Martin Nydegger: «Gstaad ist für mich eine Alpenoase»
21.03.2023 InterviewMartin Nydegger, Direktor von Schweiz Tourismus, war zu Besuch im Saanenland. Neben dem Informations- und Gedankenaustausch mit Gstaad Saanenland Tourismus und Direktor Flurin Riedi hat er sich die Zeit genommen, um mit uns über die grossen Themen wie Klima, Standortförderung ...
Martin Nydegger, Direktor von Schweiz Tourismus, war zu Besuch im Saanenland. Neben dem Informations- und Gedankenaustausch mit Gstaad Saanenland Tourismus und Direktor Flurin Riedi hat er sich die Zeit genommen, um mit uns über die grossen Themen wie Klima, Standortförderung und Aufgabenportfolio des Tourismus zu sprechen. Und er verriet uns, wie er die Destination Gstaad sieht.
JOCELYNE PAGE
Pandemie, Klimawandel, Krieg, Energiekrise, Inflation: Es scheint, als würde sich Herausforderung an Herausforderung reihen. Kann der Tourismus von früher auch der Tourismus von morgen sein?
Der Tourismus von gestern wird nie der Tourismus von morgen sein, und das ist auch gut so. Wir trauern nie der Vergangenheit hinterher, sondern schauen immer nach vorne. Es ist auch nicht die Idee, dass wir wieder zurück ins 2019 katapultiert werden. Vielmehr dienen diese Jahre als Ankerpunkt, um Vergleiche zu ziehen. Grundsätzlich gilt: Geschieht irgendetwas auf der Weltkugel, trifft es die Tourismusbranche als erste, und dies sehr intensiv und mit einer starken Abwärtsbewegung.
Und das ist ein Vorteil?
Ja, denn dadurch ist unsere Branche resilient und sehr widerstandsfähig geworden. Durch die ständigen Attacken sind wir fit für Krisen. Zudem haben wir uns Jahr für Jahr weiterentwickelt, beispielsweise in der Digitalisierung: Es gibt keine Branche, die so früh auf digitale Lösungen gesetzt hat wie wir. Seit langem bieten wir Online-Buchungsplattformen an und nutzen digitale Kommunikationsmittel.
Was muss eine Tourismusdestination heute bieten, um in der Zukunft zu bestehen?
Eine Destination muss in ganz vielen Disziplinen fit sein. Sie muss sicherstellen, dass sich die Region weiterentwickelt, innovativ und modern bleibt und vorankommt. Das Wort «modern» steht überhaupt nicht im Widerspruch zur Authentizität. Denn die Art und Weise, wie etwas kommuniziert wird, muss zeitgemäss sein, indem man beispielsweise digitale Kommunikationswege nutzt und ein gutes Erlebnissetting anbietet. Zudem ist es wichtig, dass eine Destination in seinen Marketingstrategien auf dem neuesten Stand ist. Des Weiteren ist ein diversifizierter Märktemix gesund und wichtig, um das Klumpenrisiko zu minimieren. Steht beispielsweise der Euro unter Beschuss, kann man auf andere Währungen ausweichen.
Und wohin muss sich eine Tourismusdestination entwickeln, um die klimatischen Herausforderungen zu meistern?
Aufgrund der Aktualität dieses Winters, der relativ schneearm war, scheint es naheliegend, diese Saison tot zu reden. Das ist aber aus meiner Sicht falsch. Wir werden noch ganz viele tolle Winter erleben. Klar ist: Die Wintersaisons werden kompakter und kürzer. Es kann nicht sein, dass wir uns in die Suppe spucken lassen und uns anhören müssen, dass wir alleine schuld an der ganzen Klimakrise sein sollen. Fakt ist, dass die Energiegewinnung und die Heizungen für 60 bis 70 Prozent des gesamten CO2-Ausstosses verantwortlich sind, der Zement- und Stahlbau produziert 20 Prozent der Emissionen. Der Tourismus hingegen trägt mit seinen internationalen Flügen drei Prozent zur Bilanz bei. Klar, drei Prozent sind zu viel, trotzdem muss man eine Verhältnismässigkeit wahren. Die Branche strengt sich an, mit innovativen Lösungen klimaneutraler zu werden, so nutzt die Fluggesellschaft Swiss beispielsweise SAF (Sustainable Aviation Fuel). Solange der Tourismus besteht, haben wir auch Mobilität, weil man nicht dort Ferien macht, wo man wohnt. Und diese Situation müssen wir analysieren und uns entsprechend weiterentwickeln. Denn als Touristiker haben wir zwei Hebel, um den Tourismus nachhaltiger zu gestalten.
Die wären?
Die Fernmärkte und die Geschehnisse vor Ort. Die Schweiz besitzt einen Fernmarktanteil von 20 Prozent. Daraus zehn zu machen, wäre nicht zielführend. Denn die Fernmärkte gehören zu einem gesunden Märktemix, weil diese Gäste immer kommen, bei jedem Wetter und in jeder Saison. Das gibt uns eine gewisse Planungssicherheit. Wir können die Gäste aber dazu animieren, länger bei uns zu bleiben, damit sich der internationale Flug auch gelohnt hat. Beim anderen Hebel, den Geschehnissen vor Ort, haben wir «Swisstainable» ins Leben gerufen. Das Nachhaltigkeitsprogramm steht allen Betrieben und Organisationen des Schweizer Tourismus offen: Betrieben, die bereits eine umfassende Nachhaltigkeitszertifizierung aufweisen und auch Betrieben, die sich auf den Weg in eine nachhaltigere Entwicklung begeben möchten. In Gstaad gibt es bereits 20 «Swisstainable»-Betriebe, das ist eine beeindruckende Anzahl. Aber es reicht noch nicht, um eine Wende einzuläuten, da geht noch mehr. Diese Aktionen sind unsere Antwort auf den Klimawandel, um einen nachhaltigeren Tourismus zu erreichen.
Sich mit einer derartigen Nachhaltigkeitsstrategie für die Umwelt einzusetzen, muss doch Stolz hervorrufen, oder? Denn am Ende schützen Sie ihr wichtigstes Produkt: die Natur mit ihren Bergen, ihren Landschaften und ihren Gewässern.
Absolut richtig. Seit der Gründung vor 107 Jahren führt Schweiz Tourismus Umfragen durch und die Antwort, weshalb die Touristen in und durch unser Land reisen, ist immer die gleiche: Landschaft, Natur, Berge. Deshalb müssen wir zu unserem Land Sorge tragen und es schützen. Das nachhaltige Wertesystem müssen wir uns aber nicht neu aneignen, denn wir tragen es in unserer DNA. Ich sitze als Vizepräsident in der European Travel Commission, wo ich oft das Feedback erhalte, eines der fortschrittlichsten Länder punkto Nachhaltigkeit repräsentieren zu dürfen. So sind wir beispielsweise eine Nation, welche ein ausgedehntes öffentliches Verkehrsnetz hat, welche seit langem ein Recycelsystem besitzt und welche auch anständige Löhne bezahlt. Denn auch die soziale Verantwortung ist ein wichtiger Aspekt in der Nachhaltigkeitsstrategie. Eine Person, die im Schweizer Tourismus arbeitet, kann sich ein gutes Leben ermöglichen. Denn wir zielen auch auf einen Ganzjahrestourismus ab, der Ganzjahresstellen hervorbringt. In Ländern wie Portugal und Spanien lebt es sich als Touristiker wegen der einseitigen Saisonalität nicht so leicht.
Themawechsel: Standortförderung – wie denken Sie darüber? Braucht es Ihrer Meinung nach eine Standortförderung in Bezug auf den Tourismus?
Wenn die Teilaufgaben oder Branchen, die dadurch vereint werden, auch organisch zusammenpassen, dann ja. Es gibt in der Schweiz Regionen, in denen Branchen zusammengeführt werden, die nichts miteinander zu tun haben. Die Gefahr besteht, dass die Marke verwässert wird. Und oftmals erhalten die Tourismusorganisationen Aufgaben, die sie zwar wahrnehmen können und auch die Kompetenzen dafür haben, doch die Ressourcen werden nicht zur Verfügung gestellt. Deshalb bin ich für eine touristische Standortförderung, wenn die Tourismusorganisationen bei ihren Kernaufgaben bleiben können und solide finanziert werden.
Wo kann eine Tourismusorganisation die Linie ziehen?
Vermutlich gibt es keine Linie, sondern es ist eher ein Korridor. Die Tourismusorganisationen tun gut daran, gemeinsam mit den regionalen Akteuren eine Destinationsstrategie auszuarbeiten, innerhalb der die Verantwortlichkeiten und Aufgaben geklärt werden. Zudem muss in der Strategie festgesetzt sein, wo sich die Destination positionieren, welche Zielgruppen sie ansprechen und welche Marke sie sein will. Schnell wird sich herauskristallisieren: In die Zuständigkeit der Tourismusorganisation fallen die Destinations-, Produktund Angebotsentwicklung, die Anlässe, die touristische Infrastruktur, das Destinationsmarketing und die Kommunikation. Das ist ein vielfältiges Aufgabenportfolio, welches immer aufwendiger wird. Wenn wir Gstaad Saanenland als Beispiel nehmen, hat die Destination zwar den Vorteil einer Region, die zahlungswillige Gäste anzieht. Allerdings gibt es nicht viele Leute, die diesen Preis bezahlen können oder wollen. Der Tourismus muss deshalb präziser und damit aufwendiger die Gäste anwerben, als es die «günstige» Konkurrenz kann.
Sie haben das Destinationsmarketing erwähnt. Was sind die Kernelemente eines guten Marketings für die Region?
Damit ein Destinationsmarketing eine Zielrichtung hat, braucht sie die erwähnte Destinationsstrategie. Darin werden die Zielgruppen, die Positionierung und die Destinationsentwicklung festgelegt. Und am Ende muss die Kommunikation stimmen. Denn man kann nicht davon ausgehen, dass die Leute von alleine kommen, wenn man ein super Produkt hat, das ist ein Trugschluss. Das bemerke ich immer wieder: Die Schweiz ist das schönste Land, das ist Fakt (schmunzelt). Leider haben das noch nicht alle Leute auf dem Globus geschnallt und deshalb müssen wir es lautstark kommunizieren. Und diese Aufgabe müssen wir permanent wahrnehmen und niemals damit aufhören.
Gibt es Akteure, die dem Tourismus bei seinen Aufgaben behilflich sein können, beispielsweise aus der Wirtschaft und der Politik?
Wir können uns alle gegenseitig helfen, indem wir zusammenarbeiten und nicht jeder für sich schaut. In der Öffentlichkeit wird immer wieder die Frage aufgeworfen, wie viel Tourismus eine Region überhaupt braucht. Und die Antwort wird anders ausfallen, wenn die Frage ein Hotelier oder ein Einheimischer beantwortet, der in seinem privaten und beruflichen Umfeld keine touristischen Berührungspunkte hat. Dabei ist wichtig, dass man den Tourismus als Volkswirtschaft begreift. Darin versteckt sich das Wort «Wirtschaft» und die ist liberal. Ich rate deshalb ab, Rahmenbedingungen ja nicht zu eng zu fassen und alles kontrollieren zu wollen.
Haben Sie in den vergangenen Jahren eine Veränderung bei den Tourismusorganisationen in der Schweiz bemerkt, besonders im Vergleich zum Ausland?
Meine ausländischen Kollegen loben stets unsere Einheit. Das ist tatsächlich eine Stärke von uns: Sobald wir im Ausland auftreten, schliessen sich die touristischen Reihen. Da heisst es: Nun holen wir gemeinsam die Leute in unser Land, erst danach lassen wir einen gesunden Wettbewerb walten. Schauen wir beispielsweise zum Nachbarland Österreich, herrscht eine andere Stimmung: Die Regionen und Destinationen bekämpfen sich fast gegenseitig. Unsere Einstellung ist gesünder: Anstatt mit 1000 verschiedenen Minipfeilen auf die Gäste zu zielen, vereinen wir uns und richten nur einen grossen Pfeil auf die Märkte.
Hat die Schweiz auch Schwächen?
Natürlich nicht! (lacht) Manchmal wollen wir zu viel. Es braucht eine gewisse Selbstdisziplin, als Tourismusorganisation auch mal Nein sagen zu können.
Hand aufs Herz: Wo sehen Sie die Stärken der Destination Gstaad? Wie nehmen Sie unsere Destination von aussen war?
Wenn wir die urbane Schweiz und das Tessin ausklammern, haben wir in unserem Land einen ländlichen, hügligen Bereich wie das Emmental und hochalpine Regionen wie das Wallis, Graubünden und die Jungfrauregion. Und dann haben wir das Saanenland, welches eine liebliche Landschaft mit einem wunderschönen Bergpanorama bildet. Furchterregende Bergketten gibt es nicht, die einen Gast überfordern könnten. Die Landschaft ist zugänglicher. Für mich ist Gstaad deshalb eine Alpenoase, wo ich Erholung und Ruhe finde und mich wohlfühle. Und solche Regionen sind in der Schweiz eine grosse Seltenheit.
Hat Gstaad auch Schwächen?
Die gibt es bestimmt, ich habe sie einfach noch nicht entdeckt (lacht). Mir ist aufgefallen, dass der Aufgabenbereich von Gstaad Saanenland Tourismus wächst und wächst. Dabei ist Vorsicht geboten: Damit GST diesen Auftrag wahrnehmen kann, müssen die notwendigen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden, um die Qualität sicherzustellen.
Oftmals wird Gstaad mit Zermatt und St. Moritz verglichen. Wie sehen Sie das?
Das ist doch eine Ehre, oder nicht? Die Schweiz hat ein paar Leuchtturmdestinationen und in der Tat spricht man dabei beispielsweise von Zermatt, Verbier, Grindelwald und im selben Atemzug eben auch von Gstaad. Und das finde ich stark, darauf kann die Region stolz sein. Es ist sicher nicht falsch, sich stets mit den Besten zu messen.
ZUR PERSON
Seit 2018 ist Martin Nydegger Direktor von Schweiz Tourismus. Nach einer Lehre als Landmaschinenmechaniker absolvierte er die Ausbildung zum diplomierten Tourismusfachmann und Weiterbildung mit MBA. Er begann seine Tätigkeit bei Schweiz Tourismus in Amsterdam und war später Verantwortlicher der Unternehmensentwicklung. Dabei entwickelte er mit seinem Team das Konzept der «Grand Tour of Switzerland», der 1643 Kilometer langen Route durch die schönsten Landschaften der Schweiz. Heute ist er Chef von rund 280 Mitarbeitenden in 26 Ländern und einem Jahresbudget von 90 Millionen Franken. Er ist Vater eines 16-jährigen Sohnes und lebt und arbeitet in Zürich.
RIEDI: «WIR SCHÄTZEN ES SEHR, DASS DER CHEF PERSÖNLICH VORBEISCHAUT UND INTERESSE ZEIGT»
Flurin Riedi, Direktor von Gstaad Saanenland Tourismus, freute sich über den Besuch von Martin Nydegger. «Wir kennen uns sehr gut, da wir schon viele Jahre in der gleichen Branche arbeiten», erzählt er. Es sei ein «ehrenvoller Besuch» für sein Team gewesen. «Er hat sich bei uns erkundigt, wie wir organisiert und aufgestellt sind und welche Aufgabenbereiche wir wahrnehmen.» Dabei habe GST das Kompliment erhalten, eine fortschrittliche Tourismusorganisation zu sein. «Wir haben den Veränderungsprozess früh eingeleitet und haben dadurch unseren Aufgabenbereich vom reinen Marketing hin zu einer Destinationsentwicklung ausgeweitet», schätzt Riedi ein. Da Schweiz Tourismus und GST durch die Kooperationsverträge und Kampagnen mehrere Berührungspunkte hätten, habe er den persönlichen Austausch über zukünftige Strategien und Ausrichtungen sehr geschätzt. «Wir schätzen es sehr, dass der Chef persönlich vorbeischaut und Interesse zeigt. » Die Entdeckungstour von Nydegger ging allerdings noch weiter, so besuchte er unter anderem Leistungsträger wie das Hotel Hornberg in Saanenmöser und das Gstaad Palace.