungen gemacht. Auch die Schrift. Darum denke ich, dass sich das Buch irgendwie weiterentwickeln wird. Ein Teil wird bestehen, aber es wird auch neue Formen geben. Es hat schon immer neue Formen und Entwicklungen gegeben. Und Entwicklungen haben neben den Gefahren auch immer positive Seiten. In irgendeiner Form werden weiterhin Geschichten geschrieben. Ich wehre mich gegen den Pessimismus, dass das Buch bachab geht. Wir müssen für die Kultur einstehen, weil wir nicht wissen, wie eine Gesellschaft ohne Kultur aussieht. Ich vermute, dass eine Gesellschaft ohne Kultur nicht besser wird, um es mal so vorsichtig zu sagen.
Wie sieht die gemeinsame Zukunft von Liliane Studer und der Literatur aus?
Ich gehe davon aus, dass Bücher und die Geschichten in den Büchern für mich weiterhin eine grosse Bedeutung haben. Ein Buch lesen heisst immer auch, in der eigenen Geschichte zu lesen. Ich schätze in einem Buch das, was etwas mit mir macht. Auf jeden Fall bleibt für mich die Auseinandersetzung mit Literatur auch weiterhin sehr wichtig. Die Mitarbeit beim Literarischen Herbst Gstaad habe ich nicht abgegeben, weil es mich nicht mehr interessiert hätte, sondern weil ich älter werde. Ich kann nicht mehr alles. Das ist eine Tatsache. Es gibt jüngere Menschen, die das auch können. Und ich möchte nie jemandem im Weg stehen. Ich will nicht zu denen gehören, die den Platz nie räumen. Ich hoffe aber, dass ich weiterhin zusammen mit jungen Menschen oder mit Menschen, die am Schreiben sind, an ihren Texten arbeiten darf. Ein Leben lang war mir literarische Nachwuchsförderung wichtig und ich habe in diesem Bereich einiges entwickelt. In Graz bin ich zum Beispiel immer noch in einer Literaturwerkstatt engagiert, bei der junge Menschen sich mit einem Projekt bewerben können. Vier werden dann ausgewählt und können eine Woche lang an ihren Texten arbeiten. Das finde ich etwas unglaublich Spannendes. Es ist eine wunderbare Möglichkeit zu erfahren, was diese jungen Menschen im Leben beschäftigt. Was bringt sie dazu, einen solchen Aufwand zu betreiben, monatelang zu schreiben und das Geschriebene zur Diskussion zu stellen? Dass sie mir vertrauen, ist für mich ein grosses Geschenk. So hoffe ich denn, noch eine Zeit lang Menschen in ihrem Schreiben zu begleiten, etwa in Schreibwerkstätten, und sie in Lesegruppen oder an Lesungen für die Literatur, für Bücher und Geschichten zu begeistern.
ZUR PERSON
Liliane Studer machte nach dem Gymnasium eine Ausbildung zur Sozialarbeiterin. In den späten 1970ern war sie beim Aufbau des Berner Frauenhauses mit dabei. Mit 32 begann sie an der Uni Bern Germanistik zu studieren. Nach dem Studium arbeitete Liliane Studer mehr als dreissig Jahre in der Buchbranche und im Verlagswesen. 2015 sagte Matthias Burki, Vizepräsident von Swips, dem Zusammenschluss von rund zwanzig unabhängigen Deutschschweizer Verlagen: «Liliane Studer hätte schon lange einen Preis verdient für ihren selbstlosen Einsatz für die Literatur.»
(FOTO: ROBERT SCHNEITER)