Den Philosophen auf der Spur
16.09.2024 GstaadBelesener Philosoph, brillanter Rhetoriker und moderner Stand-up-Comedian: Prof. Dr. Reichenbach gab dem Publikum am Samstag beim Spaziergang auf dem Yehudi-Menuhin-Philosophenweg wertvolle Denkanstösse – und sorgte dabei für manch einen herzhaften Lacher.
...Belesener Philosoph, brillanter Rhetoriker und moderner Stand-up-Comedian: Prof. Dr. Reichenbach gab dem Publikum am Samstag beim Spaziergang auf dem Yehudi-Menuhin-Philosophenweg wertvolle Denkanstösse – und sorgte dabei für manch einen herzhaften Lacher.
SONJA WOLF
«Wenn man einem Philosophen eine Frage stellt, antwortet er sehr lange und hält sich dabei normalerweise an die Drei-Drittel-Regel: Das erste Drittel verstehen alle. Das zweite Drittel nur noch er selber. Und das dritte Drittel auch er nicht mehr. Am Ende ist man also immer noch verwirrt – aber immerhin auf einer höheren Stufe!» Mit dieser Definition versetzte Prof. Dr. Reichenbach das Publikum direkt in die richtige Stimmung. Nun, das mit dem philosophischen Nachmittag konnte ja heiter werden, im wahrsten Sinne des Wortes.
Der Rotary Club Gstaad-Saanenland hatte im Rahmen seines 50-Jahr-Jubiläums zur musikalisch-philosophischen Begehung des Yehudi-Menuhin-Philosophenwegs mit Roland Reichenbach eingeladen. Und das Interesse war gross: Um die 50 Neugierige fanden sich am frühen Samstagnachmittag am Kapälliplatz in Gstaad ein. Nicht wenige waren extra für den speziellen Tag angereist – aus Zürich oder vom Neuenburgersee etwa –, um den amüsant-lehrreichen Ausführungen des Professors zu lauschen. Der übrigens aus Gstaad stammt und trotz seiner weltweiten Forschungsaufenthalte, Professuren und wechselnden Wohnorte in Kalifornien, Montreal, Münster, Basel oder Zürich sich immer noch als Berner Oberländer fühlt, wie er schmunzelnd im Laufe des Spaziergangs erzählt.
Fröhlich plaudernd und nur ein wenig fröstelnd ob der recht frischen Temperaturen lief die Gruppe den Philosophenweg ab und bewunderte die 14 neu gestalteten Tafeln, auf denen nunmehr neben dem Menuhin-Zitat auch ein Zitat eines jeweils anderen Philosophen dieser Welt zu lesen ist (wir haben berichtet). Einige der Zitate hatte sich Roland Reichenbach ausgewählt und kommentierte sie lebhaft sowie mit viel Witz und Charme an den Stationen Sankt-Niklaus-Kapelle in Gstaad, in der Alpenruhe Saanen und eine letzte Portion in der Kirche Sannen (siehe die Auszüge in den Kästen).
Umrahmt wurde das Programm von zwei «Surprise»-Ensembles, wie der Medienverantwortliche von Rotary, Philipp Reber, sie scherzhaft nannte, die sich extra für den Anlass formiert hatten: eine Blechbläserformation bestehend aus Louis Lanz, Philipp und Evelyn Reber sowie ein Cello-Querflöten-Ensemble aus Lukas und Yoshimi Wittermann.
Beim Apéro im etwas wärmeren Landhaus-Saal anstelle des ursprünglich vorgesehenen Sanona-Platzes philosophierte die inzwischen gut zusammengewachsene Gruppe noch bis in den frühen Abend fleissig weiter.
WAS HAT DER ROTARY CLUB GSTAAD-SAANENLAND MIT DEM PHILOSOPHENWEG ZU TUN?
Der Rotary Club feiert in diesem Jahr sein 50-jähriges Jubiläum und bot diesen geführten Spaziergang als Überraschungsnachmittag für die Öffentlichkeit an. Der Yehudi-Menuhin-Philosophenweg seinerseits feiert dieses Jahr sein 25-jähriges Bestehen. Er wurde damals vom Rotary-Mitbegründer Rolf Steiger initiiert und zum 25-Jahr-Clubjubiläum am 25. Juni 1999 eingeweiht. In diesem Sommer wurden die Tafeln des Wegs mit Unterstützung von Rotary erneuert.
SWO
«ES IST LETZTEN ENDES UNSER NICHTWISSEN, DAS UNSER HANDELN BESTIMMT, UND NICHT UNSER WISSEN.»
YEHUDI MEHUHIN
Amüsant leitet Reichenbach seine Reflexionen über Wissen oder Nichtwissen ein. «Erste Prämisse: Wissen ist Macht. Zweite Prämisse: Ich weiss nichts. Conclusio: Macht nichts!» Dann fährt er aber recht ernsthaft weiter über die Frage, welchen Standort das Wissen heutzutage hat. Er zitiert aus verschiedenen Quellen, dass im Jahr 2009 36 Prozent der bis 30-Jährigen angegeben hätten,dass sie niemals traditionelle Medien wie Zeitungen oder TV-Nachrichten konsumieren, sondern nur soziale Medien. Zehn Jahre später 2019 seien es schon 56 Prozent gewesen, also die Mehrheit, «was aus demokratie-theoretischen Gründen zu denken gibt», so Reichenbach. Und vier Fünftel derer, die ihre Informationen nur aus den sozialen Medien haben, glaubten nicht daran, was sie lesen. «Man könnte denken, sie seien kritisch. Aber: Sie möchten auch nicht wissen, wie es wirklich ist. Ich würde sagen: Das ist die klassische Definition von ‹Bullshit›.» Und er verdeutlicht den Begriff mithilfe des gleichnamigen Buches des Philosophen Harry Frankfurt, der zwischen dem «Bullshiter» und dem Lügner unterscheidet. «Der ‹Bullshiter› ist eine prekärere Figur als der Lügner. Warum? – Der Lügner ist mit der Wahrheit wenigstens noch in Kontakt!» Vielen sei heute die Wahrheit einfach schnuppe. Es gebe eine Polarität zwischen denen, die es immer genau wissen, und den Gleichgültigen. «Die Gleichgültigen wirken so offen. Aber wer offen für alles ist, ist nicht ganz dicht, habe ich mal gelesen...», witzelt Reichenbach. «Allerdings gibt es auch Fragen, die wir einfach nicht lösen können, wie es in der Philosophie oft der Fall ist.» In dem Fall findet er es gleichwohl «schön», weiter an der Lösung interessiert zu sein und weiter zu suchen. Wie schon der japanische Wanderdichter Basho sagte: «Suche nicht nach den Spuren der Alten, suche nach dem, was sie gesucht haben.»
SWO
«ICH GLAUBE FEST DARAN, DASS GUTE MUSIK DAS LEBEN VERLÄNGERT.»
YEHUDI MEHUHIN
Zu diesem Zitat sagt Reichenbach entschlossen: «Ich glaube das nicht! Aber ich kann mir vorstellen, dass schlechte Musik das Leben verkürzt (lacht). Stellen Sie sich vor, alle hören gute Musik! Hätten wir dann nicht noch mehr Probleme mit der Finanzierung der AHV?» Worauf er über die Verlängerung des Lebens philosophiert: «Ist es das, was wir uns wirklich wünschen?» Und zum Fazit kommt, dass unser Leben nicht länger, sondern breiter und tiefer werden sollte. «Breit» und «tief» bezieht sich auf das Volumen, auf die Vielfalt unserer Tage. Man müsse diese Vielfalt aber auch sehen und sich bewusst machen. «Die Musik verbreitert und vertieft unser Wahrnehmungsvermögen und vergrössert damit die Fülle unseres Lebens», so erklärt sich Reichenbach also das Zitat auf Tafel 1.
SWO