Mit Musik Dialoge anstossen
07.07.2023 GstaadIn einer Woche startet das 67. Gstaad Menuhin Festival & Academy in den dreijährigen Programmzyklus «Wandel». Christoph Müller, Artistic Director am Gstaad Menuhin Festival & Academy, berichtet im Interview von Rückmeldungen, Wünschen und Haltungen, ...
In einer Woche startet das 67. Gstaad Menuhin Festival & Academy in den dreijährigen Programmzyklus «Wandel». Christoph Müller, Artistic Director am Gstaad Menuhin Festival & Academy, berichtet im Interview von Rückmeldungen, Wünschen und Haltungen, die mit dem neuen Festivalthema verfolgt werden. Aufbruch, Nachdenken und Austausch stehen im Zentrum.
JENNY STERCHI
Christoph Müller, wandelt sich auch das Festival und wenn ja inwiefern?
Auf betrieblicher Seite haben wir unseren Weg angetreten, unser Musikfestival ressourcenschonender und nachhaltiger umsetzen zu können. Das Naheliegendste ist, bei uns selbst anzufangen. Daher versuchen wir in einem ersten Schritt, unsere Geschäftsstelle möglichst klimaneutral zu betreiben. In künstlerischer Hinsicht möchten wir musikalische Annäherungen finden zu Themen, welche unsere Gesellschaft aktuell beschäftigen. Als Veranstalter eines Musikfestivals empfinde ich es als unsere Aufgabe, auf die sich verändernde Welt und die aufwühlenden gesellschaftlichen Themen einzugehen.
Wie haben die Künstlerinnen und Künstler auf das diesjährige Festivalthema reagiert?
Die Konzertreihe «Music for the planet» entstand in enger Zusammenarbeit mit der innovativen und kreativen Patricia Kopatchinskaja. Sie reagierte mit grosser Lust und Energie auf die Fragestellungen rund um die drei Festivalthemen der kommenden drei Ausgaben. Ich stelle im Allgemeinen fest, dass Musikerinnen und Musiker nach der Coronakrise ein viel grösseres Bedürfnis haben, in ihren Konzertprogrammen Bezüge zum Jetzt und Heute herzustellen. Die Überzeugung, dass Musik und Kultur überhaupt einen Beitrag leisten soll und muss, ist bei vielen spürbar, ja greifbar. Einige von ihnen machen auch tolle Projektvorschläge, wobei ich da manchmal auf die Bremse treten muss, weil sich gewisse Ideen und Konzepte im Umfeld unseres Festivals schlicht nicht realisieren lassen.
Gab es schon Fragen an Sie als Veranstalter und in Bezug auf das Festivalthema seitens derer, die bereits Tickets gebucht haben?
Auch seitens des Publikums erfuhren wir diesbezüglich bisher nur Zustimmung. Wir erhielten Briefe von Stammgästen und anderen, die unsere Themenwahl und die Strategie hinsichtlich Nachhaltigkeit begrüssen. Es ist erfreulich, dass auch Diskussionen entstehen und ich bin sehr offen und interessiert, auch während der Festivalzeit daran teilzunehmen. Es ist schön, wenn eine Thematik zum Nachdenken und Diskutieren anregt. Das ist eine der Ideen eines Kulturanlasses und insbesondere eines Festivals, Dialoge anzustossen und diese dürfen durchaus auch kontrovers sein.
Die zeitgemässe Thematik und die greifbareren Inhalte verglichen mit denen vorausgegangener Festivalausgaben sollen und werden wohl die Besuchenden zum Austausch anregen. Welche wäre für Sie die schönste Rückmeldung aus dem Publikum?
Wenn erkannt wird, dass wir einen Anspruch haben, die Besuchenden nicht nur zu unterhalten, sondern sie auch anzuregen, über diese Geisteshaltung der Demut und der kommenden Themen Transformation und Migration nachzudenken.
Das erste Kapitel des Zyklus Wandel widmet sich der Demut. Auf den ersten Blick ist da kein Platz für Leichtigkeit in der Musik. Läuft man mit diesem Thema nicht Gefahr, zu viel schwere Musik im Programm zu haben?
Zuerst möchte ich sagen, dass das Thema «Demut» nichts an Schwere oder Negativem in Bezug auf die Konzerte und Inhalte mit sich trägt. Sprachhistorisch bedeutet Demut «Mut zum Dienen», was ganz unterschiedlich interpretiert werden kann. Schaut man sich die Programme und die Struktur des Angebots an, wird deutlich, dass rund 25 bis 30 Prozent unserer Konzerte «leichte» und «unterhaltende» Elemente und Miteinbezüge anderer Stile und Genres als Klassik haben. Die Konzerte mit grosser Sinfonik oder Meisterwerken des Barocks oder der Klassik sind meistens bekannte Stücke. Sie werden jedoch unter dem Aspekt der Demut neu beleuchtet, wie zum Beispiel die h-Moll-Messe von Johann Sebastian Bach, Haydns Schöpfung oder Mahlers Sinfonie Nr. 2 «Auferstehung». Ich würde mich freuen, wenn die Besuchenden diesen Ansatz der Demut in der Haltung der Komponierenden und der Musik erkennen und daraus vielleicht auch Rückschlüsse auf ihr eigenes Leben ziehen. Dass bei ihnen auch das Bewusstsein geschärft wird für dieses Gefühl, das man gegenüber Vorbildern, der Natur oder in spirituellem Zusammenhang als «Demut» bezeichnen kann.
Offensichtlich schafft das Festival also den Bogen zur heiteren Musik. Als Today’s Music wird der A-cappella-Gesang des Londoner Ensembles «VOCES8» begleitet von der Violinistin Bomsori Kim zu hören sein. Warum muss man das gehört haben?
Weil gerade dieses Programm die Stile mixt und Johann Sebastian Bach der Anker, das Vorbild, die Keimzelle ist, woraus dann anderes entsteht. Zudem kommt es, wie für ein «Today’s Music»-Programm typisch, zu einer Fusion von zwei ganz unterschiedlichen Klangkörpern, einer A-cappella-Gruppe und einer Violine. Beide erzeugen durch ihre Exzellenz alleine schon Hühnerhaut.
Ute Lemper wartet mit einem sehr persönlichen Liederabend auf, der auf einem Telefongespräch zwischen ihr und der grossen Marlene Dietrich, das tatsächlich stattfand, basiert. Ute Lemper ist ein gefeierter Star in den USA? Wie bringen Sie eine solche Persönlichkeit nach Gstaad?
Ich konnte Ute schon 2019 überzeugen, ihr Debüt bei uns zu geben, im Rahmen einer «Nuit parisienne». Der Abend war ein Erfolg und daher kommt sie gerne zurück. Sie ist vor allem in Europa durch jahrelange Präsenz im deutschen und französischen TV zu einer legendären Chansons-Jazz-Sängerin geworden. Seit sie sich nach New York zurückgezogen hat, ist sie etwas seltener in Europa zu erleben. Ihre Hommage an Marlene Dietrich ist Ausdruck ihrer Demut dieser Überfigur gegenüber.
Zwischen vielen etablierten Künstlern, die das Festival schon sehr gut kennen, tauchen auch immer wieder junge, aufstrebende Musikerinnen und Musiker im Programm auf. Das musikalische Interesse des Publikums ist ja zum Glück breit gefächert und so geht kein Ton verloren. Aber dennoch, wen werden Sie ganz sicher nicht verpassen in den kommenden Festivalwochen?
Ich selbst werde möglichst bei allen Konzerten anwesend sein. Gerade von den Jungen muss ich mir auch ein Bild machen, wie sie im Konzert funktionieren und wie sie wirken und ankommen. Das sind wichtige Eindrücke hinsichtlich weiterer Förderungen. Es gibt zahlreiche Tipps, die ich geben könnte für Neuentdeckungen unter der jüngsten Generation von Solistinnen und Solisten. Grösste Potenziale haben für mich zum Beispiel die Cellistin Anastasia Kobekina oder der Pianist Yoav Levanon, um nur zwei von vielen zu nennen.
GUT ZU WISSEN…
Und wenn ich noch etwas empfehlen darf, dann etwas mit einer jungen Sopranistin im Zentrum: Pretty Yende, die soeben bei der Krönung von König Charles ein Millionen-Publikum begeistert hat. Mit der Aufführung der monumentalen zweiten Sinfonie – der «Auferstehungs-Sinfonie» – von Gustav Mahler mit ihr als Solistin und dem Gstaad Festival Orchester steht uns ein in vieler Hinsicht grosser Höhepunkt bevor. Ein episches Werk in für romantische Musik epochalen Dimensionen mit etwa 120 Mitwirkenden – Solistinnen, Chor, grossem Sinfonieorchester –, welche ein fesselndes Klangereignis kreieren werden, wie es in unserem Sinfonieprogramm selten zu erleben ist. Wenn dann noch Jaap van Zweden als ausgewiesener Mahler-Spezialist, der in New York oder Amsterdam ganze Mahler-Zyklen dirigiert, am Pult steht und diesen Dampfer durch die bewegte See lotst, ist die Festivalsensation garantiert.
CHRISTOPH MÜLLER, ARTISTIC DIRECTOR
VIOLINISTIN PATRICIA KOPATCHINSK AJA IM INTERVIEW
«Wie kann die derzeitige Situation einen nicht beschäftigen?»
Mit Patricia Kopatchinskaja hat das Gstaad Menuhin Festival & Academy eine kreative und überzeugende Partnerin für den neuen Programmzyklus gefunden. Warum sie sich so sehr mit der momentanen Situation auseinandersetzt und was sie bewegt, verrät sie im Interview.
JENNY STERCHI
Patricia Kopatchinskaja, was bedeutet für Sie Musik, unabhängig ob Sie sie hören oder selbst musizieren?
Musik ist alles – Luft, Freude, Nahrung, Denken, Empfinden. Alles, was ich höre, macht mich neugierig, jedes Geräusch kitzelt die Wahrnehmung. Viel stärker als ein Wort. Es ist eine grosse Kraft, mit der man gut umgehen muss.
Mit Ihrem eigenen Konzertzyklus «Music for the Planet» werden Sie mit verschiedenen Programmen an den kommenden drei Ausgaben des Gstaad Menuhin Festivals zu hören sein. Warum beschäftigt Sie die derzeitige Situation, in der die Welt steckt, so sehr?
Eine Gegenfrage – wie kann die derzeitige Situation einen nicht beschäftigen? Wenn wir die Gletscher in Gstaad beobachten, wird einem doch eng ums Herz. So vielem, von dem was wir in der Welt jetzt miterleben, liegt meistens die drastische Klimaveränderung zu Grunde. Auch als Musiker kann man sich dem nicht entziehen. Die Wissenschaftler schaffen es nicht, uns mit den Zahlen zu bewegen. Umso mehr muss man versuchen, die Herzen zu erreichen.
Wie sind Sie auf die Idee gekommen, das, was Sie beschäftigt, mit der Musik zu verbinden?
Sobald man Carte blanche bekommt, beginnt man eigenständig zu überlegen, was man eigentlich auf die Bühne stellen will – was mir und uns alles wichtig ist. Wie kann man unsere Zeit bespielen, charakterisieren, welche Fragen kommen auf, welche Klänge und Bilder? Welche Stücke sprechen zu uns und welchen hören wir zu? Wie es auch ein Theaterregisseur, ein Autor, und ein Galerist macht. Wir adressieren ein sinnliches, denkendes Publikum und geben ihm alles, was wir können.
Glauben Sie, dass den Meistern grosser Werke aus vergangener Zeit die übertragbare und grossflächige Bedeutung ihrer Musik bewusst war?
Ich glaube schon. Grossartiges spürt jeder, zu jeder Zeit und auch der Schöpfer selbst. Ein gutes Stück schwebt über uns allen.
Vielfach wird das Aufrütteln als «Missionieren» verstanden und weggeschoben. Was machen Sie, dass Ihnen das nicht passiert?
Indem ich nicht allzu oft missioniere. Ich spiele auch sehr gerne Nonsens.
Werden Sie andere Konzerte am Festival besuchen? Wen möchten Sie nicht verpassen?
Vor allem Freunde – Musiker treffen sich sehr gerne am idyllischen und freundlichen Gstaad Festival, sei es an den Konzerten oder sogar beim Wandern.