Von Kühen, Sport und gleichgeschlechtlichen Ehen
28.11.2024 GstaadAntibiotikaresistenz bei Milchkühen, das Thema «Ehe für alle» in der Simmental Zeitung und Talentförderung von Leistungssportlern am hiesigen Gymnasium? Voller Spannung habe ich mir bei der diesjährigen Präsentation der Maturaarbeiten drei Themen mit ...
Antibiotikaresistenz bei Milchkühen, das Thema «Ehe für alle» in der Simmental Zeitung und Talentförderung von Leistungssportlern am hiesigen Gymnasium? Voller Spannung habe ich mir bei der diesjährigen Präsentation der Maturaarbeiten drei Themen mit Regionalbezug angehört – und dabei viel Interessantes und auch Amüsantes erfahren.
SONJA WOLF
Absolut beeindruckend war sie wieder, die Themenvielfalt. Die 18 Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums Interlaken/Abteilung Gstaad hatten ganze Arbeit geleistet. Was nun? Welche Präsentationen könnte ich anhören? Es gibt – leider – immer drei Vorträge zeitgleich, als Zuhörer:in hat man also die Qual der Wahl... Sollte ich mich weiterbilden in Musik mit Milena Mattis Präsentation über das absolute Musikgehör? Oder Elin Bürkis Vortrag anhören über den finnischen Bürgerkrieg 1918 und die historische Aufarbeitung des Todes von Taavetti Hakala? «Der Einfluss des intestinalen Mikrobioms auf die Knochendichte» von Alina Hauswirth hätte mich auch interessiert. Oder höre ich mir den «Schlaf-Wach-Rhythmus als Gradmesser für die sportliche Leistung» von Silas Däpp an?
Als Journalistin einer Regionalzeitung habe ich mich dann aber doch ganz standesgemäss für drei spannende Themen mit Regionalbezug entschieden.
SIND UNSERE MILCHKÜHE ANTIBIOTIKA RESISTENT?
Da war zum Beispiel Ronja Dreyer. Seit ihrer Kindheit interessiert sie sich für Tiere und Tiermedizin. «Meine Eltern ‹buure› selbst zwar nicht, aber Onkel und Tante», sagt sie mir nach der Präsentation. Auch ihr 21-jähriger Bruder habe seit zwei Jahren einen Hof mit acht Milchkühen. Tiermedizin möchte sie gern studieren und Tierärztin werden. Und so erklärte sie in ihrer Maturaarbeitpräsentation zur Antibiotikaresistenz bei Milchkühen auch komplizierte biologisch-medizinische Zusammenhänge.
Sie fragte sich, ob die strengeren Gesetze, die in den letzten Jahren hinsichtlich der Antibiotikaverschreibungen erlassen wurden, gerechtfertigt seien. Und: Wie hat sich die Antibiotikaresistenz in den letzten Jahren überhaupt entwickelt? Zur Eingrenzung der sehr breiten Thematik hat sie sich auf Bakterien konzentriert, die für Euterentzündungen und schlechte Milch verantwortlich sind und hat ganz empirisch Tierärzt:innen und Landwirt:innen zu ihren Antibiotikagewohnheiten befragt.
Dabei herausgekommen sind spannende Ergebnisse. Die gute Nachricht ist schon einmal, dass in der Milchwirtschaft bisher kaum resistente Bakterien bekannt sind. Der Stein des Anstosses war nach ihren Recherchen allerdings folgender: Die befragten Landwirt:innen setzen Antibiotika bei Euterentzündungen ein und gerne auch prophylaktisch fürs Trockenstellen der Milchkuh. Denn aus Erfahrung wissen sie, dass die Trockenstehzeit eine heikle Phase ist und die Kühe dann besonders anfällig für Mastitiden sind. Durch die neue Gesetzgebung dürfen Landwirt:innen die Kühe allerdings nur noch nach Untersuchung einer Milchprobe mit Antibiotika trockenstellen. Liegt der Befund in der Milchprobe unter einem bestimmten Schwellenwert, gibt es in vielen Fällen kein Antibiotikum. «Nur beim Thema Trockenstellen kommt es also zu Meinungsverschiedenheiten zwischen den Antibiotika befürwortenden Landwirt:innen und den Tierärzt:innen, welche eine prophylaktische Antibiotikagabe nicht notwendig finden», hält Ronja Dreyer als eines ihrer Ergebnisse fest.
WIE FAND DIE EHE FÜR ALLE EINGANG IN DIE REGIONALE PRESSE?
Mit ihrem Vortrag über die Einführung der Ehe für alle in der Schweiz nahm Alina Schwander ihr Publikum mit in die jüngeren politischen Ereignisse. «Ich habe damals – 2021 – überall Plakate zum Thema gesehen, als das Referendum ergriffen wurde, und war erschrocken, dass es in der Schweiz immer noch nicht möglich sein sollte, dass gleichgeschlechtliche Paare heiraten», begründete sie ihre Themenwahl auf eine Frage aus dem Publikum. Aber zunächst rief sie den Anwesenden die Ergebnisse von der Volksabstimmung vom September 2021 in Erinnerung, als sich die Bevölkerung schweizweit mit 64,1 Prozent für die Ehe für alle aussprach. Auch in der städtisch geprägten Thuner Region überwogen die Ja-Stimmen. Die eher ländlich geprägten Gemeinden des Simmentals sprachen sich allerdings allesamt dagegen aus. Wie kam die Bevölkerung zu diesen Ergebnissen? In sechs Leserbriefen aus der «Simmental Zeitung» und zwölf Leserbriefen aus dem «Thuner Tagblatt» untersuchte die Lenker Schülerin, ob sich darin Abstimmungsprognosen oder Abstimmungsparolen bestimmter Parteien widerspiegelten.
Überrascht war Alina Schwander darüber, dass sich im SVP-dominierten Simmental die Pro- und Kontra-Lesermeinungen die Waage hielten, während im «Thuner Tagblatt» fast nur Leserbriefe gegen die Ehe für alle vorzufinden waren. Dies könnte laut Schwander darauf zurückzuführen sein, dass es im «Thuner Tagblatt» auch allgemeininformative und Pro-Artikel zur Thematik gab, auf deren überzeugende Argumentation die Pro-Leserschaft gesetzt habe. Die vielen Kontra-Leserbriefe könnten hingegen eine Reaktion auf die vorherrschende Ja-Abstimmungsprognose in der eher liberalen Thuner Region gewesen sein. Gemeinsam war beiden Zeitungen, dass die Kontra-Leserbriefe die Abstimmungsparolen der konservativen Parteien wiedergaben. Zum Teil wurden laut Schwanders Untersuchungen deren Argumentationen sogar fast wortwörtlich übernommen.
Nach ihrem Vortrag kam die Frage vom Erstbetreuer, wie sie es finde, dass sich immer mehr junge Leute nur noch aus sozialen Medien informierten. Dazu die junge Frau ohne zu zögern: «Der Algorithmus in den sozialen Medien ist sehr problematisch. Man ‹likt› einmal etwas, ohne gross zu überlegen, wird dann direkt in eine Richtung geschleudert und bekommt nur noch einseitigen Content angeboten. Das ist bei der Berichterstattung in Zeitungen nicht so. Dort hat man die Möglichkeit, beide Seiten zu lesen.»
Alina Schwander ist nun jedenfalls politisch-gesellschaftlich auf den Geschmack gekommen: Sie möchte Betriebswirtschaft mit Nebenfach Politikwissenschaften studieren.
Die TALENTFÖRDERUNG AM GYMNASIUM INTERLAKEN AUF DEM PRÜFSTAND
Als «Rohdiamant im Leistungssport» stellte Erstbetreuer Christoph Däpp einleitend Fabienne Wenger vor. Warum das? «Wahrscheinlich, weil ich die einzige an der Schule bin, die im B-Kader fährt», sagt die junge Skifahrerin nach geschafftem Vortrag lachend auf Anfrage. Allerdings geht sie im Moment an Krücken – Kreuzbandriss! Die aktuelle Saison ist also für sie leider schon gelaufen. Umso mehr könne sie sich also auf die Schule konzentrieren. Die Zufriedenheit mit ihrem Gymnasium Interlaken, das eine Talentförderung für Leistungssportler anbietet, sei sowieso sehr gross, und nicht nur bei ihr. Um alle Vor- und Nachteile der Talentförderung an ihrer Schule zu untersuchen, hat Fabienne Wenger 21 aktuelle und 14 ehemalige Schüler befragt, die alle wie sie im Schneesport unterwegs sind. Auch Schulleiter Christoph Däpp, Roger Kropf als Schulleiter des Gymnasiums Interlaken und Annina Schlapbach, Schulkoordinatorin des Berner Oberländischen Skiverbands, wurden befragt.
Ein wichtiges Ergebnis ihrer Recherchen sei schon einmal, dass ausnahmslos alle befragten Sportler:innen das Gymnasium Interlaken noch einmal besuchen würden. Sie finden es positiv, dass die Schule kein betreutes Internat ist. Zudem werden die Schüler:innen nicht in Sportklassen, wie in vielen anderen Sportschulen, unterrichtet, sondern in Regelklassen mit «normalen» Schülerinnen und Schülern. Dies empfinden einige als wohltuend, allerdings könnte dieses System für ambitionierte Sportlerinnen und Sportler weniger attraktiv sein. Auch ermöglicht das Gymnasium Interlaken als öffentliche Schule eine weniger spezialisierte Förderung von Sportlerinnen und Sportlern als halbprivate oder private Sportschulen. Auf der anderen Seite fällt dadurch natürlich auch das hohe Schulgeld einer Privatschule weg. Als sehr positiv wurde von allen Befragten die unkomplizierte und flexible Art angesehen: «Man hat die Freiheit, Prüfungen in einem Lager nachzuschreiben oder Dispensationen sehr kurzfristig zu beantragen», gibt die junge Leistungssportlerin als Beispiele. «Grosser Nachteil aber des Standorts Gstaad: der Kraftraum!», sagt Fabienne Wenger mit einem vielsagenden Augenaufschlag. An mehreren Stellen des Vortrags kommen die Unzulänglichkeiten des Kraftraums zur Sprache – zu klein und nicht alle wichtigen Geräte wie zum Beispiel die Beinpresse vorhanden – und werden jedes Mal von einem süffisant wissenden Lächeln aller beteiligter Personen im Raum begleitet. Nun, vielleicht werden sich die Verbesserungsvorschläge der jungen Athletin aus ihrer Maturapräsentation einst realisieren lassen.
Hinter den Kulissen: So entsteht eine Maturaarbeit
Was passiert, wenn ein:e Schüler:in ein gar zu exotisches Thema wählt? Wie lange haben die angehenden Maturanden eigentlich Zeit mit dem Schreiben? Und können sie ihre betreuende Lehrperson frei wählen? Schulleiter Christoph Däpp gibt Einblicke, was alles nötig ist, bis das grosse Abschlusswerk wirklich steht.
Interview: Sonja Wolf
Ich nehme an, die Schüler suchen sich jeweils selbst ihr Thema aus. Fabienne Wenger aber meinte in ihrem Vortrag, sie sei spät dran gewesen und deshalb haben Sie ihr Themen vorgeschlagen. Kommt das häufig vor?
Nein, das kommt nicht häufig vor. Bei Fabienne war es so, weil sie in ihrem ursprünglich gewählten Thema die von ihr angeforderten Daten im Bereich Verletzungen von Skifahrer:innen trotz anders lautender Angaben letztlich doch nicht erhalten hat.
Haben Sie für solche Fälle immer einen Fundus an Ersatzthemen parat?
Ja, es gibt eine Themenliste in fast jedem Schulfach und auch gesamtschulische Themen – wie eben das letztlich von Fabienne gewählte über die Talentförderung. Die Liste enthält über 200 Themen!
Nehmen Sie alle Themen an, die von Schülern vorgeschlagen werden, auch wenn sie sehr exotisch oder zu schwer sind? Oder greifen Sie regulierend ein?
Genau, wir nehmen nicht alle Themen an, sondern erarbeiten mit den Schüler:innen «machbare Themen». Meistens ist das kein Problem, teils geht diese Erarbeitung auch etwas länger.
Haben die Schüler bezüglich der betreuenden Lehrpersonen freie Auswahl?
Ja, die Schüler:innen treten mit den von ihnen gewünschten Lehrpersonen in Kontakt und die jeweilige Lehrperson entscheidet, ob sie annimmt.
Es fällt auf, dass die betreuenden Lehrpersonen teilweise fachlich gar nichts mit dem Thema zu tun haben. Das scheint bei der Wahl der Betreuer also nicht das Kriterium zu sein. Spielt da eher Sympathie eine Rolle?
Da müssten Sie die Schüler:innen fragen… Aus meiner Sicht ist es ein Mix aus allem: Fach, Sympathie, Wissen beziehungsweise Gerüchte über Betreuungsqualität und Strenge bei der Notengebung…
Kann eine Lehrperson so viele Maturanden annehmen wie sie will oder gibt es da auch Limits?
Es gibt keine Limits… In Gstaad lag jedoch das Limit einmal bei sechs Maturaarbeiten, weil es nicht mehr als sechs Slots an Präsentationen gegeben hat. Jede Lehrperson legt das Limit für sich selber fest, am Schluss muss einfach jede:r Schüler:in zwei betreuende Lehrpersonen haben.
Wann bekommen die Schüler die erste Einführung zur Vorgehensweise?
Die GYM3 hat gerade letzte Woche die Einführung gehabt – also ein Jahr vor der Präsentation.
Wann muss das Thema stehen?
Die sogenannte Projektvereinbarung – also wenn das Thema und die Erstbetreuung festgelegt ist – muss spätestens nach den Frühlingsferien stehen. Danach hat jede:r genau 14 Wochen Zeit bis zur Abgabe der Erstfassung, nach einer Korrektur dann nochmals genau fünf Wochen bis zur Abgabe der Endfassung.
Nach welchen Kriterien bewerten Sie die Maturaarbeiten?
Die Schulleitung stellt Vorlagen zur Verfügung, die den Richtlinien zur Maturaarbeit nachkommen. Die Lehrpersonen können die einzelnen Kriterien dann noch an die jeweilige Arbeit anpassen. Die Kriterien werden den Schüler:innen jeweils zu Beginn kommuniziert, bei mir haben sie sogar die Möglichkeit, diese Kriterien zu diskutieren und falls angezeigt, anzupassen.
Ronja hatte letztendlich ja nur sechs Retouren von Landwirt:innen und Alina hat sich bei ihrer Analyse der Ehe für alle auf sechs Leserbriefe in der Simmentalzeitung gestützt. Das sind wissenschaftlich gesehen ja keine grossen Datenbasen, um tatsächlich Trends auszumachen oder allgemeingültige Aussagen zu treffen…
Meist können von den Maturaarbeiten keine wissenschaftlich verlässlichen Trends oder signifikante Ergebnisse abgeleitet werden. Diese Begriffe sind klar definiert und setzen statistische Verfahren zur Einschätzung der Fehlerwahrscheinlichkeit voraus – das kann in Maturaarbeiten nur selten geleistet werden, da oft zu wenig Daten vorliegen. Bei den Maturaarbeiten handelt es sich um die erste grössere selbstständige wissenschaftliche Arbeit und deshalb liegt der Fokus eher auf den verwendeten Methoden als auf der statistischen Auswertung. Statistik wird meist auch erst an der Uni gelehrt und am Gymnasium im Mathematikunterricht nur gestreift.