«More than Brothers» feiert Schweizer Premiere in Gstaad
13.02.2025 KulturDer neueste Dokumentarfilm der Gstaaderin Andrea von Siebenthal, «More than Brothers», wird erstmals in der Schweiz gezeigt. Der ergreifende 24-minütige Film zeigt die erschütternden Folgen des Abzugs des US-Militärs aus Afghanistan im Jahr 2021 und beleuchtet ...
Der neueste Dokumentarfilm der Gstaaderin Andrea von Siebenthal, «More than Brothers», wird erstmals in der Schweiz gezeigt. Der ergreifende 24-minütige Film zeigt die erschütternden Folgen des Abzugs des US-Militärs aus Afghanistan im Jahr 2021 und beleuchtet die Gefahren, denen die afghanischen Verbündeten ausgesetzt sind, sowie die unermüdlichen Bemühungen amerikanischer Veteranen, deren Sicherheit zu gewährleisten.
Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 zogen die Vereinigten Staaten im Oktober 2001 gegen das bereits konfliktgebeutelte Afghanistan in den Krieg, da die dortige Taliban-Regierung Terroristengruppierungen beherbergte. Nach fast 20 Jahren Krieg gegen die Taliban und Demokratisierungsversuchen haben sich im August 2021 die Nato-Truppen aus Afghanistan zurückgezogen – und kurz darauf die Taliban wieder die Macht übernommen. Die erschütternden Bilder von Afghanen, die noch einen Platz in den Flugzeugen ergattern oder zumindest ihre Kinder in Sicherheit bringen wollten, gingen um die Welt.
«Seit dem überstürzten Rückzug der Alliierten aus Afghanistan und der anschliessenden erneuten Machtübernahme durch die Taliban werden die Afghanen, die den Alliierten geholfen haben, als Verräter betrachtet. Sie werden von den Taliban verfolgt, gefoltert oder gar getötet», sagt Filmproduzentin Andrea von Siebenthal aus Gstaad. «More than Brothers» porträtiert die Opfer und das politische Engagement zweier US-Spezialkräfte, um die Afghanen zu retten, die sie während ihrer Einsätze beschützt hatten, sowie zwei ihrer afghanischen Verbündeten, deren Leben seit dem chaotischen Abzug völlig aus den Fugen geraten ist. Es ist ein zutiefst trauriger Film, der die menschlichen Folgen geopolitischer Entscheidungen aufzeigt.
Ein Wettlauf gegen die Zeit
«Während Amerikas längster Krieg für viele bereits in Vergessenheit geraten ist und Fehler von der US-Regierung unter den Teppich gekehrt wurden, haben viele Angehörige der US-Streitkräfte private humanitäre Initiativen gestartet, um ihre ehemaligen Kameraden und deren Familien in Sicherheit zu bringen. Es ist eine Frage von Leben und Tod, ein Wettlauf gegen die Zeit, jeder Tag zählt», betont Andrea von Siebenthal. Der Tribut, den dieses persönliche Engagement von den Veteranen fordere, sei unermesslich: «Zerstörte Karrieren, Beziehungs- und Finanzprobleme, psychische Probleme – sie alle haben das erlebt und haben weiterhin damit zu kämpfen.»
Veteranen- und Menschenrechtsorganisationen sowie die Zivilgesellschaft würden zwar zunehmend Druck auf die US-Regierung ausüben, die Verantwortung für ihre afghanischen Kollaborateure zu übernehmen und ihr Versprechen einzulösen, sie in Sicherheit zu bringen. «Bis heute sind jedoch alle Initiativen zur Beschleunigung des Verfahrens zur Erlangung von Sondervisa für die afghanischen Verbündeten im US-Kongress gescheitert. Aktuell sind noch über 130’000 Visaverfahren hängig», so die Filmemacherin. Wie es mit den Visaverfahren unter Präsident Donald Trump weitergeht, ist höchst ungewiss. Nach seinem Amtsantritt im Januar hat der US-Präsident die Migrationspolitik stark verschärft.
Das lokale Publikum hat die Möglichkeit, sich mit dieser kraftvollen Geschichte auseinanderzusetzen, wenn «More Than Brothers» am 20. Februar in einer kostenlosen Vorführung im Kino Gstaad gezeigt wird. Der Film bietet einen Einblick in die Komplexität eines internationalen Konflikts und ist ein Zeugnis für die dauerhaften Freundschaften, die im Schmelztiegel des Krieges entstehen.
Am Donnerstag, 20. Februar wird der Film gratis um 17.30 Uhr im Kino Gstaad gezeigt. Der Film ist auf Englisch.
1208 FOUNDATION
Die 1208 Foundation ist eine gemeinnützige Organisation, die von US-Spezialeinheiten (Green Berets), welche in Afghanistan gedient haben, gegründet wurde. Das Ziel ist, die moralische Verpflichtung Amerikas gegenüber seinen engsten Verbündeten aufrechtzuerhalten.
Die Stiftung leistet den ehemaligen afghanischen Partnern der US Army Special Forces lebensrettende Hilfe und setzt sich für ihr Recht auf ein US-Sondereinwanderungsvisum ein. Zu diesen Verbündeten der USA gehören Dolmetscher und Mitglieder der National Mine Reduction Group (NMRG), afghanische Staatsbürger, die ihr Leben aufs Spiel setzten, indem sie Landminen und improvisierte Sprengsätze (IEDs) für Amerikas Spezialkräfte räumten.
PD
«Jene, die mit den US-Spezialeinheiten zusammenarbeiteten, sind die meistgehassten Afghanen»
ANITA MOSER
Andrea von Siebenthal, wie ist die Idee zum Film «More than Brothers» entstanden?
Andrea von Siebenthal: Ich war während fast sechs Jahren Kommunikationsverantwortliche beim Genfer Internationalen Zentrum für Humanitäre Minenräumung GICHD und damit mit den Themen Krieg und Minenräumung vertraut. Im Anschluss an eine Filmpremiere in New York über Afghanistan habe ich zwei Mitglieder einer Spezialeinheit, die in Afghanistan gedient hatten, kennengelernt. Wir sprachen über explosive Munitionsrückstände usw. Als sie merkten, dass ich etwas davon verstehe, begannen sie zu erzählen. Ihre Geschichte ist unglaublich.
Erzählen Sie.
Beide jungen Männer waren mehrere Male in Afghanistan im Einsatz. Die Special Forces waren dort jedoch nie alleine unterwegs; als Vorhut waren sie bei Einsätzen stets von lokalen Minenräumungsteams begleitet. Diese Afghanen riskierten dabei für die Spezialeinheiten täglich ihr Leben. Special Forces sind nämlich wertvoll: Sie haben eine Spezialausbildung, müssen einen Uniabschluss haben, mindestens eine Fremdsprache beherrschen und sind auch mit der Kultur des jeweiligen Landes vertraut. Deshalb wurden diese Einheiten auf ihren Missionen speziell geschützt. Diese Missionen bestanden vorwiegend darin, den Taliban zuvorzukommen, Anschläge zu vereiteln sowie Taliban-Führer aufzuspüren, um sie dann gefangen zu nehmen oder zu töten.
Nach dem überstürzten Abzug der Alliierten aus Afghanistan wurden alle diese Minenräumer und auch die Übersetzer, die mit Amerikanern zusammengearbeitet hatten, von den Taliban verfolgt. Speziell jene, die mit den US-Spezialeinheiten zusammengearbeitet hatten, sind zu den meistgehassten Afghanen geworden. Dabei spielt auch die Tatsache, dass die meisten davon der ethnischen Gruppe der Hazara angehören, eine Rolle. Sie kämpften nämlich auch auf der Seite der Amerikaner, weil sie seit jeher von den Taliban, welche vorwiegend der Volksgruppe der Paschtunen angehören, unterdrückt worden sind. Seit dem Abzug der Alliierten werden sie gezielt verfolgt, gefoltert oder getötet, und auch Familienangehörige sind in Gefahr. Deshalb setzt sich eine Gruppe von Special-Forces-Soldaten dafür ein, dass diese Menschen, die den Amerikanern dazumal das Leben gerettet hatten, nun Afghanistan verlassen können.
Die US-Soldaten haben dafür die 1208 Fondation gegründet (siehe Kasten).
Genau. Meine beiden Protagonisten haben dermassen viele Hilferufe ihrer ehemaligen Kollaborateure bekommen, dass sie deren Rettung selbst in die Hand genommen und dafür eigenhändig eine Stiftung gegründet haben: Die 1208 Foundation. Sie bekommen keinerlei staatliche Unterstützung und haben für ihre Mission ihre ganzen Ersparnisse aufgebraucht. Sie setzen dabei ihre Beziehungen aufs Spiel, und viele haben ihre Karriere aufgegeben, um sich voll und ganz dieser Mission zu widmen. Tom, einer der Protagonisten meines Films, wollte eigentlich nach seinen Militäreinsätzen Arzt werden, hat aber das Studium aufgegeben zugunsten seines Engagements für die Fondation. Im Grunde genommen haben die Afghanen, die eine gewisse Zeit im Dienst der Amerikaner gearbeitet haben, das Recht, ein «Special Immigration Visa» für die Vereinigten Staaten zu beantragen. Die meisten haben dieses vor dem Abzug der Nato-Truppen jedoch nicht beantragt, weil sie ja nicht für ein Visum ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatten, sondern für ein freies Afghanistan. Nun aber dauert die Bearbeitung der Visa viel zu lange; die USA haben eigentlich kein Interesse daran, diese Menschen aufzunehmen. Geht es in diesem Tempo weiter, wird die letzte gefährdete Afghanische Familie erst in zehn Jahren in die USA einreisen können. Ob sie zehn Jahre überleben können, wenn sie nicht arbeiten können, verfolgt werden, sich verstecken müssen, ist höchst ungewiss.
Wer sind die Protagonisten des Films?
Es sind dies Tom und Dave, zwei US-Soldaten und zwei ihrer afghanischen Kollaborateure, welche zu Freunden geworden sind: Bostan und Eisa. Bostan M. beispielsweise stand 18 Jahre lang im Dienst der Amerikaner. Er konnte mit seiner Frau und drei Kindern nach Amerika ausreisen, aber die anderen drei musste er zurücklassen, weil sie bereits über 18-jährig sind. Aber diese sind in Afghanistan natürlich weiterhin in Gefahr. Ebenfalls kommen ein Übersetzer sowie der ehemalige Vize-Aussenminister Afghanistans zu Wort.
In welchem Rahmen ist der Film entstanden?
Ich habe an der New York Filmakademie einen einjährigen Zertifikatslehrgang für Dokumentarfilm absolviert. «More than Brothers» ist mein Abschlussfilm. Die Idee ist, dass man für diesen Film alles anwendet, was in diesem Jahr gelernt worden ist. Dementsprechend haben wir alles selber gemacht: von Produktion und Regie über Kamera, Ton und Licht bis zum Schnitt.
Sie haben alles selber gemacht?
Nicht ganz. Ich bin die Produzentin und Regisseurin des Films, habe die Interviews geführt und den Film zugeschnitten. Für die Kameraführung habe ich mit zwei Studienkollegen zusammengearbeitet. Nur ein paar Szenen habe ich selber gefilmt.
Wo wurde der Film gedreht?
In New York, in Boston und in Washington. Glücklicherweise habe ich von den Protagonisten Helmkameraaufnahmen und Videos ihrer Afghanistan-Einsätze bekommen. Ich habe mich tagelang da durchgekämpft, um die besten Szenen, die besten paar Sekunden herauszufiltern. Diese Aufnahmen sind extrem wertvoll für den Film. Man sieht, wie es war, die Arbeit, die Umstände – auch die Freundschaften, die dort entstanden sind.
Der Film wurde an vielen Festivals gezeigt und hat mehrere Auszeichnungen gewonnen.
Eigentlich ist es ja wirklich ein selbstgemachter No-Budget-Film. Deshalb bin ich auch so positiv überrascht, dass er von Filmfestivals so gut aufgenommen worden ist. «More Than Brothers» hat viel Aufmerksamkeit erhalten und wurde auf renommierten Festivals wie DOC NYC, Big Sky, Hot Springs und Savannah in den Vereinigten Staaten gezeigt. Der Film wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem als Best Social Impact Short am Lighthouse International Film Festival, als Bester Dokumentarfilm auf dem Mumbai Shorts International Film Fest sowie mit einer Honorable Mention am renommierten Thomas Edison Film Festival. Das freut mich natürlich sehr, denn für mich ist der Film vorwiegend meine Visitenkarte. Die Bestätigung, dass man etwas geschaffen hat, das ansprechend und journalistisch korrekt ist, die Leute anspricht, Emotionen weckt und filmisch gut umgesetzt worden ist. Nimmt ein renommiertes Festival einen Film ins Programm, ist das ein Qualitätsstempel.
Die Geschichten der Protagonisten gehen einem nahe. Was haben die Begegnungen mit Ihnen gemacht?
Ich habe ja bereits in der Vergangenheit eine Dokumentarfilm-Serie in mehreren Ländern produziert, mich mit Tätern und Opfern von Kriegen auseinandergesetzt. Mich berührt es aber jedes Mal extrem und ich empfinde es als Privileg, solche Geschichten aus erster Hand erfahren und weitergeben zu dürfen. Man sagt oft: «Gib jenen eine Stimme, die keine haben», ich finde das despektierlich. Jeder Mensch hat eine Stimme, aber manche dieser Stimmen werden in unseren Medien und in unserem Teil der Welt einfach nicht gehört. Deshalb mache ich Dokumentarfilme, weil ich eben deren Stimme eine Plattform geben will. Gewisse Geschichten bringe ich nicht aus dem Kopf, sie machen mich traurig. Aber ich sehe und höre auch immer wieder Geschichten von mutigen Menschen, Geschichten von unglaublicher menschlicher Grösse – und das ermutigt mich, weiterzumachen.
Was sagt «More than Brothers» aus?
Eigentlich ist es ein zutiefst trauriger Film. Grundsätzlich geht es um den menschlichen Preis des Krieges. Mich fasziniert das Thema so, weil Krieg nicht nur das Schlimmste, sondern auch das Beste in den Menschen hervorbringt. Ich habe über meine Arbeit die unglaublichsten Menschen kennengelernt. Leute, die Minen gelegt, die gekämpft und viele Menschenleben auf dem Gewissen haben. Aber in jedem Menschen steckt Menschlichkeit, davon bin ich fest überzeugt. Ob in uns das Licht oder die Dunkelheit durchscheint, kommt ganz stark auf die Umstände an. Das Leben und eben auch der Krieg ist nie nur schwarz-weiss, sondern immer ein Fächer von Grautönen. Das ist unglaublich faszinierend.
Filmemacher tragen auch eine grosse Verantwortung. Menschen können durch Filme in Gefahr geraten.
Genau. Ich empfinde eine grosse ethische Verantwortung, eine Geschichte wahrheitsgetreu wiederzugeben und dabei die Würde der Menschen zu bewahren – egal, ob es sich dabei um einen Mörder oder einen Heiligen handelt. Ethik und Würde sind in meiner Arbeit die zwei wichtigsten Werte. Insbesondere für diesen Film war es ganz wichtig, dass wir die Identität der Protagonisten schützen. Kürzlich musste nämlich ein Film über Afghanistan zurückgezogen werden, da von den darin gezeigten afghanischen Teammitgliedern mindestens einer wegen des Films verfolgt und von den Taliban umgebracht worden ist. Das ist die Realität. Wenn du als Filmemacher deine Interessen, dein persönliches Imagestreben oder Erfolgsverlangen in den Vordergrund stellst, kann es sein, dass Leute mit dem Leben dafür bezahlen. Darum war es uns – mir und den Special Forces, mit denen ich sehr eng zusammengearbeitet habe – sehr wichtig, alle Identitäten zu schützen. Gesichter sind zum Teil verpixelt. Ein Mitglied der Special Forces, das noch aktiv ist, will auch nicht erkannt werden. Er will nicht gegen die US-Regierung aussagen, da er noch immer in deren Diensten steht.
Haben Sie bereits Pläne für weitere Filme?
Ich arbeite derzeit an einem grösseren Projekt für eine Serie über Menschenrechte und die Arbeit humanitärer Organisationen. Wie immer in unserer Branche ist dabei die Finanzierung das Schwierigste; die wenigsten Dokumentarfilmer können nämlich von ihrem Job leben. Aber die Befriedigung, die diese Arbeit einem gibt, ist unvergleichlich.
ZUR AUTORIN
Andrea von Siebenthal ist in Gstaad geboren und aufgewachsen. Sie sei im Herzen eine Geschichtenerzählerin, sagt sie von sich. «Als ehemalige Fernsehjournalistin, langjährige Pressesprecherin und Kommunikatorin im humanitären Bereich bin ich davon überzeugt, dass Geschichten die Kraft haben, Empathie zu schaffen und damit echte Veränderung zu ermöglichen.»
Über die Jahre hat sie in vielen Postkonfliktgebieten gearbeitet, und die Themen Krieg und seine Folgen für die Zivilbevölkerung standen dabei stets im Mittelpunkt ihrer Arbeit. Ihr Wunsch, vergessene Konflikte und die menschlichen Kosten geopolitischer Entscheidungen zu beleuchten, prägt nun auch ihre Dokumentarfilmprojekte.
Die zweifache Mutter hat einen Master-Abschluss in International Conflict Journalism, ein CAS in Pressearbeit der Schweizerischen Journalistenschule MAZ sowie ein Zertifikat für die Produktion von Dokumentarfilmen von der New York Film Academy.
Ihre erste Regiearbeit «More than Brothers» wurde in den letzten Monaten an verschiedenen renommierten Filmfestivals in den USA gezeigt (u.a. DOC NYC, BigSky, Hot Springs, SCAD Savannah). Der Film wurde im Juni 2024 am Lighthouse International Film Festival in New Jersey als «Best Social Impact Short» ausgezeichnet. Frühere Filmproduktionen von ihr wurden sowohl bei den New York Festivals TV & Film Awards als auch bei den Internationalen Wirtschaftsfilmtagen mit Gold ausgezeichnet.
PD
Offizielle Website Film: morethanbrothersfilm.com
1208 Foundation: 1208foundation.org andreavonsiebenthal.com