Nachhaltigkeit wird zum Festivalthema

  05.05.2022 Kultur

Die diesjährige Ausgabe des Gstaad Menuhin Festival & Academy feiert unter dem Titel «Wien – Beethoven delayed» dessen 250. Geburtstag. Das war vor zwei Jahren geplant, wurde aber durch die Pandemie jäh verhindert. Die Weiterentwicklung des Festivals in Richtung Nachhaltigkeit nimmt –unterstützt durch die Stiftung myclimate – Formen an.

JENNY STERCHI
Den einen ging es zu wenig weit, anderen nicht schnell genug. Alle Anwesenden waren sich einig, dass der Weg zu einem nachhaltigen Festival bezüglich des Klimaschutzes schwierig wird, jedoch unbedingt und endlich begangen werden muss. «Nichts zu machen, können wir uns nicht leisten», so der allgegenwärtige Tenor der Damen und Herren vor Ort.

Fakten schaffen
Die Essenz aus den Gesprächen am Rand der Pressekonferenz am letzten Dienstag ist die Erkenntnis, dass die Anstrengungen für Nachhaltigkeit Veränderungen des Festivals zur Folge haben werden. «Die Effizienz solcher Veränderungen hängt stark davon ab, wie genau die Ausgangssituation analysiert worden ist», erklärte Kathrin Dellantonio, Bereichsleiterin Corporate Partnerships bei myclimate. So der Name der Stiftung, mit deren Hilfe das Gstaad Menuhin Festival & Academy seinen CO2-Fussabdruck messen und nachhaltig optimieren möchte.

«Die Kohlendioxidemissionen werden an verschiedenen Parametern abgelesen», erklärte Dellantonio die Grundlagen für die Berechnungen. «Die Energieversorgung, die Mobilität, die Verpflegung, der Abfall, Drucksachen und Übernachtungen verursachen einen realen CO2-Ausstoss während des Festivals.» Sobald diese einzelnen Faktoren berechnet und ausgewertet seien, könnten Massnahmen zur Verringerung oder Kompensation des CO2-Ausstosses formuliert werden. «Ein international renommiertes Festival wie das Gstaad Menuhin Festival & Academy kann Künstler, die eingeflogen werden müssen, aus Klimaschutzgründen nicht einfach meiden», präzisierte Dellantonio. Und Christoph Müller, Artistic Director des Gstaad Menuhin Festival & Academy, fügte hinzu: «Die Klasse der Musikerinnen und Musiker hat nichts mit der Weite des Anfahrtsweges zu tun. Auch jene Künstler, die mit dem Zug anreisen können, bieten Musik auf höchstem Niveau.» Aber genauso sicher sei, dass die Reisetätigkeit mit wachsendem Bekanntheitsgrad einer Musikerin oder eines Musikers zunehme. Eine absolute Lösung ist offensichtlich nicht möglich und von daher bietet die Kompensationsmöglichkeit eine valable Alternative.

Warum dauert das so lange?
Diese Datensammlung scheint ein zeitaufwendiger Prozess zu sein. Und der Aktivismus springt dem Aussenstehenden nicht gerade ins Auge. Mit diesem Problem sieht sich Kathrin Dellantonio häufig konfrontiert: «Investitionen müssen dennoch aufgewendet werden. Das wird dann sowohl aus wirtschaftlicher als auch aus ökologischer Sicht eine Fehlinvestition, wenn der eigentliche Hauptverursacher des Ausstosses ein anderer, unbeachteter Parameter ist.» «Mit der Violinistin Patricia Kopatchinskaja, die schon seit Längerem in den Festivalprogrammen zu finden war, haben wir eine ‹Anwältin› des Klimaschutzes unter den Künstlern bei uns», erklärte Christoph Müller gegenüber der Presse. Und so wird es ihr Konzert am 26. August in der Kirche in Saanen sein, welches die Bühne bietet für die Veröffentlichung der Berechnungen durch myclimate und hoffentlich auch für erste konkrete Ideen für die nachhaltige Entwicklung des musikalischen Grossanlasses. «

Name verpflichtet
«Das Recht der Menschen auf Stille, auf saubere Luft und reines Wasser, auf Wiesen und Wälder und nicht verunreinigte Lebensmittel gehört in die Verfassung aller Staaten», so formulierte Lord Yehudi Menuhin einmal den Grundsatz, dass sowohl zu den Menschen als auch zur Umwelt Sorge getragen werden muss. Für den Humanisten war das Leben im Saanenland ein Beispiel für jenen Grundsatz. «Und damit ist der Klimaschutz, der zunehmend an Bedeutung gewinnt, Teil der Festival-DNA», betonte Lukas Wittermann, Geschäftsführer des Gstaad Menuhin Festival & Academy.

Die humanistische Grundhaltung findet sich aber auch in den Academys wieder. Das Dirigieren eines Orchesters – bislang eine klar von Männern dominierte Disziplin in der klassischen Musik – macht die Conducting Academy in diesem Jahr drei weiblichen von insgesamt zehn Kandidaten zugänglich. Unter den 300 Bewerbungen für diese Academy für dieses Jahr waren 20 Prozent weibliche Interessentinnen. «Vielleicht können wir so beim Aufbrechen veralteter Strukturen mitwirken», so die Hoffnung bei Lukas Wittermann.

Insgesamt werden in diesem Jahr in den Academys über 80 Studenten erwartet. «Die Academys haben sukzessive an Bedeutung gewonnen, sowohl bei den Studenten als auch beim Publikum der Academy-Konzerte, die als ‹L›Heure Bleue› bezeichneten Abschlusskonzerte der Meisterkurse», beschrieb Lukas Wittermann die Entwicklung dieses Festivalstandbeins. «Frei zugänglich und daher sehr familienfreundlich bieten sie einen hervorragenden Zugang zur klassischen Musik.»

Wandel im Festivalthema
Inhaltlich wird das Festival ebenfalls in Richtung Nachhaltigkeit weiterentwickelt. «Der Städtezyklus geht mit der kommenden Ausgabe ‹Wien – Beethoven delayed› zu Ende», verriet Christoph Müller im Laufe der Pressekonferenz. «Von 2023 bis 2025 werden sich die Ausgaben des Festivals inhaltlich mit Nachhaltigkeit und Themen gesellschaftlicher Relevanz beschäftigen.» Der Gedanke, Klima und Kultur im Festival zusammenzubringen, beschäftige das Festivalteam schon seit einigen Jahren und sorgte in der Vergangenheit für kontroverse Diskussionen. «Der Wandel ist dringend nötig und erfordert viel innovative Energie», fasste Christoph Müller zusammen.

Wien, Beethoven und Debüts
Der Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt, hat anders als an manchem anderen Festival keine Auswirkungen auf das Gstaad Menuhin Festival & Academy. «Wir haben die bei uns engagierten Künstler russischer Herkunft auf eventuelle Nähe zu Putin überprüft und sind froh, nicht handeln zu müssen», erklärte Christoph Müller ohne Umschweife. Weder mit Putin sympathisierende Musiker noch russische Oligarchen als Geldgeber seien Teil des Festivals.

Und so könne ein vielfältiges Festivalprogramm geboten werden, das der Stadt Wien und dem 250. Geburtstag Beethovens zwar verspätet, aber künstlerisch gerecht wird. Mit Debüts vielversprechender junger Künstler wie der jungen Geigerin Veronika Eberle und dem bereits preisgekrönten Pianisten Bruce Liu wird jungen, aufstrebenden Künstlern die Bühne des Festivals geboten und ihre herausragenden Leistungen werden gewürdigt.

Der Klarinettist Andreas Ottensamer, selber aus Österreich und in diesem Jahr «Artist in Residence», sorgt mit dem «Gassenhauer»-Trio von Beethoven für einen themenbezogenen Festivalschwerpunkt. Darauf folgen das Chorkonzert mit Ottensamer und den Wiener Sängerknaben sowie «Wien für Anfänger – eine humoristische Verbindung der Neuen Wiener Schule und Georg Kreisler, einem Kabarettisten der 1950er-Jahre, dessen schwarzer Humor legendär ist.

Ottensamers Bruder Daniel ist mit dabei, – übrigens auch auf der Klarinette – wenn Philharmonix im Rahmen von «Today›s Music» das Programm «Wiener-Walzer-Seligkeit» präsentieren.

Ebenso viel Beachtung wird den «Streichquartetten in reifen Jahren» mit dem Hagen Quartett als Kammermusikfest beigemessen.

Namhafte Besetzung bietet auch die Aufführung der Oper «Fidelio» von Beethoven, in der Anja Kampe als Leonore und Jonas Kaufmann als Florestan zu hören sein werden.

Aber auch das Auftragswerk, das in Zusammenarbeit mit dem Beethovenfest Bonn entstand, trägt österreichische Zeichen. Georg Friedrich Haas, Komponist aus Österreich, schuf mit «Was mir Beethoven erzählt» ein zeitgenössisches Doppelkonzert für Violine, Kontraforte und Orchester. Die Pandemie verhinderte die Uraufführung in Gstaad. Dafür kam das Beethovenfest Bonn in den Genuss der Uraufführung. Umso schöner der Umstand, dass es in diesem Jahr endlich in Gstaad zu hören sein wird, gespielt vom Sinfonie Orchester Biel Solothurn. Dirigiert wird es von den Studenten der Conducting Academy.

An allen nicht genannten Konzerten und Veranstaltungen werden mit Sicherheit die anderen Künstlerinnen und Künstler brillieren. Und da liegen Preisverleihungen nahe.

In diesem Jahr wird zum ersten Mal der Olivier-Berggruen-Preis verliehen. Berggruen ist ein treuer Begleiter und Förderer des Gstaad Menuhin Festival & Academy. Der Preis beinhaltet sowohl ein Engagement als auch einen Förderbeitrag für den auserwählten Künstler und sogar einen Pokal. Die erste Ausgabe des Preises geht an eine Künstlerin, nämlich an Pallavi Mahidhara. Die indisch-amerikanische Pianistin wird in der Kirche in Rougemont mit Werken von Mozart, Berg, Bach und Brahms zu erleben sein.


MYCLIMATE IST…

…eine Stiftung, die 2002 von drei sehr ambitionierten ETH-Studenten gegründet wurde mit der Idee, in beratender Funktion den Klimaschutz in der Wirtschaft und bei Veranstaltungen voranzutreiben. Mittlerweile ist die Stiftung kontinuierlich gewachsen. Heute sind für myclimate 130 Mitarbeiter in drei Ländern unterwegs. Das Angebot erstreckt sich von Emissionsberechnungen über mögliche Reduktionsmassnahmen bis hin zur Erarbeitung einer Klimastrategie und Nutzung von Kompensationsangeboten. Die Massnahmenauswahl zur Nachhaltigkeit muss aus ökologischer, wirtschaftlicher und sozialer Perspektive betrachtet werden. Die Zusammenarbeit mit dem Gstaad Menuhin Festival & Academy ist eine der ersten, die im kulturellen Bereich stattfindet.

HOMEPAGE MYCLIMATE/JENNY STERCHI


Aktivismus versus Resignation

JENNY STERCHI
Die Überlegungen der Veranstalter des Gstaad Menuhin Festival & Academy bezüglich Nachhaltigkeit sind jetzt spruchreif. «Warum erst jetzt?», so klang es bei den Journalistinnen und Journalisten an der Pressekonferenz. Und es ging noch weiter. «Ich hatte mir Konkreteres diesbezüglich versprochen» oder «Was ist denn mit Nachhaltigkeit bezüglich Integration und Gleichstellung?», so schlug mir der kritische Unterton immer wieder entgegen. «Jetzt braucht es auch noch ein externes Unternehmen, um klimafreundlich zu arbeiten?», war dann das Ende vom Lied.

Dass es diese Analyse vorgängig braucht, wurde meines Erachtens nach hinreichend erklärt. Laut und deutlich wurde dies vorgetragen und ich weiss wirklich nicht, was davon nicht zu verstehen war. Und natürlich gibt es den Klimawandel nicht erst seit fünf Jahren. Dass wir zu viel Zeit «vertrödelt» haben, wissen wir ja nun. Aber ich habe die begründete Befürchtung, dass es mit ständigem «Aber» und «Vielleicht» und «Mal sehen» und «Was machen denn andere?» nicht schneller gehen wird. Im Gegenteil, die Gefahr der Resignation ist doch viel grösser, wenn ständig jeder mögliche Schritt hinterfragt wird, bevor wir uns überhaupt bewegen. Und wenn die Datenanalyse der Beginn der Bewegung ist, ja dann ist es eben so. Dann werden Fakten geschaffen, mit denen argumentiert wird und auf die man sich berufen kann. Wir haben einfach keine Zeit mehr, in unserer erhofft Heil bringenden Lethargie zu verweilen, jeden Schritt aus der Komfortzone vierundzwanzig Mal abzuwägen, auf den Nachbarn zu warten und aus Verlustängsten vor der Veränderung die Augen fest zu verschliessen.

Und ja, es wird alle brauchen, um die Nachhaltigkeit dieses Anlasses zu steigern, Veranstalter und Besuchende. Und mit Veränderungen wird man sich nicht nur Freunde schaffen, es wird auch unpopuläre Entscheidungen geben, es wird Kosten aufwerfen. Eben raus aus dem Komfortbereich, der uns dummerweise lange Zeit Kontinuität und Stabilität vorgegaukelt hat. Und wenn wir das mit dem Klima nicht hinkriegen, dann müssen wir uns auf lange Sicht keine Gedanken über Integration und Gleichstellung mehr machen.

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