«Es ist alles schön an der Orgel. Es ist ein Ganzkörper-Instrument, eine koordinative Herausforderung.»

  28.03.2024 Interview

Roland Neuhaus ist seit 50 Jahren Organist, davon 41 Jahre hauptberuflich in Saanen und er hat während 40 Jahren den Mauritius-Chor geleitet. Ende März geht er in Pension. Er freue sich auf den neuen Lebensabschnitt, sagt er im Interview. Aber ganz aufs Orgeln verzichten wird er nicht. Er wird unter anderem in seinem Wohnort Zweisimmen als Stellvertreter einspringen.

ANITA MOSER

Roland Neuhaus, Sie haben während Jahrzehnten am Sonntag gearbeitet. Was machen Sie künftig an den Sonntagen?

Roland Neuhaus (schmunzelt): Das weiss ich noch nicht so genau. Aber ganz sicher vermehrt mit unserem Hund spazieren gehen.

Wie viele Instrumente spielen Sie?

Ich beherrsche einige Tasteninstrumente, aber professionell spiele ich Orgel, und seit ein paar Jahren hat der Kontrabass (Bassgeige) für mich an Bedeutung gewonnen.

Weshalb haben Sie sich vor über 50 Jahren für die Orgel entschieden?

Da muss ich etwas ausholen. Ich bin im Gsteig aufgewachsen. Der damalige Organist war mein Klavierlehrer. Ab und zu hat er mich auch in die Kirche mitgenommen und ich durfte auf der Orgel spielen. Ich war 15 Jahre alt, als der Organist plötzlich und ohne Vorwarnung aus Gsteig weggezogen ist. Und so gab es keinen Organisten mehr im Gsteig.

Und Sie sind eingesprungen?

Ja. Ich erinnere mich noch gut. Es war am Karfreitag 1974, also vor genau 50 Jahren. Die Kirche war gut besetzt. Und mein Einsatz war am anderen Tag das Tagesgespräch.

So sehr haben Sie die Gottesdienstbesucherinnen und -besucher überrascht?

Ja, aber im negativen Sinn. Es war katastrophal. Ich war wahnsinnig aufgeregt, und es ging fast alles schief, ausser, dass ich immer weitergespielt habe. Ich habe die Choräle begleitet und die Leute haben mitgesungen. Es war ein denkwürdiger Auftritt. Wäre der Organist nicht weggezogen, hätte ich nie wieder gespielt.

War es wirklich so schlimm oder hatten nur Sie das Gefühl?

Nein, es war wirklich schlecht und alle, die in der Kirche waren, haben das mitbekommen.

Aber Sie haben weitergemacht. Was hat Sie motiviert?

Erstens war es notwendig, da kein Organist mehr zur Verfügung stand und zweitens war die Kirche relativ nah von meinem Zuhause. Das gab mir die Möglichkeit, zu üben, denn wir hatten daheim kein Klavier.

Sie bekamen eine zweite Chance?

Es waren von vornherein noch zwei, drei weitere Einsätze geplant. Ich bekam schnell Routine, das Wichtigste beherrschte ich relativ rasch. So wurde ich noch zu Schulzeiten Organist im Gsteig. In der neunten Klasse kam ich schon auf ca. 50 Dienste.

Wie wurden Sie entschädigt?

Ich habe damals pro Dienst zehn Franken bekommen. Und mir wurde zusätzlich der Unterricht an der Musikschule bezahlt.

Liessen sich die Orgeldienste mit dem Stundenplan vereinbaren? Die Beerdigungen in unserer Region finden seit jeher um 12 Uhr statt.

Ich besuchte die Sekundarschule im Ebnit und habe, wenn eine Beerdigung stattfand, jeweils ab 11 Uhr frei bekommen. Mehr als einmal habe ich mit dem Velo zwischen Feutersoey und der Kirche Gsteig einen Leichenzug überholt. Damals wurde der Sarg noch von einer Pferdekutsche zur Kirche gefahren und die Trauernden folgten der Kutsche zu Fuss.

Mein Klassenlehrer hatte nicht nur Freude an meinem Engagement als Organist. Ich habe relativ viele Schulstunden verpasst.

Die Orgel hat Sie offenbar nicht mehr losgelassen.

Genau. Zu jener Zeit habe ich an der Musikschule bei Hans Hofer Orgelstunden genommen. Es war ein steiler Start, ich habe sehr viel geübt. Im Winterquartal war das Orgelspiel meine wichtigste Nebenbeschäftigung. Jeden Dienstag habe ich die Choräle geholt und täglich geübt, damit sie am Sonntag im Gottesdienst sassen. Man kann sagen: Es hat mich gepackt.

Was fasziniert Sie an der Orgel, am Orgelspiel?

Es ist alles schön an der Orgel. Es ist ein Ganzkörper-Instrument, eine koordinative Herausforderung. Die Orgel bietet viele Möglichkeiten. Es ist ein schönes Begleitinstrument und ich denke, ich darf sagen, dass ich ein guter Begleiter bin. Aber wahrscheinlich hat mich als Jugendlicher auch die «Maschine» fasziniert. Und bestimmt habe ich es auch genossen, im Gsteig etwas zu machen, das niemand anders konnte. Jugendlicher Übermut halt… (lacht)

Sie spielen auch Klavier. Ist der Unterschied zwischen Klavier und Orgel gross?

Ja. Die Orgel ist ein Blasinstrument, das Klavier eigentlich ein perkussives Instrument. Und lustigerweise ist das Cembalo – das dritte Tasteninstrument – ein Zupfinstrument. Drei Instrumente, die man eigentlich gleich bedient, die aber in der Art ganz unterschiedlich sind.

Sie sind Berufsmusiker. Erzählen Sie uns etwas zu Ihrem Werdegang.

Ich habe nach der obligatorischen Schulzeit die Lehrerausbildung absolviert. Aber schon damals mit dem Wissen, dass ich Musik studieren will. Ich habe nach dem Seminar beim Schweizerischen Musikpädagogischen Verband bei Johannes Jaggi das Lehrdiplom erworben. Gleichzeitig habe ich im Gsteig Orgel gespielt und an der Musikschule Obersimmental-Saanen unterrichtet. Noch während des Studiums sind meine spätere Frau Yvonne und ich für einige Jahre nach Münchenbuchsee gezogen, sie hat dort als Lehrerin unterrichtet. Und ich hatte in Kirchlindach eine Stelle als Organist.

Sie sind aber wieder ins Saanenland zurückgekehrt.

Als ich meine Ausbildung beendet hatte, starb Willy Ellenberger, der viele Dienste in Saanen und Gsteig versehen hatte. Der damalige Pfarrer in Saanen kannte mich von meiner Tätigkeit als Organist im Gsteig. So wurde eine Stelle geschaffen, und ich wurde im Team der nebenamtlichen Organist:innen gut aufgenommen. Von Saanen aus habe ich dann Orgel am Konservatorium (heute Musikhochschule) Bern bei Philippe Laubscher studiert und das Solistendiplom erworben.

Sie haben auch die Leitung des Kirchenchors übernommen.

Im Rahmen meiner Organistenausbildung habe ich auch einen Lehrgang im Dirigieren absolviert. Als Organist hatte ich nur eine Teilzeitanstellung. Die Leitung des Kirchenchors war zu Beginn ein relativ wichtiger Teil: 20 Prozent Chor und 30 Prozent als Organist.

Sie haben den Chor unglaubliche 40 Jahre lang geleitet. Und Sie haben wichtige Änderungen vorgenommen. Weshalb?

Als Organist hatte ich je länger je mehr Wochendienste: Die Dienstagnachmittage sind dazugekommen, Dienste im Maison Claudine Pereira, Dienste im Rahmen der Jugendarbeit usw. Folglich konnte ich weniger Zeit investieren für den Chor. Wobei: Ich habe ihn zwar als Kirchenchor übernommen, aber wirklich befriedigend war es nicht. Einmal traten wir an einem Bettag mit sieben Personen auf. Es war jämmerlich, wie wir gesungen haben. So wollte ich nicht weiterfahren. Und deshalb habe ich vorgeschlagen, aus dem Kirchenchor einen projektbezogenen Chor zu machen, der vor allem jeweils an Ostern ein grosses Konzert gab und immer noch gibt. Die Chorauftritte im Rahmen des Gottesdienstes wurden auf einen bis zwei gut geplante Einsätze reduziert. Dieser Wechsel hat den Chor erhalten. Die Leitung habe ich vor einem Jahr abgegeben, ich spiele aber noch Kontrabass an den Osterkonzerten.

Sie haben an den meisten Sonntagen gearbeitet. Wie hat das Ihre Familie – Sie haben zwei mittlerweile erwachsene Kinder – aufgenommen?

Ja, meine Sonntage beginnen meistens erst nach 11 Uhr, nach dem Gottesdienst. Das stört mich nicht. Und die Familie (überlegt)… Du musst dann orgeln, wenn Dienste sind. Und das sind in der Regel die Sonntage und Feiertage.

Sie spielen nicht nur an Gottesdiensten, sondern auch an Beerdigungen und Hochzeiten.

Ein Hauptgrund, weshalb man hier die Anstellung behalten kann, sind die Beerdigungen. Die Ansprüche an den Organisten sind da eindeutig am höchsten. Wobei die Ansprüche allgemein gestiegen sind. Früher hat man die Stückwahl weitgehendst dem Organisten überlassen, man hat ihm vertraut. Heute ist es ein Wunschkonzert und vor allem bei Hochzeiten wird alles bis ins Detail genau geplant und gestylt.

Bei Abdankungen bin ich nicht nur Musiker, sondern auch Musiktherapeut. Da habe ich Verständnis für Wünsche, die manchmal nicht viel mit Kirchenmusik zu tun haben und erfülle sie nach Möglichkeit.

Haben Sie festgehalten, was an Ihrer Abdankung gespielt werden soll?

Ich habe vieles aufgeschrieben, aber nicht, welche Musik gespielt werden soll. Wir haben die Stückwahl schon bei unserer Hochzeit dem Organisten überlassen. Es war mir wichtig, dass er das selbst entscheiden kann.

Sie geben auch selbst Konzerte. War es nie ein Thema, Sie und die Orgel ins Menuhin Festival zu integrieren?

Früher habe ich hie und da Gelegenheit bekommen, zu spielen oder zu begleiten. Aber das jetzige Management zeigt kein Interesse.

Sie haben die Konzertreihe OrgelPlus ins Leben gerufen.

OrgelPlus ist sehr beliebt. Die Konzerte sind sehr vielseitig, meistens zusammen mit anderen Instrumenten. Soweit ich weiss, soll die Konzertreihe weitergeführt werden. Auch die «Sonntagsorgel» – eine halbe Stunde Orgelmusik – war jeweils recht gut besucht.

Wie ist diese Idee entstanden?

Vielfach, wenn ich am Üben bin, kommt jemand in die Kirche und bleibt eine Weile sitzen. Früher habe ich dann meistens etwas Schönes gespielt. Denn wenn wir üben, tönt es langweilig. So ist mir die Idee zur «Sonntagsorgel» gekommen.

Sie sagen früher hätten Sie dann jeweils etwas Schönes gespielt. Heute nicht mehr?

Früher kamen die Leute in die Kirche, setzten sich und hörten eine Weile zu, wenn ich am Üben war. Heute kommen sie in die Kirche, schalten das Handy ein und beginnen zu filmen. Diese ungefragten Aufnahmen können uns in ein seltsames Licht stellen. Aber immer noch gibt es hie und da schöne, spontane Kontakte mit Besucher:innen – sobald wir auch ein paar Worte zusammen gesprochen haben.

Mit Mathias Stocker haben Sie viele Jahre lang Neujahrskonzerte in der Kirche Lauenen gegeben. Sie am Cembalo, Mathias Stocker mit der Querflöte.

Mathias und ich sind seit vielen Jahren befreundet und wir haben ein grosses Repertoire. Wir haben gerne in Lauenen gespielt, mussten die Konzerte aber aufgeben. Es hat offenbar nicht mehr gepasst. Wir haben aber an vielen Orten und oft zusammen musiziert, besonders auch bei Diensten der Kirchgemeinde Saanen-Gsteig.

Sie sind Organist, Musikschullehrer und auch Lehrer am Gymnasium in Gstaad. Wie ist es dazu gekommen?

Der Gymer war ein Glücksfall. Ich war 35-jährig, hatte das Orgelsolistendiplom in der Tasche und als Lehrer auch einen Mittelschulabschluss. Ein Bekannter, der damals verantwortlich war für die Ausbildung für Mittelschullehrer im Fach Musik, hat mich motiviert, die Ausbildung zum Gymnasiallehrer in Angriff zu nehmen. Obwohl der Stellenmarkt damals nicht rosig war. So habe ich zwischen 35 und 40 im Nebenamt das Studium als Gymnasiallehrer absolviert und 1999 abgeschlossen. Und da ich als Organist immer nur eine Teilzeitanstellung hatte sowie wenige Stellenprozente bei der Musikschule Obersimmental-Saanen, kamen mir die 30 bis 40 Stellenprozente als Gymnasiallehrer für das Fach Musik sehr gelegen. Es sind wunderbare junge Menschen, die ich dort unterrichten darf.

Zurück zur Orgel: Auf welcher spielen Sie am liebsten?

Eindeutig auf jener in Saanen. Es ist ein grossartiges Instrument. Erstaunlich gut ist jene in der katholischen Kirche in Zweisimmen. Die Akustik ist besonders gut für Orgelmusik. Ich sage gerne, sie sei meine kleinste Kathedrale.

Auf welcher Orgel würden Sie gerne einmal spielen?

Die schönste mir bekannte Orgel ist jene in der französischen Kirche in Bern. Auf ihr habe ich das Solistendiplom gemacht. Das Münster in Bern hat auch eine schöne Orgel, auch diese kenne ich von meiner Ausbildung her. Ein Gast aus Basel, der regelmässig im Saanenland Ferien verbringt, schwärmt von der Orgel im Dom von Arlesheim im Baselbiet. Diese werde ich mir bei Gelegenheit mal anschauen.

Haben Sie einen Lieblingskomponisten?

Eindeutig Bach. Fast alle Organisten spielen 60 bis 70 Prozent Bach. Auf den Barockinstrumenten drängt sich das auf. Man kann sagen: Bach ist unser Alltag. Wer nicht gerne Bach spielt, entscheidet sich aus meiner Sicht nicht für die Orgel. Ich selbst spiele auch gerne César Franck. Und auf der Orgel in Saanen klingt Mendelssohn sehr schön. Für Komponisten wie Max Reger und andere Romantiker müsste die Orgel speziell für solche Werke konzipiert sein.

Am Ostersonntag, 31. März spielen Sie am Gottesdienst in der Kirche Abländschen offiziell zum letzten Mal als Organist der Kirchgemeinde Saanen-Gsteig. Werden Sie die Orgel vermissen?

Ich höre ja nicht vollständig auf. Es geht mir wahrscheinlich wie den meisten pensionierten Organisten: Ich werde noch zur Verfügung stehen für Stellvertretungen.

Eine Orgel hat man ja nicht zu Hause. Wo üben Sie künftig?

Ich besass nie ein orgelähnliches Instrument. Zum Glück habe ich Zugang zu einigen Orgeln in der Region. Auch in Saanen werde ich sicher gelegentlich noch auf der Orgelbank sitzen. In Zweisimmen übe ich regelmässig, seit ich dort wohne.

Hören sie auch als Lehrer auf?

Am Gymnasium werde ich Ende Schuljahr ordentlich pensioniert. Auch die administrative Mitarbeit an der Musikschule gebe ich auf Ende Schuljahr ab.


KONZERTE ZUM DIENSTJUBILÄUM UND ZUM GEBURTSTAG DER ORGEL

Ende März geht Roland Neuhaus in den verdienten Ruhestand. Am Ostersonntag, 31. März begleitet der langjährige Organist in der Kirche Abländschen den offiziell letzten Gottesdienst im Rahmen seiner Anstellung bei der Kirchgemeinde Saanen-Gsteig. Danach gibt es aber noch zu feiern: Am Dienstag, 28. Mai spielt Roland Neuhaus zusammen mit seinem jungen Nachfolger Lorenzo Ciaglia Stramare ein Rezital zum 40. Geburtstag der Orgel in Saanen sowie zu seinem fünfzigsten Dienstjubiläum. «Danach spiele ich in Saanen nur noch konzertant, wenn ich eingeladen werde», erklärt Roland Neuhaus.

Am 9. Juni ist auch ein Konzert von Ada van der Vlist Walker geplant. Informationen und Inserate für die beiden Geburtstagskonzerte folgen.

ANITA MOSER


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