Vom Punktepech verfolgt, doch Aufgeben ist für ihn keine Option
03.10.2024 SportErfolge und Punkte, Unfälle und Verletzungen, Regeneration, Comeback und am Ende eine unglückliche Punktedifferenz: Luc Herrmann ist in den vergangenen Saisons stets minimal gescheitert. Seine junge Karriere gleicht einer Odyssee. Aufgeben? Keine Option, denn das Feuer für ...
Erfolge und Punkte, Unfälle und Verletzungen, Regeneration, Comeback und am Ende eine unglückliche Punktedifferenz: Luc Herrmann ist in den vergangenen Saisons stets minimal gescheitert. Seine junge Karriere gleicht einer Odyssee. Aufgeben? Keine Option, denn das Feuer für den Sport brennt lichterloh in der Brust des Nachwuchssportlers. Ein Treffen.
JOCELYNE PAGE
Ski an Ski – sie reihen sich in der Garage der Herrmanns. Daneben ein Tisch – Skihalter, Wachs, Kantenschleifer, Bürste, Schleifmaschine. Servicemann? «Ich mache meine Skier lieber selbst. Dann weiss ich, wer schuld ist, wenn ich eine schlechte Laufzeit habe», sagt Luc Herrmann augenzwinkernd. Im Kofferraum seines Autos befinden sich grosse Gewichtsscheiben, Rollerblades und sogenannte Freeskates – eine Art Mini-Skateboards, jeweils für einen Fuss, mit denen die Balance trainiert wird. Alles ist an Ort und Stelle, alles bereit, um jede Minute für seinen grossen Traum zu investieren: der Eintritt in den Weltcup.
Denn der 24-jährige Nachwuchsathlet ist bei seiner sportlichen Karriere seit jeher auf sich selbst gestellt. Nicht, dass es dem Skifahrer an Unterstützung von Familie und Freunden fehlt – im Gegenteil. Bisher blieb ihm jedoch der eine Weg verwehrt, der ihm die Erfüllung seines Traums erleichtert hätte: die Aufnahme ins Swissski-Kader.
Nah am Erfolg, doch nie ganz dabei
Wenn er von seinem sportlichen Werdegang erzählt, wirkt seine Geschichte wie eine unglaubliche Odyssee. Ein Wechselbad der Gefühle – Höhen, Tiefen, Erfolge und Rückschläge – doch das Happy End bleibt vorerst aus. Interessant ist, dass die Dramatik rein auf den Ereignissen basiert, nicht auf seiner Erzählweise. Er beschreibt alles ruhig, bodenständig und mit einem klaren Realitätssinn. «Ich befinde mich in der neunten FIS-Saison und merke nun, wie gut mein Vater war, denn er fuhr mit 18 Jahren Weltcuprennen», erzählt er anerkennend.
Im Winter 2021/2022 schafft Luc Herrmann den Sprung unter die Top- 125 der Slalomfahrer weltweit. Er fühlt sich gut. Er spürt, dass er den richtigen Weg eingeschlagen hat. Bisher wurde er in keinem Swissski-Kader aufgenommen, da er im Minimum zwei Disziplinen abdecken musste. «Die ersten fünf Saisons habe ich auch noch Riesenslalom abgedeckt, aber mit meinen 1,96 Metern war es nicht immer so einfach und es hat mir auch nicht so viel Spass bereitet. Ich wollte mich somit vollkommen auf den Slalom konzentrieren», erklärt der Skirennfahrer. Nun ist er aber älter, weshalb eine Disziplin reicht, er muss jedoch unter die Top-80 fahren, um sich fürs Kader zu qualifizieren.
Eine neue Saison startet, der Winter 2022/2023 steht vor der Tür. Nach einem starken Start bricht er sich bei einem Europacuprennen die Hand – drei Mittelhandknochen sind betroffen, eine Operation ist nötig. Sechs Wochen später steht er wieder am Start, kämpft sich zurück, stürzt aber während eines Trainings für ein Europacuprennen im finnischen Levi und zieht sich eine tiefe Schnittwunde am Oberschenkel zu.
Saisonende? Weit gefehlt! Nach vier Wochen ist er wieder zurück auf dem Schnee. «Die Elite-Schweizermeisterschaft wurde glücklicherweise nach hinten verschoben und ich hatte keine Schmerzen mehr. Ich hatte nichts mehr zu verlieren, weshalb ich volle fünf Tage trainierte und direkt an den Start ging», erinnert sich Herrmann. Und es läuft fantastisch: Er wird Dritter und erzielt mit 21 FIS-Punkten sein bisher bestes Resultat. Die Motivation ist hoch, weshalb er an die belgischen Meisterschaften in Val d’Isère reist. Start, Schwung, Tor um Tor – und am Ende hängt Silber um seinen Hals. Die bittere Pille: Er verpasst den ersten Rang um gerade mal fünf Zehntel und nur drei Zehntel, um unter die Top-80 zu gelangen und damit ins Swissski-Kader. Es werden die Top- 100. Dies nach all den Tiefen und Comebacks. Ein harter Rückschlag. Und als hätte dies nicht gereicht: Swissski lockert die Bestimmungen für den einen Jahrgang unter ihm auf die Top-100. «Das hat mich schon getroffen. Ich hatte gehofft, dass sie ein Auge zudrücken würden, denn ich war trotzdem höher in der Weltrangliste als manch anderer Swissski-Athlet», sagt Herrmann.
Es ist eine kurze Zusammenfassung, die nicht annähernd beschreibt, welche emotionale Achterbahnfahrt Herrmann erlebt haben muss. Doch Aufgeben ist für ihn keine Option. «Mein Ziel bleibt bestehen, ich will in den Weltcup.»
Unter Gleichgesinnten
Seit der Schweizer Meisterschaft hat sich allerdings eine glückliche Fügung ergeben: Nachdem ihm sein Nachbar und ehemaliger Skitrainer Willy Aellen bei den Trainings geholfen hatte, vermittelte er Herrmann zur WRA: die World Racing Academy. Es handelt sich um ein professionelles Skirennteam, das Athleten aus kleinen Nationen oder Athleten wie Herrmann, die in keinem Kader aufgenommen wurden, unterstützt, um ihnen eine faire Chance an Weltcup- oder Europacup-Rennen zu bieten. Sie organisieren professionelle Trainingscamps und begleiten die Mitglieder an Rennen, damit sie nicht auf sich allein gestellt sind. Japan, Australien, Deutschland, Italien, USA, Kanada – Herrmanns Teamkollegen sind international. «Allerlei Kulturen prallen aufeinander», erzählt er lachend. «Während Rennen oder Trainingslager mieten wir jeweils eine grosse Unterkunft. Wir kochen zusammen und haben eine gute Zeit, es ist wirklich cool.»
Alles auf eigene Faust
Trotzdem: Sollte ihm der Sprung ins Swissski-Kader doch noch gelingen, fiele eine grosse Last von seinen Schultern: Trainings, Reisen, Logis und Betreuung wären finanziert. Momentan trägt Herrmann alle Kosten selbst und wird von Privatsponsoren grosszügig unterstützt. «Ich bin immer auf der Suche nach neuen Sponsoren, denn der finanzielle Druck ist und bleibt hoch. Ohne ihre Hilfe wäre es nicht machbar, den Spitzensport auszuüben», sagt er dankbar. Flüge, Hotels, Reisen und Vorbereitung: Bis zum Eintritt in die WRA hatte er vieles selbst organisiert, bei den Trainings wurde er allerdings grosszügig und tatkräftig vom Trainerstab des Berner Oberländischen Skiverbands BOSV unterstützt.
Startplätze erhält er nur bei guten Ergebnissen, ansonsten gehen sie an die Kadermitglieder. «Der Druck ist konstant hoch, da ich immer abliefern muss. Solange ich schneller fahre als die Swissski-Athleten, erhalte ich einen Startplatz, dies war zum Glück oft der Fall. Das System ist daher fair, denn sie könnten die Plätze ja auch ausschliesslich an ihre eigenen Athleten vergeben, wie es in manch anderen Rennnationen gehandhabt wird», sagt Herrmann.
Lernen von den Grossen – im wahrsten
Sinne
In den ersten sieben Jahren konnte er mit dem BOSV trainieren, ab der vierten Saison fuhr er bereits Europacup. Insbesondere im Konditionsbereich fing er an, alleine intensiver zu trainieren und holte sich Unterstützung von Didier Plaschy, heutiger SRF-Sportexperte und ehemaliger Trainer von Ramon Zenhäusern. Von den Erfahrungen mit dem 2,02 Meter grossen Skistar profitierte Herrmann, denn Plaschy wusste, worauf grosse Slalomfahrer achten müssen: Balance, Beweglichkeit und eine äusserst starke Mitte. «Unsere Hebelwirkung ist viel grösser als bei kleineren Athleten. Dies hat den Nachteil, dass sich kleine Verschiebungen negativ auswirken können. Es hat aber auch den Vorteil, dass wir im flachen Gelände viel mehr Schub geben können. Es ist daher zentral, dass wir den Schwerpunkt im Griff haben, um den grössten Nutzen aus unserer Körpergrösse herauszuholen», erklärt der Athlet. So trainiert er nach dem Lehrbuch von Plaschy – unkonventionell mit Freeskates und Longboard.
Neue Saison, neues Glück
Die Tage werden kälter, die Bergspitzen sind bereits schneebedeckt. Der Winter naht. Und damit eine neue Chance für Luc Herrmann. Zurzeit befindet er sich in der Rekrutenschule (RS) in Grolley, wo er die Verbandsausbildung zum Motorfahrer absolviert. Er darf während den regulären Sporteinheiten und sogar tagsüber seinem eigenen Training nachgehen, da er ein qualifizierter Sportathlet ist, dies aufgrund seines Europacupniveaus. So genehmigte ihm das Militär bereits mehrere Tage für Trainings auf dem Schnee. Demnächst reist er mit dem WRA-Team nach Wittenburg (DE) in die Skihalle. «Ich mag die Halle. Der Schnee ist schön eisig und ich kann viele Tore fahren», erklärt Herrmann. Danach geht es für weitere Vorbereitungen ins Schnalstal im Südtirol. Die Vorfreude bei ihm ist sichtbar, er lächelt, wenn er vom Skifahren spricht. «Es fühlt sich wie fliegen an, es ist einfach unbeschreiblich.»
Im November endet das Militär, am gleichen Tag reist er nach Levi: Training, Europacuprennen und Rennen im North American Continental Cup folgen. Für Herrmann bedeutet dies: neue Saison, neues Glück.